Als Max Frisch 1973 in die Berliner Sarrazinstraße zog, begann er ein neues Tagebuch und nannte es 'Berliner Journal'. Wegen der darin verzeichneten 'privaten Sachen' legte er fest, dass es erst zwanzig Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden dürfe. Mit seinem scharfen Blick auf die Welt knüpft er hier stilistisch an seine berühmt gewordenen Tagebücher aus der Nachkriegszeit an. Das Journal enthält nicht nur Betrachtungen aus dem Alltag in Ost und West, sondern auch Reflexionen über das eigene Schreiben. Frisch zeichnet zudem teils bissige, teils liebevolle Portraits von Günter Grass, Uwe Johnson, Jurek Becker, Günter Kunert und Christa Wolf.Ungekürzte Lesung mit Franziskus Abgottspon3 CDs Laufzeit ca. 240 min
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Selbstzweifel in der Sarrazinstraße
Alkohol, Kollegen, Satzbau: Franziskus Abgottspon liest das „Berliner Journal“ Max Frischs
Am 6. Februar 1973 bezieht Max Frisch seine neue Wohnung in Berlin-Friedenau. Wenige Tage später notiert er: „Das Bewusstsein, dass ich noch drei oder vier Jahre habe, brauchbare Jahre.“ Der Autor ist altersmüde, als er Nachbar von Uwe Johnson, von Grass und Enzensberger wird. Seine produktivsten Jahre meint der Erfolgsschriftsteller hinter sich zu haben, ein Gefühl des Ennui durchdringt ihn: „Langeweile rundum.“
Max Frischs Reflexionen, Notate, Beobachtungen seiner sieben Jahre in Berlin füllen fünf Ringbücher. „Aus dem Berliner Journal“, nach zwanzigjähriger Sperrfrist Anfang des Jahres von Thomas Strässle herausgegeben, gibt, bis auf einige Textstellen, die aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen ausgespart wurden, den Inhalt der ersten zwei Hefte bis März 1974 wider. Nun liegt das Tagebuch als Hörbuch vor.
Die meisten Hörbücher kommen ohne Regieidee aus – die Güte einer Produktion hängt dann allein von den Qualitäten des Sprechers ab. „Aus dem Berliner Journal“ hat mehr zu bieten. Zwischen den unterschiedlich langen Einträgen Frischs hat Regisseur Matthias Thalheim eine Standuhr ticken lassen. Mal ist es nur ein einziger Schlag, mal sind es mehrere Schläge hintereinander. Damit gelingt zweierlei: Formal erhält der Text eine rhythmische Struktur – jede Passage steht für sich als Einheit und kommt so noch besser zur Geltung. Und inhaltlich findet eines der zentralen Themen des Journals seine akustische Akzentuierung: Das Verrinnen der Zeit.
Franziskus Abgottspon liest den Text. Er ist ein Landsmann Frischs. So bleibt dem Tagebuch seine schweizerische Klangfarbe erhalten. Abgottspon verfügt über eine volle Stimme, einzelne Worte betont er besonders. Günter Grass spricht er wie „krass“ aus, aus „wurstig“ wird ein breites „wurschtig“.
Hätte Max Frisch sein Werk selbst eingelesen, dann würde es luftiger klingen, weil der Autor selbst in einer höheren Stimmlage gesprochen hat. Doch das Organ von Abgottspon verleiht dem Text genau das, was der von Selbstzweifeln geplagte Max Frisch seiner Sprache mehr und mehr abzusprechen beginnt: Körper.
„Die Sprache, die ich schreibe“, heißt es, „hat zu wenig Körper; die Wörter sind vielleicht genauer, der Satzbau zutreffender, aber alles zusammen bekommt keinen Körper und keinen Geruch, nicht einmal Schatten.“
Schnell hat man sich eingehört, wird man mit den Gedankengängen immer vertrauter. Frisch hadert mit seinem Alkoholkonsum, reflektiert die Freundschaften mit Kollegen im Westen und vor allem Osten. Glänzend seine Porträts von Wolf Biermann, Günter Kunert, Christa Wolf. Frischs Tagebücher sind unabdingbarer Bestandteil seines Werks. Schon die von „1946-1949“ und von „1966-1971“ wurden auf ein Publikum hin konzipiert. Dasselbe gilt für das „Berliner Journal“: „Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte.“
FLORIAN WELLE
Max Frisch : Aus dem Berliner Journal. Ungekürzte Lesung mit Franziskus Abgottspon. Der Audio Verlag, Berlin 2014. 3 CDs, Laufzeit ca. 238 Min., 19,99 Euro.
