Wolfgang Herrndorf
Audio-CD
Bilder deiner großen Liebe (Restauflage)
Ein unvollendeter Roman. Ungekürzte Lesung. 280 Min.
Gesprochen: Belitski, Natalia
Versandkostenfrei!
Nicht lieferbar
Weitere Ausgaben:
Restauflage
Neue Bücher, die nur noch in kleinen Stückzahlen vorhanden und von der Preisbindung befreit sind. Schnell sein!
Ein Mädchen steht im Hof einer Anstalt. Das Tor geht auf, das Mädchen huscht hinaus und beginnt seine Reise, durch Wälder, Felder, Dörfer und an der Autobahn entlang: »Die Sterne wandern, und ich wandre auch.« Isa heißt sie, und Isa wird den Menschen begegnen - freundlichen und rätselhaften, schlechten und traurigen. Einem Binnenschiffer, der vielleicht ein Bankräuber ist, einem merkwürdigen Schriftsteller, einem toten Förster, einem Fernfahrer auf Abwegen. Und auf einer Müllhalde trifft sie zwei Vierzehnjährige, einer davon, der schüchterne Blonde, gefällt ihr.An dem Roman übe...
Ein Mädchen steht im Hof einer Anstalt. Das Tor geht auf, das Mädchen huscht hinaus und beginnt seine Reise, durch Wälder, Felder, Dörfer und an der Autobahn entlang: »Die Sterne wandern, und ich wandre auch.« Isa heißt sie, und Isa wird den Menschen begegnen - freundlichen und rätselhaften, schlechten und traurigen. Einem Binnenschiffer, der vielleicht ein Bankräuber ist, einem merkwürdigen Schriftsteller, einem toten Förster, einem Fernfahrer auf Abwegen. Und auf einer Müllhalde trifft sie zwei Vierzehnjährige, einer davon, der schüchterne Blonde, gefällt ihr.
An dem Roman über die verlorene, verrückte, hinreißende Isa hat Wolfgang Herrndorf bis zuletzt gearbeitet, er hat ihn selbst noch zur Veröffentlichung bestimmt. Eine romantische Wanderschaft durch Tage und Nächte; unvollendet und doch ein vollkommenes Hörerlebnis.
Natalia Belitski ist Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin und spielt dort unter anderem in "Tschick". Filmfreunden ist sieaus "Vaterfreuden" oder als Titelheldin der Arte-Serie "About:Kate" bekannt. Rau und ein wenig verletzlich, unverkennbar und sehr präsent - mit ihrer jungen Stimme erweckt sie das Hörbuch zum Leben.
An dem Roman über die verlorene, verrückte, hinreißende Isa hat Wolfgang Herrndorf bis zuletzt gearbeitet, er hat ihn selbst noch zur Veröffentlichung bestimmt. Eine romantische Wanderschaft durch Tage und Nächte; unvollendet und doch ein vollkommenes Hörerlebnis.
Natalia Belitski ist Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin und spielt dort unter anderem in "Tschick". Filmfreunden ist sieaus "Vaterfreuden" oder als Titelheldin der Arte-Serie "About:Kate" bekannt. Rau und ein wenig verletzlich, unverkennbar und sehr präsent - mit ihrer jungen Stimme erweckt sie das Hörbuch zum Leben.
Herrndorf, WolfgangWolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren und 2013 in Berlin gestorben, hat Malerei studiert. 2002 erschien sein Debütroman "In Plüschgewittern", 2007 der Erzählband "Diesseits des Van-Allen-Gürtels", 2010 und 2011 folgten die Romane "Tschick" und "Sand", 2013 posthum das Tagebuch "Arbeit und Struktur" und 2014 der Fragment gebliebene Roman "Bilder deiner großen Liebe".
Belitski, NataliaNatalia Belitski spielte nach ihrer Schauspielausbildung in Leipzig am Düsseldorfer Schauspielhaus und ist festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin. Im Kino war sie u.a. in "Vaterfreuden" zu sehen. Fernsehzuschauern ist sie bekannt aus Auftritten im "Tatort" oder bei "Bloch" sowie als Titelheldin der Arte-Serie "About:Kate". Rau und ein wenig verletzlich, unverkennbar und sehr präsent - mit ihrer jungen Stimme lässt sie Hörbücher lebendig werden.
