Der Bestseller von Dietrich Schwanitz zum Hören!
Die Geschichte Europas
Die Geschichte Europas von den Anfängen in der Antike über Mittelalter und Renaissance bis in die jüngste deutsche Vergangenheit – Schwanitz´ ideengeschichtlicher Parforceritt durch die Jahrhunderte, urteilte DIE ZEIT, fasziniert durch die "Behauptung einer nach wie vor gültigen europäischen Bildungsidee und füllt das Sehnsuchtsloch, das zwischen Tradition und Moderne klafft".
Literatur
Literatur ist Geschichtsschreibung in der Form persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen – und sie bietet den besten Zugang zum Verständnis der eigenen Kultur. Dietrich Schwanitz analysiert Formen und Gattungen, beschreibt Entwicklungen und Höhepunkte, knüpft überraschende Verbindungen zu sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und religiöser Praxis, und nennt und zitiert die Bücher, die man kennen muß.
Kunst und Musik
Von der Renaissance über den Barock bis zur Moderne: pointiert und lustvoll in der Sprache, aber kraftvoll im Ton, führt Dietrich Schwanitz mit kühnem Schwung durch Epochen und Stilrichtungen der westlichen Kultur und erschafft eine Welt, in dem Künstler und ihre Werke, aber auch Begriffe und Zusammenhänge von Musik, Kunst und Architektur anschaulich werden.
Philosophie
Mit Eleganz, Scharfsinn und Mut zu kühnen Passagen kommt Dietrich Schwanitz den wichtigsten Denkern und Ideen der europäischen Philosophie auf die Spur.
Die Geschichte Europas von den Anfängen in der Antike über Mittelalter und Renaissance bis in die jüngste deutsche Vergangenheit – Schwanitz´ ideengeschichtlicher Parforceritt durch die Jahrhunderte, urteilte DIE ZEIT, fasziniert durch die "Behauptung einer nach wie vor gültigen europäischen Bildungsidee und füllt das Sehnsuchtsloch, das zwischen Tradition und Moderne klafft".
Literatur ist Geschichtsschreibung in der Form persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen – und sie bietet den besten Zugang zum Verständnis der eigenen Kultur. Dietrich Schwanitz analysiert Formen und Gattungen, beschreibt Entwicklungen und Höhepunkte, knüpft überraschende Verbindungen zu sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und religiöser Praxis, und nennt und zitiert die Bücher, die man kennen muß.
Von der Renaissance über den Barock bis zur Moderne: pointiert und lustvoll in der Sprache, aber kraftvoll im Ton, führt Dietrich Schwanitz mit kühnem Schwung durch Epochen und Stilrichtungen der westlichen Kultur und erschafft eine Welt, in dem Künstler und ihre Werke, aber auch Begriffe und Zusammenhänge von Musik, Kunst und Architektur anschaulich werden.
Mit Eleganz, Scharfsinn und Mut zu kühnen Passagen kommt Dietrich Schwanitz den wichtigsten Denkern und Ideen der europäischen Philosophie auf die Spur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999Es gibt mehr Bücher, als eure Schulweisheit sich träumen lässt
Schon der verstorbene Shakespeare schrieb so viel, dass man ihn nie ausliest: Trotzdem treten Manfred Fuhrmann und Dietrich Schwanitz als neue Kanoniker auf / Von Thomas Steinfeld
Vor etwas mehr als zehn Jahren hatte der Schlagersänger Jürgen von der Lippe großen Erfolg mit einem sehr albernen Lied: "Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da", lautete der Refrain, "habt ihr auch so gut geschlafen, na, dann ist ja alles klar." Gewiss, hier entkriecht der Ohrwurm den Niederungen des Kalauers. Aber der studierte Germanist von der Lippe hat mit seinem Liedchen die ideale Erkennungsmelodie für die periodisch aufflammenden Diskussionen über den Kanon geschaffen. Denn wenn er ins Tageslicht der Öffentlichkeit gerät, dann stets als Gegenstand einer verlässlich wiederkehrenden Sorge, an die man sich längst gewöhnt hat. Der Refrain in jenem Klagelied, das seinen Verlust betrauert, ist längst zum Ohrwurm geworden. Es ist nur zum Schein mit der Resignation im Bunde. In Wahrheit ist es ein Wecklied.
