Ein Mann (Drall, Blixa Bargeld) fährt von Berlin aus mit seiner Freundin (Ella, Hanna Rollmann) für einen Tag an die Ostsee. Am Strand im »Nowhere-Niemandsland« Strandbad Zinnowitz beginnt er an der Übersetzung eines Textes zu arbeiten. Dabei stößt er auf ein Wort, das er nicht versteht: »Schenkelatmung«. Was folgt, ist ein Bewusstseinsstrom, ein Audio-Tagtraum, der von den Sandkörnern des Strandes über von Drall geschriebene Seiten bis zu den Wellen des Meeres reicht und zu einer Fähre am Horizont, der - unablässig von Erinnerungen durchsetzt - aber doch stets zurückkehrt zu jenem Text über Schiffsmotorentechnik. Während Drall den Text schließlich aufs einfache »Atmen« herunterbricht, hört man eine Radiomeldung über die Tausenden, die bei dem Versuch, Europa zu erreichen, jährlich auf See verloren gehen. Inzwischen tauchen die Gedanken Ellas auf und unter, die Zwei träumen weiter vor sich hin, aneinander vorbei, mit Geräuschen, Gedanken und Wortspielen, die sich ineinander flechten, sich aber auch manchmal widerspiegeln über alle Grenzen. Die Stimmen werden abwechselnd langsamer und schneller, bis sie sich letztendlich in Atemgeräuschen verlieren (alltäglichen, erotischen). Das Atmen verschmilzt mit den Wellen - wie es uns allen am Meer passiert - und treibt hinaus aufs Meer, einfach dahin, wie schon seit Milliarden von Jahren.Drall: Blixa BargeldElla: Hanna RollmannSound Design, Text und Regie: Mark KanakMusik: IrrflugAufnahme (Blixa): andereBaustelle Tonstudio Berlin: Boris Wilsdorf, 17.09.2021Cover-Design: Heidi Sorg & Christof Leistl
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die beiden Protagonisten Drall und Ella brechen aus Berlin aus, um endlich mal wieder durchatmen zu können, es geht an die Ostsee, nach Zinnowitz, verrät Rezensent Stefan Fischer die Prämisse dieses Hörspiels von Blixa Bargeld und Mark Kanak. Eine richtige Handlung gibt es nicht, aber viele "akustische Versatzstücke" irgendwo zwischen Reden von DDR-Politikern und sphärischen Klängen, erfahren wir. Themen wie Flucht, Schiffsmotoren und, ja, auch die titelgebende "Atmung" werden mit allerhand Geräuschen verschnitten und zu einem "Bewusstseinsstrom, den zwei Menschen gemeinsam erzeugen", hält Fischer fest. Wie er das abschließend bewerten soll, scheint er aber nicht zu wissen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Bloß raus aus Berlin
Glück? Oder Unglück? Blixa Bargeld und Hanna Rollmann verlieren
im Hörspiel „Atmung“ am Ostseestrand den Bezug zur Welt.
Sie brechen gerade erst in Berlin auf, Drall und Ella, die beiden Figuren dieses Hörspiels. Fahren nach Norden, an die Ostsee, lassen hinter sich den Berliner Himmel zurück, für den Drall nur Abscheu übrig hat. „Trüb, dreckig, gelb-blei-schmutzig, elend, krank machend“ und noch manches mehr sei dieser „Berliner Kack-Himmel“ nun einmal.
Die beiden sind also noch an Land, haben noch festen Boden unter den Füßen. Links und rechts huschen die Geschäfte, Büros einer Berliner Ausfallstraße hinter den Autofenstern entlang. Drall liest die Namen von den Laden- und Firmenschildern ab, einerseits genervt und andererseits belustigt. Doch noch bevor man als Hörer Drall und Ella kennenlernt, hört man unterseeische Geräusche, wie sie ein Echolot aussendet und wieder einfängt, dazu die Atmung eines Tauchers, der mit Flaschensauerstoff in größerer Meerestiefe unterwegs zu sein scheint.
„Atmung“, das ist der Titel dieses Stücks von Blixa Bargeld und Mark Kanak, in dem es ums Luftholen, ums Luftschnappen geht, auf eine sehr verträumte, verschrobene Weise. Drall und Ella – gespielt von Bargeld selbst sowie von Hanna Rollmann – reisen ins Strandbad Zinnowitz. Dort ist die Luft viel besser als in Berlin, klar. Andererseits: Sobald man in die Ostsee geht, kann es schnell vorbei sein mit der genießerischen, wohltuenden Atmung, sofern man seinen Kopf nicht schön brav über Wasser hält oder aber eine Taucherausrüstung dabeihat. Das beschauliche Strandbad ist eigentlich eine Kante, an der es einen Abgrund hinuntergeht, in einem nicht einmal sonderlich übertragenen Sinn.