Belitski, NataliaNatalia Belitski spielte nach ihrer Schauspielausbildung in Leipzig am Düsseldorfer Schauspielhaus und ist festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin. Im Kino war sie u.a. in "Vaterfreuden" zu sehen. Fernsehzuschauern ist sie bekannt aus Auftritten im "Tatort" oder bei "Bloch" sowie als Titelheldin der Arte-Serie "About:Kate". Rau und ein wenig verletzlich, unverkennbar und sehr präsent - mit ihrer jungen Stimme lässt sie Hörbücher lebendig werden.
©Mathias Mainholz
Produktdetails
- Verlag: Argon Verlag
- Anzahl: 4 Audio CDs
- Gesamtlaufzeit: 280 Min.
- Erscheinungstermin: 1. Oktober 2014
- Sprache: Deutsch
- ISBN-13: 9783839813553
- Artikelnr.: 67317165
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Der Tag geht in der Stille des Mittags vor Anker
Auch wenn der Tod allgegenwärtig ist: "Bilder deiner großen Liebe", Wolfgang Herrndorfs letzter Roman, ist alles andere als unvollendet.
Von Michael Lentz
Und mein Problem war eben, dass ich langsam wieder verrückt wurde." Mit nichts am Leib als einem weißen T-Shirt und einer "Hose mit Camouflage-Muster", mit zwei Tabletten und ihrem Tagebuch ist Isa aus der Anstalt getürmt. Jedenfalls sagt sie das. Wem sagt sie das? Sich, ihrem Tagebuch und schließlich "einem Blonden und einem Russen", die der Leser bereits aus "Tschick" kennt.
Auf 33 Stationen erzählt Isa vom Ausbruch aus der Anstalt, den Fährnissen des Übernachtens im Wald und unter freiem Himmel,
Auch wenn der Tod allgegenwärtig ist: "Bilder deiner großen Liebe", Wolfgang Herrndorfs letzter Roman, ist alles andere als unvollendet.
Von Michael Lentz
Und mein Problem war eben, dass ich langsam wieder verrückt wurde." Mit nichts am Leib als einem weißen T-Shirt und einer "Hose mit Camouflage-Muster", mit zwei Tabletten und ihrem Tagebuch ist Isa aus der Anstalt getürmt. Jedenfalls sagt sie das. Wem sagt sie das? Sich, ihrem Tagebuch und schließlich "einem Blonden und einem Russen", die der Leser bereits aus "Tschick" kennt.
Auf 33 Stationen erzählt Isa vom Ausbruch aus der Anstalt, den Fährnissen des Übernachtens im Wald und unter freiem Himmel,
Mehr anzeigen
von Erinnerungen an Vater, Mutter und Großvater, an die Kindheit und Schulzeit, sie erzählt vom Besuch eines Friedhofs, von einigen Zwischenfällen bei Begegnungen mit einer Fußballmannschaft, die ihr beim Pinkeln auf den Rasen zusieht, von einem Jungen, dem Isa einen Eimer mit Fröschen wegnimmt und den sie an seinen eigenen Tod gemahnt ("Wie die Frösche stirbst du!"). Gleich fünf wunderbare Kapitel widmet der Roman Isas Begegnung mit dem Schiffskapitän Max Hiller, der sie auf seiner Kanalfahrt mitnimmt, ihr den Unterschied zwischen Gleiter und Verdränger erklärt und ihr die Durchschussnarben seines Bizeps zeigt, die von einem Bankraub herrühren sollen, von dem er aber "nicht eine müde Mark" gehabt habe. Seemannsgarn?
Großes Imaginationspotential besitzt auch das auf der schmalen Grenze zwischen Fiktion und Irrealität balancierende Gespräch zwischen Isa und dem taubstummen Kind Olaf, mit dem sie anspielungsreich und gebildet über mathematische Beweise und die wahre Treue eines Hundes parliert, der, in Spanien vergessen, zu Fuß nach Dortmund läuft und dort ohne Beine ankommt; oder Isas Selbstporträt als "Titularkönigin von Kastilien und León" vom Planeten Trastámara einem Mann gegenüber, der ihr ein halbes Baguette schenkt - womit sie historisch-dynastische Kennerschaft verrät.