Wer sich auf die Seite des verlorenen Kanons stellt, kann offenbar gar nicht auf dem falschen Fuß aufgestanden sein, und das gilt in diesem Herbst besonders für zwei deutsche Professoren, die sich mit je einem Buch entschlossen auf die Seite der großen Werke geschlagen haben. Da gibt es den Hamburger Anglisten Dietrich Schwanitz. Er ist ein Muntermacher, der sich in den Romanen "Der Campus" und "Der Zirkel" als Klatschbase aus dem akademischen Leben interessant machte. Nun macht er in kongenialem Schulterschluss mit dem Germanisten von der Lippe der Sorge um den Kanon den Garaus, indem er sich einen leicht fasslichen Reim auf sie macht. Freundlich lächelnd bietet er sein Buch als verlässliches Magazin all dessen dar, was man zu einer ordentlichen literarischen Bildung derzeit braucht.
Und da gibt es den Altphilologen Manfred Fuhrmann, einen anerkannten "Gelehrten" in der akademischen Welt, der ein Buch über die Geschichte des "bürgerlichen Bildungskanons" geschrieben hat. Darin erstrahlen die munteren Sorgen vor historisch vergoldetem Grund. Hier herrscht der verhaltene Ton der Elegie, ja auf manchen Seiten der des Nachrufs. Der Autor umkreist die Leerstelle, von der er bedauernd feststellt, dass dort einmal der Kanon war. und am Ende verschwindet der normative, anmaßende Begriff einer Autorität, die von sich behauptete, dauerhafter zu sein als Erz, im Mahlstrom des historischen Denkens.
Es ist kein Zufall, dass die modernen Philologen, wenn das Sorgenlied vom Kanon ertönt, immer wieder auf zwei Leitmotive zurückkommen: auf die Leseliste und den horror vacui. Denn den richtigen, den eigentlichen Kanon gibt es nur in der Theologie - oder besser: es gab ihn, nämlich in einer Theologie, die von der Philologie und von der Geschichtswissenschaft noch nichts wissen wollte. Sie kannte einen Kanon, an dem sich die Lehrlinge schulen konnten, indem sie abschrieben und auswendig lernten. Aber die Theologie gab, unsicher geworden, das Prinzip der Wörtlichkeit auf, um der ursprünglichen, der dem Evangelium am meisten verpflichteten Gestalt der Überlieferung nachzuspüren. Die philologisch und historisch gewordene Theologie ist eine unendliche Prüfung. Sie will wissen, in welchen Schriften und auf welche Weise Gott in der Geschichte tatsächlich zu seinem Volk sprach. Und weil dies eine unendliche Aufgabe ist, schreibt sie immerfort neue Schöpfungsberichte - und ihre Nachfolgerin im Kreis der Wissenschaften, die Philologie, hat sie darin noch übertroffen. In jedem dieser Schöpfungsberichte wird nun von dem Riss erzählt, der einst die Welt in Sinn und Verblendung teilte. Diesen Riss wieder zusammenzufügen ist das höchste Ideal der wissenschaftlichen Arbeit. Man mag es für eine intellektuell gewordene Vorstellung von Erlösung halten.
Die Geschichte des Kanons ist keine Antwort auf die Frage, warum es ihn überhaupt gibt. Und schon gar nicht lässt sich aus ihr der Anspruch künftiger Geltung begründen. Manfred Fuhrmann kündigt im Laufe seines Werkes zwar immer wieder an, über die "literarische Ignoranz" und die "möglichen Hauptursachen dieser Misere" reden zu wollen, er gibt sich als Anhänger einer verlorenen Sache zu erkennen. Aber er ergreift nicht ihre Partei. Seine Geschichte des Kanons ist ein Ausweichen, ein planvolles Verfehlen. Seltsam unsicher kommt das Buch daher. Schon die Überschrift "Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters" klingt, als habe man den Titel des Buches weggelassen und ihm nur den Untertitel aufgedruckt. Immer wieder blitzen Erinnerungen an die persönliche Geschichte des Verfassers auf, an das Gymnasium in Detmold zum Beispiel, das sogar mit einem Bild verewigt ist. Aber so persönlich sich dieses Buch gibt, so eigentümlich unentschlossen und leidenschaftslos ist es dennoch geschrieben. Bis zum Schluss bleibt seine Entstehung aus dem Manuskript einer Vorlesung offensichtlich, bei der dem Verfasser das Thema gesetzt war.