Der Weg aus Berlin heraus führt Drall und Ella auch aus der Realität hinaus. In Zinnowitz dringt sie nur noch gelegentlich in die Innerlichkeit dieser beiden Figuren vor. Wie aus größerer Entfernung wehen akustische Versatzstücke aus ihr heran – wobei manche nicht aus der Gegenwart, sondern aus einer untergegangenen Zeit stammen, politische Ansprachen von DDR-Größen etwa. Bei der Schlagerrevue aus dem Radio und der Marschmusik weiß man nicht so recht, wann man sie zeitlich festmachen soll. Die Meldung über ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer ist definitiv aktuell.
Auf diese Weise dringt das Ertrinken als Nicht-atmen-Können in das Bewusstsein Dralls ein, der hier, an der Ostsee, eigentlich endlich mal wieder aufatmen kann. Und sich aber zugleich mit einem abstrusen Problem konfrontiert sieht: Er muss einen Text über Schiffsmotorentechnik übersetzen und weiß nicht, was das Wort Schenkelatmung bedeutet. Geschweige denn, wie er es übersetzen soll.
„Der Motor atmet. Der Motor muss doch atmen können“, halluziniert Drall irgendwann wie in einem Fiebertraum. Und als Laie denkt man: Himmel noch mal, soll er halt atmen oder auch nicht, gerne auch schenkelatmen, wenn es hilft. Je konkreter das Technik-Blabla wird, desto absurder und lächerlicher klingt es in den Ohren von Nichtfachleuten. Aber dann beschleicht einen kurz der Gedanke, ob vom Funktionieren einer Schenkelatmung, was immer das bei einem Schiffsmotor auch sein mag, vielleicht das Überleben von Flüchtlingen abhängt. Und Drall sich da insofern keineswegs mit einem abseitigen Problem abmüht.
Eine eigentliche Handlung aber hat „Atmung“ gar nicht. Drall und Ella reden auch nicht miteinander. Sondern sie sinnieren und tag(alb)träumen jeweils vor sich hin, wobei sich diese inneren Monologe mitunter verschränken und gegenseitig beeinflussen. Zwar gibt es immer wieder naturalistische Geräusche, doch ziemlich rasch heben die Musik und der Sound „Atmung“ wieder verlässlich auf eine andere Realitätsebene.
Es sind teilweise sphärische Klänge zu hören, über die sich tiefe Atemzüge legen, dann wieder schneidende metallische Geräusche. Einmal werden sogar Messer gewetzt. Es gibt melodiöse Passagen und rhythmische, dazu die unsortierten Gedanken von Drall und Ella über Sehnsüchte, über Glück, über Frust und Flucht – „Atmung“ ist ein Bewusstseinsstrom, den zwei Menschen gemeinsam erzeugen. Er führt aus der Gegenwart heraus, örtlich und zeitlich. Einmal zerdehnt Drall das Wort „Wellen“ so, als würde er etwas Zähflüssiges aus seinem Mund hervorwürgen. Dann wieder beschleunigt sich das Sprechen und Denken auf mehr als Normalgeschwindigkeit.mZiemlich am Ende steht ein Satz, von dem man nicht weiß, was man von ihm halten soll: „Drüben ist es besser.“
STEFAN FISCHER
Die Schlagerrevue
aus dem Radio verleitet
zur Realitätsflucht
Blixa Bargeld
und Mark Kanak:
Atmung. Hörspiel mit B. Bargeld und Hanna Rollmann.
1 CD, 54 Minuten.
Belleville Verlag,
München 2024.
15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Glück? Oder Unglück? Blixa Bargeld und Hanna Rollmann verlieren
im Hörspiel „Atmung“ am Ostseestrand den Bezug zur Welt.
Sie brechen gerade erst in Berlin auf, Drall und Ella, die beiden Figuren dieses Hörspiels. Fahren nach Norden, an die Ostsee, lassen hinter sich den Berliner Himmel zurück, für den Drall nur Abscheu übrig hat. „Trüb, dreckig, gelb-blei-schmutzig, elend, krank machend“ und noch manches mehr sei dieser „Berliner Kack-Himmel“ nun einmal.
Die beiden sind also noch an Land, haben noch festen Boden unter den Füßen. Links und rechts huschen die Geschäfte, Büros einer Berliner Ausfallstraße hinter den Autofenstern entlang. Drall liest die Namen von den Laden- und Firmenschildern ab, einerseits genervt und andererseits belustigt. Doch noch bevor man als Hörer Drall und Ella kennenlernt, hört man unterseeische Geräusche, wie sie ein Echolot aussendet und wieder einfängt, dazu die Atmung eines Tauchers, der mit Flaschensauerstoff in größerer Meerestiefe unterwegs zu sein scheint.