Aber auch im Hier und Jetzt ist Isa zu Hause. Sensiblen Realitätssinn kennzeichnen zwei im Trinker- und Trampermilieu spielende Kapitel, die Wolfgang Herrndorf als einen Empiriker mit Spürsinn für soziale und psychische Nöte und Gefahren ausweisen. Und wenn Isa einem leibhaftigen Schriftsteller begegnet, dem sie eigentlich für fünf Euro den Rasen mähen möchte, ihn aber stattdessen in ein Gespräch über die Qualität von Literatur verwickelt, wirkt das Gegengift der Ironie, das den Grundton der Melancholie und Verzweiflung des Romans abmildert.
In den komplementären Romanen "Tschick" und "Bilder deiner großen Liebe" findet man eine Reihe von Parallelfiguren und textlichen Konkordanzen, insbesondere in der Episode von Maik, Tschick und Isa, die in "Tschick" nur "das Mädchen" heißt. So erzählt Isa ihre eigene Version der Mülldeponie-Begegnung mit den durchgebrannten Freunden Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, sie erzählt, dass sie mit einem Schlauch Benzin aus einem geparkten Auto zapft, was Maik und Tschick nämlich nicht schaffen, und wie sich zwischen ihr und Maik eine Liebesgeschichte anbahnt - es wird bei der Anbahnung bleiben.
Die Kunstfigur Isa ist ein Hybrid aus staunender Vereinfältigung, enzyklopädischer Belesenheit und leidgeprüfter Alltagsschläue. Dem Diskurs des Verrücktseins setzt sie einen sprachmagischen Realismus entgegen. Ihr mythopoetisch-naives Denken verleiht ihr kosmische Kräfte. So kann sie zum Beispiel durch bloße Berührung mit dem Daumen die Sonne auf ihrer Wanderschaft und somit auch die Zeit zum Stillstand bringen. Das ist kindliches Sehen und Melancholie zugleich.
Isas Sprache ist ein Hybrid aus Mündlichkeit, Soziolekt ("Für wer sich das nicht vorstellen kann") und stilistischer Elaboriertheit, es finden sich terminologische Begriffe aus der Astronomie, Botanik, Meteorologie, Nautik, Physik und Waffenkunde oder zum Beispiel verquere Anspielungen auf Werke der Literatur. Isa entpuppt sich als Wanderin auch zwischen sprachlichen Welten, sie ist zu schlichten Statements ("Das war schön") genauso fähig wie zu eigenwilliger Metaphorik ("Meisenknödelblick") und atmosphärisch aufgeladenen Formulierungen, die in ihrer poetischen Dinglichkeit verblüffen: "In meinem Inneren wüten eiserne Zangen"; "der Tag geht in der Stille und Hitze des Mittags vor Anker";"Der letzte Sturm hat schlammiges Gras über den Tragegurt gekämmt". Als Agenda, Wörter- und Notizensammlung ist Isas Tagebuch partiell im Roman verarbeitet worden oder roh in diesen eingegangen. Da finden sich Listen mit Stichworten heterogener Kontexte ("Kanakenfreund / Debilo / Insasse // Himbeermarmelade kaufen & / Brot & Butter & ein Messer / Anosognosie/ du süße kleine Fickmaus"), aber auch thematisch geordnete Aufstellungen wie etwa eine Typologie unterschiedlicher Blattformen ("gelappt / gesägt / gekerbt / . . . zerhackt und benadelt"). "Bilder deiner großen Liebe" erscheint somit selbst als Gattungsmix aus Roman und Tagebuch - ein schöner Kunstgriff.
Einen Hinweis auf Isas Alter gibt die Beschreibung eines Kriegerdenkmals und der Besuch des gegenüberliegenden Friedhofs. "Erich Camphausen" und "Daniel Franz" ("1918-1943?") sind beide im Alter von fünfundzwanzig Jahren gefallen. So jung hätte jeder von ihnen ihr "älterer Bruder sein können". Isas Nennung der Realnamen und Lebensdaten von Soldaten beider Weltkriege ist ein Akt des Totengedenkens. Wenn Daniel Franz ihr zufolge "jetzt" zweiundneunzig Jahre alt wäre, gibt dies auch Auskunft über die Entstehungszeit des Kapitels. Die Synchronisierung von Biographien ist ein weiteres Signal der Ankündigung ihres eigenen Todes und führt zu logisch und existentiell paradoxen Doppelbindungen: "Was macht es für einen Unterschied, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden? Keinen. Die fünf Minuten sind längst vorbei. Aber dass es da keinen Unterschied gibt, kommt mir seltsam vor. Obwohl es so ist. Außer die Zeit macht einen Unterschied. Aber das stimmt nicht, denke ich, und ich denke, dass das falsch ist, was ich denke, und dann denke ich, es ist richtig, und dann denke ich, dass mein Denken falsch ist und immer falsch gewesen ist, und ich schreie."