Manfred Fuhrmann hatte, wie er erklärt, die Geschichte des "Gesamtphänomens Bürgerliche Bildung in Europa" im Sinn. Tatsächlich bietet dieses Werk kaum mehr als eine chronologische Aufzählung von Themen und Gegenständen der Bildung, von der Antike bis zum Ende des absolutistischen Zeitalters, von der Literatur bis zur Mathematik und den Naturwissenschaften. "Wenn der dramatische Kanon mit Shakespeare und Lope de Vega beginnt, sich also über ungefähr vier Jahrhunderte erstreckt, dann ist der musikalische noch stärker eingeschränkt", heißt es zum Beispiel. Das ist nicht falsch, aber es erklärt wenig. Und manchmal fällt Fuhrmann Urteile, die gerade in einer notwendig verkürzten Darstellung den Verdacht erwecken, hinter dem "äußeren Anlaß", dem sich dieses Buch verdanke, verberge sich auch ein persönliches Ressentiment.
"Der besondere Ehrgeiz der Philologen galt kritischen Editionen", heißt es zum Beispiel über das neunzehnte Jahrhundert, "und die Literaturgeschichtsschreibung, von den Brüdern Schlegel noch kühn und souverän betrieben, verlor sich im positivistischen Detail." Abgründig ist hier das "und", mit dem Philologie und Weltverlust unmittelbar zusammengeschlossen werden. Gehören nicht die großen Editionen zu den Fundamenten der modernen Geisteswissenschaften? Wo, wenn nicht hier, ist der Kanon zur Produktivkraft geworden? Oder paktiert hier ein berühmter Philologe mit dem Vorwurf der praktischen Menschen, Bildung habe einen fatalen Hang zum Unnützen?
Manfred Fuhrmann ist ein Aristokrat der Bildung, der den Untergang inszeniert, um den Abstand zwischen sich selbst und dem banalen Rest der Welt wachsen zu lassen. Aber es gibt in seinem Buch eine Disproportion zwischen der historiographischen Methode und ihrem Gegenstand. Denn der Kanon darf nicht mit dem historischen Bewusstsein in Berührung kommen. Es ist für ihn die Furie des Verschwindens. Mit der Behauptung, jene Werke zu repräsentieren, aus denen privilegierter Sinn spricht, kann er nicht anders - er muss auf das Überzeitliche zielen. Jede historische und hermeneutische Wissenschaft lebt in der Spannung, in kanonischen Werken nach einer überzeitlichen Bedeutung zu suchen, die sie im Fortschreiten der Arbeit immer weiter in ihre Bedingtheiten auflöst.
Manfred Fuhrmann entgeht diesem Dilemma nicht. Das ist unvermeidlich. Seltsam aber ist, dass der philologisch hochgebildete Autor seinem Publikum so wenig Einblicke in das Prekäre seiner Lage gibt. Man kann es auch so sagen: Wie der moderne Klassizismus bei Winckelmann aus der Einsicht in das uneinholbare Ferngerücktsein der Antike entstand, so gibt es den modernen, nach-theologischen Begriff des Kanons nur als das Paradox der Behauptung eines säkularen Ewigen in einer insgesamt transitorisch verfassten Welt. Winckelmanns Bild der Antike ist durch die historisch-kritische Methode zwar revidierbar, aber dennoch bleibt dieses Bild "unvergänglich". Denn der ästhetische Enthusiasmus überbrückte in seinen Statuenbeschreibungen den Abgrund der Geschichte und holte die verlorene Antike zurück. Wer heute um den Kanon trauert, ohne glaubhaft diese Sprache des Enthusiasmus zu sprechen, der wird es nur zur Sorge des Hausvaters um das Erbe bringen.
Der Kanon, so wird gern gespottet, bestehe heute hauptsächlich in der Klage über seinen Verlust. Diese Klage ist die moderne Variante der alten Hoffnung, in den großen Werke der Literatur einen einzigartigen Zugang zu den grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz zu finden. Um dieser Hoffnung willen gibt es "Anwälte der Literatur", Präzeptoren des gemeinsamen Bekenntnisses zur Dichtung. Sie sind selten geworden und kaum noch in der Wissenschaft zu Hause. Manfred Fuhrmann ist ein zweifelnder Spätling in diesem Kreis, der heute hauptsächlich von der Literaturkritik, vom Feuilleton gebildet wird, das immer wieder neue Listen der hundert oder tausend ewigen Bücher erstellt.
