Dirk von Lowtzow, Sänger und Songwriter der Band Tocotronic, einer der einflussreichsten deutschen Rockbands der letzten 25 Jahre, durchmisst in einer poetischen, schrägen und humorvollen Enzyklopädie sein Leben, die Kunst, die ihn beschäftigt, die Welt, die ihn umgibt. Er erzählt von Kindheit und Jugend in der »Schwarzwaldhölle«, vom Tod des engsten Kindheitsfreundes, vom sehnsüchtigen Umherschweifen und der Sozialisation durch Popmusik, Comics, Filme. Wir erfahren, wohin es ihn treibt, wenn die Musik verstummt, die Festival-Wiese bereits feucht vom Tau und kein Tourbus mehr in Sicht ist. In literarischen Miniaturen durchquert er den Raum, die Erinnerung, die Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2019Der Mond war eine Apfelsine
Was will Dirk von Lowtzow uns mit seinem Buch sagen?
Manchmal sieht man ja einen Film, liest ein Buch oder steht vor einem Kunstwerk und bleibt zunächst ratlos. Erst ein paar Stunden, vielleicht ein paar Nächte später bemerkt man dann doch - mit prozessualer Verzögerung - einen sogenannten Erkenntnisgewinn, oder es setzt sich zumindest ein ästhetisches Urteil durch, mit dem es sich leben lässt. Wenn aber, wie im Fall von Dirk von Lowtzows kleinem Bändchen "Aus dem Dachsbau" auch mehr als eine Woche nach der Lektüre und nach hektischer werdendem Querlesen das Pendel partout in keine Richtung ausschlagen will, so fest man auch an dem Buch schüttelt und rüttelt, in der Hoffnung, es möge zumindest eine Portion Wut und Hass herauspurzeln, dann könnte das ja bereits etwas Schlimmes bedeuten, vielleicht aber auch etwas sehr Besonderes, kann ja sein, bloß weiß man es eben nicht.
Fast noch weniger hilfreich ist es, sucht man in dieser Not Rat bei Freunden und Kollegen - denn anders als man selbst, scheint beinahe jeder irgendeine emotionale Beziehung zu Dirk von Lowtzow zu pflegen, die einen haben ihn für sein Schnöseltum immer verabscheut, für die anderen waren er und seine Band Tocotronic in puncto Sozialisation bedeutend; und so sagen nun die einen, das Buch sei überraschend besser, als sie befürchtet hatten, also "ganz nett", und die anderen sagen erstaunlicherweise dasselbe, ohne dabei aber Schlimmeres erwartet zu haben. Andererseits, man weiß ja, wie so etwas ausgehen kann, wenn zu Ehren gekommene Musiker plötzlich Bücher schreiben - man denke nur an Jochen Distelmeyers seltsamen Berlin-Roman "Otis".
Da also hat Dirk von Lowtzow instinktiv etwas richtig gemacht, dass er nicht einfach irgendeinen Roman auf den Weg gebracht hat, nur um sich in einen Romancier zu verwandeln, sondern dass er dieser Versuchung widerstand und stattdessen eine Sammlung von sechsundzwanzig textlichen Miniaturen präsentiert, stichpunkthaft streng nach alphabetischer Reihung versammelt, mal Erinnerung, mal Poesie, mal Zeichnung. Daran entlang plaudert er so ein bisschen aus seinem Leben. Es geht da um Kindheit und Jugend, um das Anderssein, um einen verstorbenen Jugendfreund, um leider doch oft banale Alltagsbeobachtungen und halbe Anekdoten, um das Leben eines Musikers, wenn dieser gerade nicht auf der Bühne steht, und was der so gedacht und gemacht hat in den letzten Jahrzehnten.
Man erfährt so einiges über ihn, das Meiste nicht der Rede wert, aber für jemanden, der das alles immer schon mal wissen wollte, ja vielleicht doch ganz interessant wie freches Merchandise, zum Beispiel was Dirk von Lowtzow alles nicht so mag, nämlich: Fußball, Bahnreisen, Reisen allgemein, Staub, Dreck, Unordnung, Kalk(!), Bundesjugendspiele, Vatertage, und seekrank wird er leider auch. Es gibt bisweilen Sympathisches, Lowtzow trinkt und raucht nämlich häufig, viel und gern, zumindest in manchen Lebensabschnitten: "Meine Tage beginnen meist verkatert und erscheinen mir endlos", heißt es da einmal stellvertretend, und das kennt man doch.
Und auch wenn das Buch seltsam humorlos bleibt, eher unfreiwillig komisch ist, mag man diesen Typen irgendwie ganz gern, schließlich ist er ständig ausgelaugt, leer und schwach ("Nach dem frühen Abendessen war ich oft erschöpft"), oder er leidet ("Weinend stand ich allein am Rand der Aschebahn"). Er geht, das ist auch sympathisch, häufig allein ins Kino, ins Multiplex am Potsdamer Platz und im Anschluss noch unprätentiös essen: "Ich aß dann in einem schmuddeligen China-Imbiss gegenüber der U-Bahn-Station zu Mittag. Bratnudeln mit Gemüse. Vom Geschmack des Glutamats konnte ich nicht genug bekommen."