Wenn dann noch ein Mann mit einer grünen Trainingsjacke "wie aus dem Boden" neben ihr auftaucht, schließt sich der Kreis der Selbstanrufung. Die grüne Trainingsjacke war ein Markenzeichen von Wolfgang Herrndorf. Wie Alfred Hitchcock in seinen Filmen hat der Autor in seinem eigenen Buch einen Cameo-Auftritt. Sein Auftauchen "wie aus dem Boden" gibt nicht nur der irrealen Plötzlichkeit Ausdruck, sondern zeichnet den Autor auch als Alter Ego der Erzählerin.
Auf ihren Streifzügen durch Landschaft und Erinnerung sieht Isa ein Haus, das ihre Phantasie entzündet und als "Gut Hohenbuchen" ihres Urgroßvaters zur Kulisse eines idyllisch-melancholischen Romans im Roman wird: "Ich stelle mir vor, wie mein Leben jetzt weitergehen würde, wenn es nicht mein Leben wäre, sondern ein Roman." Dann würde sie in diesem Haus die Heimkehr ihres Geliebten Daniel Franz und seines Freundes Erich Camphausen von ihrem Einsatz in Afghanistan erhoffen, "der Romanautor" würde die Gelegenheit nutzen, "noch einmal schnell mein Leben vor den Augen des Lesers vorbeiziehen und dabei meinen Charakter in allen Facetten leuchten zu lassen, so in der Art wie Bilder auf einem Kalender". Genau das tut Herrndorf, indem er Isa als Stellvertreterfigur selbst die Bilder auf einem 33 Stationen umfassenden Kalender erzählen lässt.
Solche metafiktionalen Einschübe und Kommentare und die Integration von Tagebucheinträgen, Träumen und Notizen kennzeichnen "Bilder deiner großen Liebe" zugleich als Roman und Roman des Romans, Story/Plot und Making-of. Isas Träumen kommt hierbei eine besondere Funktion zu. Sie spiegeln das Leben als eine einzige mise en abyme: als geträumter Schlaf im Schlaf beziehungsweise Traum im Traum.
Der Tod ist allgegenwärtig in "Bilder deiner großen Liebe". Er kündigt sich an im philosophischen Räsonieren eines Bauführers über Zeit und Leben; in der Figur der im Sterben liegenden Mutter eines Schriftstellers und nicht zuletzt in einem Monolog über verschiedene Arten des Suizids: "Ich denke darüber nach, habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, wie ich mich umbringen würde, wenn ich mich umbringen würde." Nachdem Isa das Schiff von Max Hiller wieder verlassen hat, findet sie am Kanal eine Computertasche, deren auf der Rückseite angebrachter Klarsichthülle sie einen Zettel entnimmt: "Rufen Sie die Polizei! Ich habe mich umgebracht." Im Wald entdeckt sie später den toten Förster Wilhelm Otto, quer über einem Rehbock-Kadaver ohne Augen liegend. Ihn hat wohl der Schlag getroffen, mutmaßt Isa. Seine Heckler & Koch nimmt sie mit.
Wolfgang Herrndorf konnte sein letztes Buch nicht mehr zu Ende schreiben, seine fortschreitende Krankheit ließ dies nicht zu. Ist es deswegen ein "unvollendeter Roman"? Als Fragment weist diesen Roman nur seine Entstehungsgeschichte aus, wie sie von seinen Herausgebern Marcus Gärtner und Kathrin Passig in ihrem so sachdienlichen wie würdigen Nachwort skizziert worden ist. Ihre mit dem Autor abgesprochene Aufgabe bezeichnen die Herausgeber als Redigieren, Streichen und Anordnen mit dem Ziel, dass am Ende "ein zusammenhängender Text dastehen" sollte, "der vorhandene Lücken aber nicht verbirgt". "Bilder deiner großen Liebe" ist ein komplex gearbeiteter Roman, dem es an nichts fehlt, ein pikaresker Episodenroman, eine Abschiedsodyssee mit einem weiblichen Taugenichts als Ich-Erzählerin, die im letzten Bild sprichwörtlich am Abgrund steht.