Beides, die Geschichte des Kanons wie auch das feuilletonistische Interesse am Kult der großen Werke würde es nicht geben, wenn es nicht von einem weit verbreiteten Ungenügen getragen wäre. Beides setzt eine Sehnsucht nach dem Kanon voraus, die offenbar über sich selbst gar keine Auskunft zu geben vermag. Diese Sehnsucht ist sonderbar, denn das Publikum leidet ja keine intellektuelle Not - ein jeder kann in die Buchhandlung gehen und sich fast jedes beliebige Werk, gleich welchen Alters, beschaffen lassen. Nicht der Mangel ist das Problem, nicht der verlorene Kanon, sondern die Unsicherheit. Der Kanon ist nicht geschrumpft, sondern hat seine harten Grenzen verloren. Diesem Umstand soll mit den Listen und Enzyklopädien abgeholfen werden. Aber dem Problem entkommt man damit nicht.
Denn mit der Liste stellt sich eine Debatte ein: Diskutiert wird über die Frage, welche Werke in das Verzeichnis der niemals zu vergessenden und immer wieder neu zu lesenden Werke gehören. Und so selbstvergessen pflegt dieser Streit geführt zu werden, dass sich nie der fatale Zweifel einstellt, es gebe das ewige Korpus womöglich ohnehin nur in Gestalt eines ebenso endlosen Streits um Zuordnungen. William Shakespeares Dramen dürfen hinein, aber manchmal nicht Flauberts Romane, Friedrich Hölderlin gehörte lange Zeit nicht dazu, und Georg Weerth, den die Germanistik der siebziger Jahre in den Kanon aufgenommen hatte, muss immer wieder der Vergessenheit entrissen werden. Aus diesem dauernden Wandel müsste man einen Schluss ziehen. Der Kanon ist gerade nicht das Selbstverständliche, das sich verlässlich als Objekt der Sorge oder Rebellion empfiehlt. Er ist das absolut Unwahrscheinliche, das in immer neuen Gestalten die modernen Gesellschaften als Phantasma eines kulturellen Kristallisationskernes begleitet.
Darum beweist er seine Macht nicht dadurch, dass alle Gebildeten lesen, was er ihnen aufgibt. Er macht vielmehr das Gelesene dem Nicht-Gelesenen tributpflichtig und verwandelt nicht selten das herbeizitierte Buch, das man vom Hörensagen kennt, in eines, das man tatsächlich gelesen hat. Die deutsche Verdrossenheit an der Bildung sei, so erklärt Manfred Fuhrmann, darauf zurückzuführen, "daß die Literatur in Deutschland weniger tief verwurzelt ist als in England und den romanischen Ländern". Es wird schwer fallen, ein solches Urteil zu begründen, und es mündet in eine Kritik der Schule. "Von den zwei Hauptbastionen des bürgerlichen Kanons, dem ,kultivierten Elternhaus' und dem humanistischen Gymnasium, sind heute nur noch Reste übrig", stellt Manfred Fuhrmann fest. Tatsächlich hat die Schule einen großen Teil des kulturellen Kanons preisgegeben. Oder hat sie ihn preisgeben müssen? Manfred Fuhrmann bricht seine Geschichte der bürgerlichen Bildung jedenfalls am Punkt ihrer "völligen Entfaltung" ab - froh darüber, noch auf ein Gymnasium im alten Stil gegangen zu sein, nicht willens, die Bedingungen der modernen Zeit überhaupt zu diskutieren.
Doch gehört auch dies zur Geschichte des Kanons: Vor dreißig und erst recht vor siebzig oder hundert Jahren war ein Studium, gleich welcher Art, noch nicht der unsichere Weg in die unsichere Karriere, der er heute ist. Es war vielmehr der erste Teil einer Laufbahn. Der Student wurde nicht erst - er war bereits ein Mitglied der beruflichen Elite. Aber das Verschwinden dieser Kultur ist nicht Grund, sondern selbst Symptom: Durch die Ausweitung der höheren Bildung, durch die Vergrößerung und Vervielfältigung der universitären Lehre wurde eine Freiheit, die noch nicht den Notwendigkeiten des Erwerbslebens unterstellt war, demokratisiert, und damit löste sich für alle das gewohnte Verhältnis zwischen intellektuellem Aufwand und beruflichem Ertrag auf. Damit aber gingen die Voraussetzungen für ein freies Interesse an jeder Art von Bildung - und das philosophische und künstlerische vor allen anderen - offenbar ein für allemal verloren. Den Keim dieses Verlustes trug sie allerdings von vornherein in sich.