Die Stimme von Franziskus
Abgottspon verleiht dem Text
Körperlichkeit
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Alkohol, Kollegen, Satzbau: Franziskus Abgottspon liest das „Berliner Journal“ Max Frischs
Am 6. Februar 1973 bezieht Max Frisch seine neue Wohnung in Berlin-Friedenau. Wenige Tage später notiert er: „Das Bewusstsein, dass ich noch drei oder vier Jahre habe, brauchbare Jahre.“ Der Autor ist altersmüde, als er Nachbar von Uwe Johnson, von Grass und Enzensberger wird. Seine produktivsten Jahre meint der Erfolgsschriftsteller hinter sich zu haben, ein Gefühl des Ennui durchdringt ihn: „Langeweile rundum.“
Max Frischs Reflexionen, Notate, Beobachtungen seiner sieben Jahre in Berlin füllen fünf Ringbücher. „Aus dem Berliner Journal“, nach zwanzigjähriger Sperrfrist Anfang des Jahres von Thomas Strässle herausgegeben, gibt, bis auf einige Textstellen, die aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen ausgespart wurden, den Inhalt der ersten zwei Hefte bis März 1974 wider. Nun liegt das Tagebuch als Hörbuch vor.
Die meisten Hörbücher kommen ohne Regieidee aus – die Güte einer Produktion hängt dann allein von den Qualitäten des Sprechers ab. „Aus dem Berliner Journal“ hat mehr zu bieten. Zwischen den unterschiedlich langen Einträgen Frischs hat Regisseur Matthias Thalheim eine Standuhr ticken lassen. Mal ist es nur ein einziger Schlag, mal sind es mehrere Schläge hintereinander. Damit gelingt zweierlei: Formal erhält der Text eine rhythmische Struktur – jede Passage steht für sich als Einheit und kommt so noch besser zur Geltung. Und inhaltlich findet eines der zentralen Themen des Journals seine akustische Akzentuierung: Das Verrinnen der Zeit.
Franziskus Abgottspon liest den Text. Er ist ein Landsmann Frischs. So bleibt dem Tagebuch seine schweizerische Klangfarbe erhalten. Abgottspon verfügt über eine volle Stimme, einzelne Worte betont er besonders. Günter Grass spricht er wie „krass“ aus, aus „wurstig“ wird ein breites „wurschtig“.
Hätte Max Frisch sein Werk selbst eingelesen, dann würde es luftiger klingen, weil der Autor selbst in einer höheren Stimmlage gesprochen hat. Doch das Organ von Abgottspon verleiht dem Text genau das, was der von Selbstzweifeln geplagte Max Frisch seiner Sprache mehr und mehr abzusprechen beginnt: Körper.
„Die Sprache, die ich schreibe“, heißt es, „hat zu wenig Körper; die Wörter sind vielleicht genauer, der Satzbau zutreffender, aber alles zusammen bekommt keinen Körper und keinen Geruch, nicht einmal Schatten.“
Schnell hat man sich eingehört, wird man mit den Gedankengängen immer vertrauter. Frisch hadert mit seinem Alkoholkonsum, reflektiert die Freundschaften mit Kollegen im Westen und vor allem Osten. Glänzend seine Porträts von Wolf Biermann, Günter Kunert, Christa Wolf. Frischs Tagebücher sind unabdingbarer Bestandteil seines Werks. Schon die von „1946-1949“ und von „1966-1971“ wurden auf ein Publikum hin konzipiert. Dasselbe gilt für das „Berliner Journal“: „Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte.“
FLORIAN WELLE
Max Frisch : Aus dem Berliner Journal. Ungekürzte Lesung mit Franziskus Abgottspon. Der Audio Verlag, Berlin 2014. 3 CDs, Laufzeit ca. 238 Min., 19,99 Euro.
Die Stimme von Franziskus
Abgottspon verleiht dem Text
Körperlichkeit
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Florian Welle preist den Regisseur Max Thalheim für seine Hörbuchfassung von Max Frischs Tagebüchern "Aus dem Berliner Journal" in höchsten Tönen. Begeistert lauscht der Kritiker etwa dem Ticken einer Standuhr, mit denen der Regisseur den in den sieben Berliner Jahren verfassten Reflexionen, Notaten und Beobachtungen Frischs einen ganz besonderen Rhythmus verleiht. Lobend erwähnt Welle auch den Sprecher Franziskus Abgottspon, dessen Schweizer Dialekt und seine nahezu körperliche Interpretation der Texte dem Kritiker Frisch auf eigenwillige Weise nahebringen. Und so lauscht der Rezensent beglückt Frischs herausragenden Porträts etwa von Wolfgang Biermann, Christa Wolf oder Günter Kunert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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'Für Frisch-Fans eine Fundgrube, vor allem aber auch ein atmosphärisch sehr dichtes zeitgeschichtliches Zeugnis.' Helmut Böttiger, Deutschlandradio Kultur