Im Unterschied zu "Tschick", dessen Ich-Erzähler Maik Klingenberg im Präteritum erzählt, ist "Bilder deiner großen Liebe" ein Präsensroman. Das bezeugt zum einen seine Gegenwartsemphase, zum anderen wird im Vollzug des Voranschreibens Dokumentation und Faktizität signalisiert, indem der Roman eine Gleichzeitigkeit von Erleben und Erzählen imaginiert. Das hat den Sinn und die Funktion, prospektiv in einem Ende kulminieren zu können, das vielleicht nicht anders dargestellt werden kann als in einem paradoxalen Chiasmus: als Anfang im Ende und Ende im Anfang: "Ich halte die Waffe genau senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe."
Was für ein großartiges Schlussbild! Der Lauf der Kugel als Lebenslauf, als philosophisch und theologisch ausdeutbares Sinnbild der Körper-Geist-Frage. "Bilder deiner großen Liebe" ist ein großes Märchen des Imaginären, eine Parabel des Versuchs, mit dem Denken über das Denken und im Angesicht des Todes mit dem Leben über das Leben hinauszukommen. Wer weiß, vielleicht hat Isa ihre Flucht aus Fenster und Tor der Anstalt mitsamt den vielen Stationen ihres Unterwegsseins zu sich selbst nur imaginiert - getreu ihrem eigenen Aphorismus: "Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Innern." Eine große Geschichtenerzählerin ist sie ja. Und kann als Clou des Romans nicht die Konstruktion gedacht werden, dass die Bewusstseins-"Bilder deiner großen Liebe" sich zwischen dem in Zeitlupe erfassten Austreten der Kugel und ihrem Wiedereintreten in den Lauf der Waffe ereignen? So wie sich in Ambrose Bierces Geschichte "An Occurence at Owl Creek Bridge" die Errettung eines Soldaten vor dem Tod durch Erhängen nur in seiner Phantasie in der Zeitspanne zwischen dem Sturz von der Brücke und seinem eintretenden Tod ereignet.
Wolfgang Herrndorf hat sich selbst ein Totenbuch geschrieben. Kontemplativ Erhabenes grundiert jede Bewegung und jeden Gedanken des Romans, der den Versuch der Darstellung des Undarstellbaren, des langsamen Verlöschens der Erinnerung und des sich selbst Entschwindens in unvergessliche Bilder fasst: "Und weiter durch die Nacht, weiter durch den Sarg aus Sternen, mich schwindelt, ich falle, der Körper fällt durch bodenlosen Nebel, ich schlafe."
Wolfgang Herrndorf: "Bilder deiner großen Liebe". Ein unvollendeter Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014. 142 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Großes Imaginationspotential besitzt auch das auf der schmalen Grenze zwischen Fiktion und Irrealität balancierende Gespräch zwischen Isa und dem taubstummen Kind Olaf, mit dem sie anspielungsreich und gebildet über mathematische Beweise und die wahre Treue eines Hundes parliert, der, in Spanien vergessen, zu Fuß nach Dortmund läuft und dort ohne Beine ankommt; oder Isas Selbstporträt als "Titularkönigin von Kastilien und León" vom Planeten Trastámara einem Mann gegenüber, der ihr ein halbes Baguette schenkt - womit sie historisch-dynastische Kennerschaft verrät.
Aber auch im Hier und Jetzt ist Isa zu Hause. Sensiblen Realitätssinn kennzeichnen zwei im Trinker- und Trampermilieu spielende Kapitel, die Wolfgang Herrndorf als einen Empiriker mit Spürsinn für soziale und psychische Nöte und Gefahren ausweisen. Und wenn Isa einem leibhaftigen Schriftsteller begegnet, dem sie eigentlich für fünf Euro den Rasen mähen möchte, ihn aber stattdessen in ein Gespräch über die Qualität von Literatur verwickelt, wirkt das Gegengift der Ironie, das den Grundton der Melancholie und Verzweiflung des Romans abmildert.
In den komplementären Romanen "Tschick" und "Bilder deiner großen Liebe" findet man eine Reihe von Parallelfiguren und textlichen Konkordanzen, insbesondere in der Episode von Maik, Tschick und Isa, die in "Tschick" nur "das Mädchen" heißt. So erzählt Isa ihre eigene Version der Mülldeponie-Begegnung mit den durchgebrannten Freunden Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, sie erzählt, dass sie mit einem Schlauch Benzin aus einem geparkten Auto zapft, was Maik und Tschick nämlich nicht schaffen, und wie sich zwischen ihr und Maik eine Liebesgeschichte anbahnt - es wird bei der Anbahnung bleiben.