In welchen Werken aber ist Hoffnung? Die heiligen Schriften berichten vom Erscheinen Gottes in der Welt. Die Schriften der Literatur berichten von diesem und jenem und wollen trotzdem als Werke einer höheren Menschlichkeit ernst genommen sein. In jedem Fall sind es viel zu viele, als dass man sie überhaupt alle zur Kenntnis nehmen, geschweige denn würdigen könnte. Welche man aus diesem gewaltigen Korpus nun gelten läßt und welche nicht, kann daher nicht allein durch den Text entschieden werden. Tatsächlich wird der Kanon historisch bestimmt und hat sein Maß an der Brauchbarkeit für einen Zweck, der ihm vorausgesetzt wird. Der Kanon, so läßt sich sagen, entsteht in der Schule und für die Schule.
Der Kanon kennt, kaum dass er auf philologische Verhältnisse trifft, nur noch eine Form der Existenz, nämlich den Streit um ideelle Zuordnungen. Wie sehr dabei der Maßstab der Brauchbarkeit nach wie vor zum Tragen kommt, läßt sich zum Beispiel daran erkennen, dass die Germanistik in den Vereinigten Staaten die Ausweitung des Kanons im Heimatland der deutschen Philologie, andernorts auch gerne "Erweiterung des Kulturbegriffs" genannt, nur spät und in Teilen hat übernehmen wollen. In Frankreich liegen die Vorlieben anders, also etwa bei Heinrich Heine, und wer Ariost war, hat das neunzehnte Jahrhundert auswendig gewusst, während wir uns daran über Gustave Dorés Illustrationen zum "Rasenden Roland" erinnern müssen.
Eine übervolle, alte Bibliothek prangt auf dem Umschlag der "Bildung", dem dicken Buch von Dietrich Schwanitz, das sich anheischig macht, mit einem Schlag alle Bildungslücken zu beheben: "Alles, was man wissen muss", lautet der Untertitel. Es ist kein historisches, sondern ein dogmatisches Werk, eines, das ernst machen will mit dem Bedürfnis nach einem Kanon, aber so leicht, so entgegenkommend, so freundlich, dass hier niemand ein schlechtes Gewissen angesichts eines ungelesenen Buches haben muss: "Man muß allen weihevollen Zinnober, alle Imponiereffekte und allen Begriffsnebel beiseite räumen", erklärt Dietrich Schwanitz. Er will dem Volk, dem einfachen, die Schwellenangst vor der großen Bildung nehmen, und zu diesem Zweck bemalt er die Schwelle in bunten Farben, auf dass das Volk freudig und entzückt davorstehe und die Schwelle überwinde. Ein solcher Versuch wird, das sei hier versprochen, in einer herben Enttäuschung enden.
Dietrich Schwanitz hat angeblich nicht für die Gebildeten geschrieben, er hat ein Verzeichnis der ungelesenen Bücher, der ungehörten Musik, der ungesehenen Bilder. verfasst, ein Buch der ungestillten Sehnsucht nach Bildung. Dabei ist er einem Irrtum erlegen, und zwar doppelt. Zum einen trifft es nicht zu, und es war auch nie so, dass der Kanon aus gelesenen Büchern besteht. Im Gegenteil: Er hat schon immer zu einem großen Teil aus Werken bestanden, die man nur vom Hörensagen kannte. "Zur Lektüre gehört, daß sie ihr Gelingen simuliert", hat vor kurzem der Germanist Heinz Schlaffer in einem Aufsatz über "Diesseits und jenseits der Lektüre" erklärt. Der Kanon ist eine Referenz, und er ist selbst dann mit Bedeutung beladen, wenn man ihn nicht gut kennt und braucht. Und Bildung ist viel mehr eine Frage des kulturellen Bewusstseins als einzelner Kenntnisse - und diesen Rang muss Schwanitz verfehlen, wenn er auf das Bedürfnis nach Bildung mit einem knappen, flapsigen Konversationslexikon reagiert.