Wenn man es ganz übel meinte mit "Aus dem Dachsbau", könnte man sagen, es läse sich wie eine literarisierte Antwort auf die berühmt-blödsinnige Interviewfrage an einen Prominenten, was denn sein größter Fehler sei, worauf dieser dann - in Vortäuschung von Selbstkritik - verlässlich antwortet: "Dass ich so großzügig bin!" Denn zwar inszeniert sich Dirk von Lowtzow keineswegs als strahlender Held, eher als großer, aber recht fruchtloser Grübler, doch die zarte Selbstkritik und die Offenheit lassen ihn doch immer wieder ausgesprochen menschlich erscheinen - so lässt sich dieses Buch eigentlich auch nur in dieser Kategorie bewerten, denn wenn man ins Detail geht, stehen da Sätze wie: "Der Mond war eine Apfelsine. Deine Schulter schimmerte in seinem Licht. Die großen Seehunde schwammen ans Ufer und tauschten vielsagende Blicke aus."
Vielleicht aber gibt es einen konkreten Grund, warum Dirk von Lowtzow die allergrößten Fehler insgesamt doch umschifft hat: Vor ein paar Jahren las er Christian Krachts "Faserland" ein, und wer noch immer an der Grandezza dieses Textes zweifelt, sollte sich die Aufnahme einmal anhören, denn es ist, als hätte Dirk von Lowtzow den Roman mit seiner sonor raunenden Stimme und dieser lakonischen Intonation noch einmal unter ein Brennglas gelegt. Das ist schon ein Ereignis, und vielleicht ahnte er da, dass solch ein Text ihm selbst vielleicht nicht so einfach gelingen würde. Aber wem würde das schon?
Und dass am Ende von "Aus dem Dachsbau" dann nahezu unbeantwortet bleibt, ob man dieses Büchlein absolut misslungen oder doch ganz nett und heiter finden soll, das ist doch für das Buch eines Musikers schon gar nicht so schlecht.
TIMON KARL KALEYTA
Dirk von Lowtzow: "Aus dem Dachsbau". Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was will Dirk von Lowtzow uns mit seinem Buch sagen?
Manchmal sieht man ja einen Film, liest ein Buch oder steht vor einem Kunstwerk und bleibt zunächst ratlos. Erst ein paar Stunden, vielleicht ein paar Nächte später bemerkt man dann doch - mit prozessualer Verzögerung - einen sogenannten Erkenntnisgewinn, oder es setzt sich zumindest ein ästhetisches Urteil durch, mit dem es sich leben lässt. Wenn aber, wie im Fall von Dirk von Lowtzows kleinem Bändchen "Aus dem Dachsbau" auch mehr als eine Woche nach der Lektüre und nach hektischer werdendem Querlesen das Pendel partout in keine Richtung ausschlagen will, so fest man auch an dem Buch schüttelt und rüttelt, in der Hoffnung, es möge zumindest eine Portion Wut und Hass herauspurzeln, dann könnte das ja bereits etwas Schlimmes bedeuten, vielleicht aber auch etwas sehr Besonderes, kann ja sein, bloß weiß man es eben nicht.
Fast noch weniger hilfreich ist es, sucht man in dieser Not Rat bei Freunden und Kollegen - denn anders als man selbst, scheint beinahe jeder irgendeine emotionale Beziehung zu Dirk von Lowtzow zu pflegen, die einen haben ihn für sein Schnöseltum immer verabscheut, für die anderen waren er und seine Band Tocotronic in puncto Sozialisation bedeutend; und so sagen nun die einen, das Buch sei überraschend besser, als sie befürchtet hatten, also "ganz nett", und die anderen sagen erstaunlicherweise dasselbe, ohne dabei aber Schlimmeres erwartet zu haben. Andererseits, man weiß ja, wie so etwas ausgehen kann, wenn zu Ehren gekommene Musiker plötzlich Bücher schreiben - man denke nur an Jochen Distelmeyers seltsamen Berlin-Roman "Otis".
Da also hat Dirk von Lowtzow instinktiv etwas richtig gemacht, dass er nicht einfach irgendeinen Roman auf den Weg gebracht hat, nur um sich in einen Romancier zu verwandeln, sondern dass er dieser Versuchung widerstand und stattdessen eine Sammlung von sechsundzwanzig textlichen Miniaturen präsentiert, stichpunkthaft streng nach alphabetischer Reihung versammelt, mal Erinnerung, mal Poesie, mal Zeichnung. Daran entlang plaudert er so ein bisschen aus seinem Leben. Es geht da um Kindheit und Jugend, um das Anderssein, um einen verstorbenen Jugendfreund, um leider doch oft banale Alltagsbeobachtungen und halbe Anekdoten, um das Leben eines Musikers, wenn dieser gerade nicht auf der Bühne steht, und was der so gedacht und gemacht hat in den letzten Jahrzehnten.