Die Kunstfigur Isa ist ein Hybrid aus staunender Vereinfältigung, enzyklopädischer Belesenheit und leidgeprüfter Alltagsschläue. Dem Diskurs des Verrücktseins setzt sie einen sprachmagischen Realismus entgegen. Ihr mythopoetisch-naives Denken verleiht ihr kosmische Kräfte. So kann sie zum Beispiel durch bloße Berührung mit dem Daumen die Sonne auf ihrer Wanderschaft und somit auch die Zeit zum Stillstand bringen. Das ist kindliches Sehen und Melancholie zugleich.
Isas Sprache ist ein Hybrid aus Mündlichkeit, Soziolekt ("Für wer sich das nicht vorstellen kann") und stilistischer Elaboriertheit, es finden sich terminologische Begriffe aus der Astronomie, Botanik, Meteorologie, Nautik, Physik und Waffenkunde oder zum Beispiel verquere Anspielungen auf Werke der Literatur. Isa entpuppt sich als Wanderin auch zwischen sprachlichen Welten, sie ist zu schlichten Statements ("Das war schön") genauso fähig wie zu eigenwilliger Metaphorik ("Meisenknödelblick") und atmosphärisch aufgeladenen Formulierungen, die in ihrer poetischen Dinglichkeit verblüffen: "In meinem Inneren wüten eiserne Zangen"; "der Tag geht in der Stille und Hitze des Mittags vor Anker";"Der letzte Sturm hat schlammiges Gras über den Tragegurt gekämmt". Als Agenda, Wörter- und Notizensammlung ist Isas Tagebuch partiell im Roman verarbeitet worden oder roh in diesen eingegangen. Da finden sich Listen mit Stichworten heterogener Kontexte ("Kanakenfreund / Debilo / Insasse // Himbeermarmelade kaufen & / Brot & Butter & ein Messer / Anosognosie/ du süße kleine Fickmaus"), aber auch thematisch geordnete Aufstellungen wie etwa eine Typologie unterschiedlicher Blattformen ("gelappt / gesägt / gekerbt / . . . zerhackt und benadelt"). "Bilder deiner großen Liebe" erscheint somit selbst als Gattungsmix aus Roman und Tagebuch - ein schöner Kunstgriff.
Einen Hinweis auf Isas Alter gibt die Beschreibung eines Kriegerdenkmals und der Besuch des gegenüberliegenden Friedhofs. "Erich Camphausen" und "Daniel Franz" ("1918-1943?") sind beide im Alter von fünfundzwanzig Jahren gefallen. So jung hätte jeder von ihnen ihr "älterer Bruder sein können". Isas Nennung der Realnamen und Lebensdaten von Soldaten beider Weltkriege ist ein Akt des Totengedenkens. Wenn Daniel Franz ihr zufolge "jetzt" zweiundneunzig Jahre alt wäre, gibt dies auch Auskunft über die Entstehungszeit des Kapitels. Die Synchronisierung von Biographien ist ein weiteres Signal der Ankündigung ihres eigenen Todes und führt zu logisch und existentiell paradoxen Doppelbindungen: "Was macht es für einen Unterschied, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden? Keinen. Die fünf Minuten sind längst vorbei. Aber dass es da keinen Unterschied gibt, kommt mir seltsam vor. Obwohl es so ist. Außer die Zeit macht einen Unterschied. Aber das stimmt nicht, denke ich, und ich denke, dass das falsch ist, was ich denke, und dann denke ich, es ist richtig, und dann denke ich, dass mein Denken falsch ist und immer falsch gewesen ist, und ich schreie."
Wenn dann noch ein Mann mit einer grünen Trainingsjacke "wie aus dem Boden" neben ihr auftaucht, schließt sich der Kreis der Selbstanrufung. Die grüne Trainingsjacke war ein Markenzeichen von Wolfgang Herrndorf. Wie Alfred Hitchcock in seinen Filmen hat der Autor in seinem eigenen Buch einen Cameo-Auftritt. Sein Auftauchen "wie aus dem Boden" gibt nicht nur der irrealen Plötzlichkeit Ausdruck, sondern zeichnet den Autor auch als Alter Ego der Erzählerin.