Das andere Irrtum besteht darin, dass Schwanitz sich zum Anwalt der schweigenden, ungebildeten Mehrheit macht. Er will das eine Buch geschrieben haben, das aus der Reihe tritt, das Hilfe leistet auf dem Weg zu einem erfüllteren Leben, und dabei schreckt er vor praktischen Ratschlägen nicht zurück "Der Diskurs der Kunst ist für den Bildungsbeflissenen am leichtesten zu erlernen. Man schweigt", heißt es zum Beispiel, oder: "Was bei uns übertrieben klingen würde, ist in Frankreich normal. Das liegt an einer unterschiedlichen Einstellung zur Theatralik."
Aber braucht das Publikum solche Ratschläge? Wer immer dieses Buch kauft, dürfte schon einige Bücher haben, und dann wäre es sinnlos, ihm mit kleinen Handreichungen unter die Arme zu greifen. Jedem anderen aber kann auch dieses Buch gleichgültig sein sein. Und so kann dieser Unterricht nur dort auf fruchtbaren Boden fallen, wo es weniger um Belehrung als um Bestätigung geht. Dietrich Schwanitz wurde mit einer Kolportage aus der akademischen Welt berühmt. Dem Verfahren ist er treu geblieben: Seine kleine Enzyklopädie des kulturellen Wissens besteht in einer Kolportage von Bildung, und das schließt eine große Zahl von Fehlern und Versehen, von falschen Daten, falschen Titeln sowie irreführenden Namen ein.
Bildung", so meint Dietrich Schwanitz, sei "der Stil der Kommunikation, durch die Verständigung zwischen Menschen zum Genuss wird". Auch dieses Versprechen ist, auf einen volkstümlichen Materialismus reduziert, eine Erlösungsphantasie: eine Sprache für das Leben und den Sinn zu finden. Diese Phantasie treibt das große Gerede um den Kanon voran. Weil dieses Bedürfnis jenseits der Dichtung, der Kritik und der Philologie nicht sehr verbreitet ist, tritt es als Forderung an den Rest der Welt auf. Und weil sich die Welt dieser Forderung nicht zu fügen pflegt, entdeckt dieses Bedürfnis überall die "Krise". Sie ist in Wirklichkeit eine Forderung an das praktische Leben, und dessen Zustand ist immer unerfreulich. Denn einem solchen Bedürfnis nach Einheit, dessen einzige Repräsentanten die Anwälte der Kultur selber sind, ist keine intellektuelle Anstrengung gewachsen.
Dietrich Schwanitz will Bildung für alle. So etwas hat es früher nicht gegeben und wird es auch in Zukunft nicht geben. Manfred Fuhrmann erinnert mit gutem Grund daran, dass Bildung ein Vorbehalt gegen das praktische Leben ist - und gegen die leichte Unterhaltung: Die "bürgerliche Bildung" habe, wie er erklärt, "jedenfalls in Deutschland schon um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihren politischen, freiheitlichen, ,jakobinischen' Impetus eingebüßt." Das wird so früh nicht gewesen sein, aber dennoch: Bildung ist, wie der Schriftsteller Robert Menasse in seiner "Phänomenologie der Entgeisterung" von 1995 erklärte, "ein von der wissenschaftlichen Anschauung der Welt abgeleitetes, aber mit ihr nicht identisches Bewußtsein, weil es wesentlich die Differenz zu ihr und ihr Defizit weiß". Bildung trug einen Stachel in sich, der sich gegen die Billigung des Lebens, so wie es ist, richtete. Wo es, wie Dietrich Schwanitz erklärt, nur darum gehen soll, das "Leben durch den Zugang zu unserem kulturellen Wissen zu bereichern", ist dieser Stachel ebenso verloren wie in der Historiographie des europäischen Bildungskanons.
Zwei Bücher reden von Bildung, zwei Bücher beschwören sie. Keines von beiden besteht selbst in Bildung. Wo das eine in die Geschichte ausweicht, kultiviert das andere eine erschlichene Begeisterung. Daraus kann man einen Schluss ziehen: Der Kanon muss, wenn es darauf ankommt, so etwas wie der Zauberwald im Märchen sein. Die meisten finden ihn nicht und können ihn auch gar nicht finden. Andere finden ihn, gehen aber lieber drum herum. Und selbst bei denen, die ihn finden und finden wollen, ist es nicht sicher, ob sich die ersehnten Abenteuer tatsächlich einstellen. Den Kanon gibt es nur in Extremen: Man kann ihn vergessen, verwässern oder verbrennen. Oder man muss fromm sein.