Man erfährt so einiges über ihn, das Meiste nicht der Rede wert, aber für jemanden, der das alles immer schon mal wissen wollte, ja vielleicht doch ganz interessant wie freches Merchandise, zum Beispiel was Dirk von Lowtzow alles nicht so mag, nämlich: Fußball, Bahnreisen, Reisen allgemein, Staub, Dreck, Unordnung, Kalk(!), Bundesjugendspiele, Vatertage, und seekrank wird er leider auch. Es gibt bisweilen Sympathisches, Lowtzow trinkt und raucht nämlich häufig, viel und gern, zumindest in manchen Lebensabschnitten: "Meine Tage beginnen meist verkatert und erscheinen mir endlos", heißt es da einmal stellvertretend, und das kennt man doch.
Und auch wenn das Buch seltsam humorlos bleibt, eher unfreiwillig komisch ist, mag man diesen Typen irgendwie ganz gern, schließlich ist er ständig ausgelaugt, leer und schwach ("Nach dem frühen Abendessen war ich oft erschöpft"), oder er leidet ("Weinend stand ich allein am Rand der Aschebahn"). Er geht, das ist auch sympathisch, häufig allein ins Kino, ins Multiplex am Potsdamer Platz und im Anschluss noch unprätentiös essen: "Ich aß dann in einem schmuddeligen China-Imbiss gegenüber der U-Bahn-Station zu Mittag. Bratnudeln mit Gemüse. Vom Geschmack des Glutamats konnte ich nicht genug bekommen."
Wenn man es ganz übel meinte mit "Aus dem Dachsbau", könnte man sagen, es läse sich wie eine literarisierte Antwort auf die berühmt-blödsinnige Interviewfrage an einen Prominenten, was denn sein größter Fehler sei, worauf dieser dann - in Vortäuschung von Selbstkritik - verlässlich antwortet: "Dass ich so großzügig bin!" Denn zwar inszeniert sich Dirk von Lowtzow keineswegs als strahlender Held, eher als großer, aber recht fruchtloser Grübler, doch die zarte Selbstkritik und die Offenheit lassen ihn doch immer wieder ausgesprochen menschlich erscheinen - so lässt sich dieses Buch eigentlich auch nur in dieser Kategorie bewerten, denn wenn man ins Detail geht, stehen da Sätze wie: "Der Mond war eine Apfelsine. Deine Schulter schimmerte in seinem Licht. Die großen Seehunde schwammen ans Ufer und tauschten vielsagende Blicke aus."
Vielleicht aber gibt es einen konkreten Grund, warum Dirk von Lowtzow die allergrößten Fehler insgesamt doch umschifft hat: Vor ein paar Jahren las er Christian Krachts "Faserland" ein, und wer noch immer an der Grandezza dieses Textes zweifelt, sollte sich die Aufnahme einmal anhören, denn es ist, als hätte Dirk von Lowtzow den Roman mit seiner sonor raunenden Stimme und dieser lakonischen Intonation noch einmal unter ein Brennglas gelegt. Das ist schon ein Ereignis, und vielleicht ahnte er da, dass solch ein Text ihm selbst vielleicht nicht so einfach gelingen würde. Aber wem würde das schon?
Und dass am Ende von "Aus dem Dachsbau" dann nahezu unbeantwortet bleibt, ob man dieses Büchlein absolut misslungen oder doch ganz nett und heiter finden soll, das ist doch für das Buch eines Musikers schon gar nicht so schlecht.
TIMON KARL KALEYTA
Dirk von Lowtzow: "Aus dem Dachsbau". Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensent Timo Karl Kaleyta krabbelt in Dirk von Lowtzows "Dachsbau" , in der Hoffnung, in den hier versammelten Miniaturen Funkelndes oder wenigstens Misslungenes zu finden. Findet er aber nicht. Denn das Buch ist so "nett" wie Lowtzow selbst, fährt der Kritiker fort, der den Tocotronic-Frontmann hier bei einsamen Kinobesuchen, China-Imbissen und anderen "banalen" Alltagsmomenten begleitet, nebenbei erfährt, dass der Dirk viel raucht, oft müde ist, Kalk, Fußball und Bahnreisen nicht so gern mag und insgesamt ganz "menschlich" ist. Kaleyta hat schon schlechtere Musikerbücher gelesen, aber von Lotzow auch schon Besseres gehört: Dessen vor ein paar Jahren erschienene Lesung von Christian Krachts "Faserland" nämlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ungewohnt persönlich [...] Aus dem Dachsbau war eine gute Idee.« Matthias Lohr Hessische/Niedersächsische Allgemeine 20190325
Moritz Baßler hütet sich, die autobiografischen Prosaskizzen von Dirk von Lowtzow zu unterschätzen. Mehr als Spielerei mit Fotos, Gedichten und Erinnerungen scheinen ihm die Texte, die nie prätentiös oder zu schwer sind. Neben Einblicken in Tourgeschehen und musikalische Einflüsse bieten sie Baßler beim Übergang in die Fiktion eine "versponnene" vordigitale Mythologie oder auch eine neue emotionale Topografie der Bundesrepublik jenseits großer Narrative, nämlich als Vermessung der Räume von A wie Asterix und Autobahnzubringer bis Z wie Zorro (oder so ähnlich).
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