Auf ihren Streifzügen durch Landschaft und Erinnerung sieht Isa ein Haus, das ihre Phantasie entzündet und als "Gut Hohenbuchen" ihres Urgroßvaters zur Kulisse eines idyllisch-melancholischen Romans im Roman wird: "Ich stelle mir vor, wie mein Leben jetzt weitergehen würde, wenn es nicht mein Leben wäre, sondern ein Roman." Dann würde sie in diesem Haus die Heimkehr ihres Geliebten Daniel Franz und seines Freundes Erich Camphausen von ihrem Einsatz in Afghanistan erhoffen, "der Romanautor" würde die Gelegenheit nutzen, "noch einmal schnell mein Leben vor den Augen des Lesers vorbeiziehen und dabei meinen Charakter in allen Facetten leuchten zu lassen, so in der Art wie Bilder auf einem Kalender". Genau das tut Herrndorf, indem er Isa als Stellvertreterfigur selbst die Bilder auf einem 33 Stationen umfassenden Kalender erzählen lässt.
Solche metafiktionalen Einschübe und Kommentare und die Integration von Tagebucheinträgen, Träumen und Notizen kennzeichnen "Bilder deiner großen Liebe" zugleich als Roman und Roman des Romans, Story/Plot und Making-of. Isas Träumen kommt hierbei eine besondere Funktion zu. Sie spiegeln das Leben als eine einzige mise en abyme: als geträumter Schlaf im Schlaf beziehungsweise Traum im Traum.
Der Tod ist allgegenwärtig in "Bilder deiner großen Liebe". Er kündigt sich an im philosophischen Räsonieren eines Bauführers über Zeit und Leben; in der Figur der im Sterben liegenden Mutter eines Schriftstellers und nicht zuletzt in einem Monolog über verschiedene Arten des Suizids: "Ich denke darüber nach, habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, wie ich mich umbringen würde, wenn ich mich umbringen würde." Nachdem Isa das Schiff von Max Hiller wieder verlassen hat, findet sie am Kanal eine Computertasche, deren auf der Rückseite angebrachter Klarsichthülle sie einen Zettel entnimmt: "Rufen Sie die Polizei! Ich habe mich umgebracht." Im Wald entdeckt sie später den toten Förster Wilhelm Otto, quer über einem Rehbock-Kadaver ohne Augen liegend. Ihn hat wohl der Schlag getroffen, mutmaßt Isa. Seine Heckler & Koch nimmt sie mit.
Wolfgang Herrndorf konnte sein letztes Buch nicht mehr zu Ende schreiben, seine fortschreitende Krankheit ließ dies nicht zu. Ist es deswegen ein "unvollendeter Roman"? Als Fragment weist diesen Roman nur seine Entstehungsgeschichte aus, wie sie von seinen Herausgebern Marcus Gärtner und Kathrin Passig in ihrem so sachdienlichen wie würdigen Nachwort skizziert worden ist. Ihre mit dem Autor abgesprochene Aufgabe bezeichnen die Herausgeber als Redigieren, Streichen und Anordnen mit dem Ziel, dass am Ende "ein zusammenhängender Text dastehen" sollte, "der vorhandene Lücken aber nicht verbirgt". "Bilder deiner großen Liebe" ist ein komplex gearbeiteter Roman, dem es an nichts fehlt, ein pikaresker Episodenroman, eine Abschiedsodyssee mit einem weiblichen Taugenichts als Ich-Erzählerin, die im letzten Bild sprichwörtlich am Abgrund steht.
Im Unterschied zu "Tschick", dessen Ich-Erzähler Maik Klingenberg im Präteritum erzählt, ist "Bilder deiner großen Liebe" ein Präsensroman. Das bezeugt zum einen seine Gegenwartsemphase, zum anderen wird im Vollzug des Voranschreibens Dokumentation und Faktizität signalisiert, indem der Roman eine Gleichzeitigkeit von Erleben und Erzählen imaginiert. Das hat den Sinn und die Funktion, prospektiv in einem Ende kulminieren zu können, das vielleicht nicht anders dargestellt werden kann als in einem paradoxalen Chiasmus: als Anfang im Ende und Ende im Anfang: "Ich halte die Waffe genau senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe."