Manfred Fuhrmann: "Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters". Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 1999. 219 S., Abb., geb., 39,80 DM.
Dietrich Schwanitz: "Bildung". Alles, was man wissen muß. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 554 S., Abb., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schon der verstorbene Shakespeare schrieb so viel, dass man ihn nie ausliest: Trotzdem treten Manfred Fuhrmann und Dietrich Schwanitz als neue Kanoniker auf / Von Thomas Steinfeld
Vor etwas mehr als zehn Jahren hatte der Schlagersänger Jürgen von der Lippe großen Erfolg mit einem sehr albernen Lied: "Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da", lautete der Refrain, "habt ihr auch so gut geschlafen, na, dann ist ja alles klar." Gewiss, hier entkriecht der Ohrwurm den Niederungen des Kalauers. Aber der studierte Germanist von der Lippe hat mit seinem Liedchen die ideale Erkennungsmelodie für die periodisch aufflammenden Diskussionen über den Kanon geschaffen. Denn wenn er ins Tageslicht der Öffentlichkeit gerät, dann stets als Gegenstand einer verlässlich wiederkehrenden Sorge, an die man sich längst gewöhnt hat. Der Refrain in jenem Klagelied, das seinen Verlust betrauert, ist längst zum Ohrwurm geworden. Es ist nur zum Schein mit der Resignation im Bunde. In Wahrheit ist es ein Wecklied.
Wer sich auf die Seite des verlorenen Kanons stellt, kann offenbar gar nicht auf dem falschen Fuß aufgestanden sein, und das gilt in diesem Herbst besonders für zwei deutsche Professoren, die sich mit je einem Buch entschlossen auf die Seite der großen Werke geschlagen haben. Da gibt es den Hamburger Anglisten Dietrich Schwanitz. Er ist ein Muntermacher, der sich in den Romanen "Der Campus" und "Der Zirkel" als Klatschbase aus dem akademischen Leben interessant machte. Nun macht er in kongenialem Schulterschluss mit dem Germanisten von der Lippe der Sorge um den Kanon den Garaus, indem er sich einen leicht fasslichen Reim auf sie macht. Freundlich lächelnd bietet er sein Buch als verlässliches Magazin all dessen dar, was man zu einer ordentlichen literarischen Bildung derzeit braucht.
Und da gibt es den Altphilologen Manfred Fuhrmann, einen anerkannten "Gelehrten" in der akademischen Welt, der ein Buch über die Geschichte des "bürgerlichen Bildungskanons" geschrieben hat. Darin erstrahlen die munteren Sorgen vor historisch vergoldetem Grund. Hier herrscht der verhaltene Ton der Elegie, ja auf manchen Seiten der des Nachrufs. Der Autor umkreist die Leerstelle, von der er bedauernd feststellt, dass dort einmal der Kanon war. und am Ende verschwindet der normative, anmaßende Begriff einer Autorität, die von sich behauptete, dauerhafter zu sein als Erz, im Mahlstrom des historischen Denkens.
Es ist kein Zufall, dass die modernen Philologen, wenn das Sorgenlied vom Kanon ertönt, immer wieder auf zwei Leitmotive zurückkommen: auf die Leseliste und den horror vacui. Denn den richtigen, den eigentlichen Kanon gibt es nur in der Theologie - oder besser: es gab ihn, nämlich in einer Theologie, die von der Philologie und von der Geschichtswissenschaft noch nichts wissen wollte. Sie kannte einen Kanon, an dem sich die Lehrlinge schulen konnten, indem sie abschrieben und auswendig lernten. Aber die Theologie gab, unsicher geworden, das Prinzip der Wörtlichkeit auf, um der ursprünglichen, der dem Evangelium am meisten verpflichteten Gestalt der Überlieferung nachzuspüren. Die philologisch und historisch gewordene Theologie ist eine unendliche Prüfung. Sie will wissen, in welchen Schriften und auf welche Weise Gott in der Geschichte tatsächlich zu seinem Volk sprach. Und weil dies eine unendliche Aufgabe ist, schreibt sie immerfort neue Schöpfungsberichte - und ihre Nachfolgerin im Kreis der Wissenschaften, die Philologie, hat sie darin noch übertroffen. In jedem dieser Schöpfungsberichte wird nun von dem Riss erzählt, der einst die Welt in Sinn und Verblendung teilte. Diesen Riss wieder zusammenzufügen ist das höchste Ideal der wissenschaftlichen Arbeit. Man mag es für eine intellektuell gewordene Vorstellung von Erlösung halten.