„Atmung“, das ist der Titel dieses Stücks von Blixa Bargeld und Mark Kanak, in dem es ums Luftholen, ums Luftschnappen geht, auf eine sehr verträumte, verschrobene Weise. Drall und Ella – gespielt von Bargeld selbst sowie von Hanna Rollmann – reisen ins Strandbad Zinnowitz. Dort ist die Luft viel besser als in Berlin, klar. Andererseits: Sobald man in die Ostsee geht, kann es schnell vorbei sein mit der genießerischen, wohltuenden Atmung, sofern man seinen Kopf nicht schön brav über Wasser hält oder aber eine Taucherausrüstung dabeihat. Das beschauliche Strandbad ist eigentlich eine Kante, an der es einen Abgrund hinuntergeht, in einem nicht einmal sonderlich übertragenen Sinn.
Der Weg aus Berlin heraus führt Drall und Ella auch aus der Realität hinaus. In Zinnowitz dringt sie nur noch gelegentlich in die Innerlichkeit dieser beiden Figuren vor. Wie aus größerer Entfernung wehen akustische Versatzstücke aus ihr heran – wobei manche nicht aus der Gegenwart, sondern aus einer untergegangenen Zeit stammen, politische Ansprachen von DDR-Größen etwa. Bei der Schlagerrevue aus dem Radio und der Marschmusik weiß man nicht so recht, wann man sie zeitlich festmachen soll. Die Meldung über ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer ist definitiv aktuell.
Auf diese Weise dringt das Ertrinken als Nicht-atmen-Können in das Bewusstsein Dralls ein, der hier, an der Ostsee, eigentlich endlich mal wieder aufatmen kann. Und sich aber zugleich mit einem abstrusen Problem konfrontiert sieht: Er muss einen Text über Schiffsmotorentechnik übersetzen und weiß nicht, was das Wort Schenkelatmung bedeutet. Geschweige denn, wie er es übersetzen soll.
„Der Motor atmet. Der Motor muss doch atmen können“, halluziniert Drall irgendwann wie in einem Fiebertraum. Und als Laie denkt man: Himmel noch mal, soll er halt atmen oder auch nicht, gerne auch schenkelatmen, wenn es hilft. Je konkreter das Technik-Blabla wird, desto absurder und lächerlicher klingt es in den Ohren von Nichtfachleuten. Aber dann beschleicht einen kurz der Gedanke, ob vom Funktionieren einer Schenkelatmung, was immer das bei einem Schiffsmotor auch sein mag, vielleicht das Überleben von Flüchtlingen abhängt. Und Drall sich da insofern keineswegs mit einem abseitigen Problem abmüht.
Eine eigentliche Handlung aber hat „Atmung“ gar nicht. Drall und Ella reden auch nicht miteinander. Sondern sie sinnieren und tag(alb)träumen jeweils vor sich hin, wobei sich diese inneren Monologe mitunter verschränken und gegenseitig beeinflussen. Zwar gibt es immer wieder naturalistische Geräusche, doch ziemlich rasch heben die Musik und der Sound „Atmung“ wieder verlässlich auf eine andere Realitätsebene.
Es sind teilweise sphärische Klänge zu hören, über die sich tiefe Atemzüge legen, dann wieder schneidende metallische Geräusche. Einmal werden sogar Messer gewetzt. Es gibt melodiöse Passagen und rhythmische, dazu die unsortierten Gedanken von Drall und Ella über Sehnsüchte, über Glück, über Frust und Flucht – „Atmung“ ist ein Bewusstseinsstrom, den zwei Menschen gemeinsam erzeugen. Er führt aus der Gegenwart heraus, örtlich und zeitlich. Einmal zerdehnt Drall das Wort „Wellen“ so, als würde er etwas Zähflüssiges aus seinem Mund hervorwürgen. Dann wieder beschleunigt sich das Sprechen und Denken auf mehr als Normalgeschwindigkeit.mZiemlich am Ende steht ein Satz, von dem man nicht weiß, was man von ihm halten soll: „Drüben ist es besser.“
STEFAN FISCHER
Die Schlagerrevue
aus dem Radio verleitet
zur Realitätsflucht
Blixa Bargeld
und Mark Kanak:
Atmung. Hörspiel mit B. Bargeld und Hanna Rollmann.
1 CD, 54 Minuten.
Belleville Verlag,
München 2024.
15 Euro.
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