Was für ein großartiges Schlussbild! Der Lauf der Kugel als Lebenslauf, als philosophisch und theologisch ausdeutbares Sinnbild der Körper-Geist-Frage. "Bilder deiner großen Liebe" ist ein großes Märchen des Imaginären, eine Parabel des Versuchs, mit dem Denken über das Denken und im Angesicht des Todes mit dem Leben über das Leben hinauszukommen. Wer weiß, vielleicht hat Isa ihre Flucht aus Fenster und Tor der Anstalt mitsamt den vielen Stationen ihres Unterwegsseins zu sich selbst nur imaginiert - getreu ihrem eigenen Aphorismus: "Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Innern." Eine große Geschichtenerzählerin ist sie ja. Und kann als Clou des Romans nicht die Konstruktion gedacht werden, dass die Bewusstseins-"Bilder deiner großen Liebe" sich zwischen dem in Zeitlupe erfassten Austreten der Kugel und ihrem Wiedereintreten in den Lauf der Waffe ereignen? So wie sich in Ambrose Bierces Geschichte "An Occurence at Owl Creek Bridge" die Errettung eines Soldaten vor dem Tod durch Erhängen nur in seiner Phantasie in der Zeitspanne zwischen dem Sturz von der Brücke und seinem eintretenden Tod ereignet.
Wolfgang Herrndorf hat sich selbst ein Totenbuch geschrieben. Kontemplativ Erhabenes grundiert jede Bewegung und jeden Gedanken des Romans, der den Versuch der Darstellung des Undarstellbaren, des langsamen Verlöschens der Erinnerung und des sich selbst Entschwindens in unvergessliche Bilder fasst: "Und weiter durch die Nacht, weiter durch den Sarg aus Sternen, mich schwindelt, ich falle, der Körper fällt durch bodenlosen Nebel, ich schlafe."
Wolfgang Herrndorf: "Bilder deiner großen Liebe". Ein unvollendeter Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014. 142 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schließen
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rainer Moritz vergisst beim Lesen, dass Wolfgang Herrndorf diesen Roman nicht mehr abschließen konnte. In sich nämlich scheint ihm der Roman durchaus vollkommen. Die aus dem Nachlass herausgegebene, an Herrndorfs Roman "Tschick" anschließende Geschichte des Mädchens Isa auf der Suche nach der Liebe zur Welt, zum Leben, eröffnet ihm immer wieder Momente der Erleuchtung, quälend, anrührend. Großartig, meint Moritz, wie es dem Autor gelingt, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt dieser aus der Welt Gefallenen Figur zu versetzen, ganz ohne falschen Ton, staunt Moritz.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
«Bilder deiner großen Liebe» gehört schon jetzt in die Reihe jener Werke der Literatur, die den Begriff des Fragments umgewertet haben. Wie Franz Kafkas unvollendete Romane oder Georg Büchners «Woyzeck» haben sie aus dem, was vormals der Name eines Makels war, einer defizitären Form, ein eigenes literarisches Genre begründet. Süddeutsche Zeitung
Broschiertes Buch
Die weibliche Tschick
Nach der Verfilmung von Tschick hörte ich von diesem unvollendeten Roman, da der Autor starb.
Dennoch ist bei guten Stellen der Klang von Tschick zu hören, die gewollte Gesetzlosigkeit, diesmal mit schnellen Füßen anstatt eines Autos. Wie bei Tschick …
Mehr
Die weibliche Tschick
Nach der Verfilmung von Tschick hörte ich von diesem unvollendeten Roman, da der Autor starb.
Dennoch ist bei guten Stellen der Klang von Tschick zu hören, die gewollte Gesetzlosigkeit, diesmal mit schnellen Füßen anstatt eines Autos. Wie bei Tschick kann man den Roman auch als Sammlung von Kurzgeschichten lesen. Und auch die Stelle, wo sie die beiden Jungs trifft, ist schon geschrieben.
Im Nachwort steht, dass der Autor mehrere Varianten hatte und sich noch nicht entschieden hatte. Dies mit Anmerkungen anzudeuten, wäre wohl eine Bereicherung gewesen. Die genannten lokalen Unstimmigkeiten sind mir beim Lesen nicht aufgefallen.
Ich kann die knappen 140 Seiten als kurzweilige Urlaubslektüre empfehlen. Echte Höhepunkte fehlen zwar, aber 4 Sterne ist in Ordnung.
Weniger
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Andere Kunden interessierten sich für