Die Geschichte des Kanons ist keine Antwort auf die Frage, warum es ihn überhaupt gibt. Und schon gar nicht lässt sich aus ihr der Anspruch künftiger Geltung begründen. Manfred Fuhrmann kündigt im Laufe seines Werkes zwar immer wieder an, über die "literarische Ignoranz" und die "möglichen Hauptursachen dieser Misere" reden zu wollen, er gibt sich als Anhänger einer verlorenen Sache zu erkennen. Aber er ergreift nicht ihre Partei. Seine Geschichte des Kanons ist ein Ausweichen, ein planvolles Verfehlen. Seltsam unsicher kommt das Buch daher. Schon die Überschrift "Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters" klingt, als habe man den Titel des Buches weggelassen und ihm nur den Untertitel aufgedruckt. Immer wieder blitzen Erinnerungen an die persönliche Geschichte des Verfassers auf, an das Gymnasium in Detmold zum Beispiel, das sogar mit einem Bild verewigt ist. Aber so persönlich sich dieses Buch gibt, so eigentümlich unentschlossen und leidenschaftslos ist es dennoch geschrieben. Bis zum Schluss bleibt seine Entstehung aus dem Manuskript einer Vorlesung offensichtlich, bei der dem Verfasser das Thema gesetzt war.
Manfred Fuhrmann hatte, wie er erklärt, die Geschichte des "Gesamtphänomens Bürgerliche Bildung in Europa" im Sinn. Tatsächlich bietet dieses Werk kaum mehr als eine chronologische Aufzählung von Themen und Gegenständen der Bildung, von der Antike bis zum Ende des absolutistischen Zeitalters, von der Literatur bis zur Mathematik und den Naturwissenschaften. "Wenn der dramatische Kanon mit Shakespeare und Lope de Vega beginnt, sich also über ungefähr vier Jahrhunderte erstreckt, dann ist der musikalische noch stärker eingeschränkt", heißt es zum Beispiel. Das ist nicht falsch, aber es erklärt wenig. Und manchmal fällt Fuhrmann Urteile, die gerade in einer notwendig verkürzten Darstellung den Verdacht erwecken, hinter dem "äußeren Anlaß", dem sich dieses Buch verdanke, verberge sich auch ein persönliches Ressentiment.
"Der besondere Ehrgeiz der Philologen galt kritischen Editionen", heißt es zum Beispiel über das neunzehnte Jahrhundert, "und die Literaturgeschichtsschreibung, von den Brüdern Schlegel noch kühn und souverän betrieben, verlor sich im positivistischen Detail." Abgründig ist hier das "und", mit dem Philologie und Weltverlust unmittelbar zusammengeschlossen werden. Gehören nicht die großen Editionen zu den Fundamenten der modernen Geisteswissenschaften? Wo, wenn nicht hier, ist der Kanon zur Produktivkraft geworden? Oder paktiert hier ein berühmter Philologe mit dem Vorwurf der praktischen Menschen, Bildung habe einen fatalen Hang zum Unnützen?
Manfred Fuhrmann ist ein Aristokrat der Bildung, der den Untergang inszeniert, um den Abstand zwischen sich selbst und dem banalen Rest der Welt wachsen zu lassen. Aber es gibt in seinem Buch eine Disproportion zwischen der historiographischen Methode und ihrem Gegenstand. Denn der Kanon darf nicht mit dem historischen Bewusstsein in Berührung kommen. Es ist für ihn die Furie des Verschwindens. Mit der Behauptung, jene Werke zu repräsentieren, aus denen privilegierter Sinn spricht, kann er nicht anders - er muss auf das Überzeitliche zielen. Jede historische und hermeneutische Wissenschaft lebt in der Spannung, in kanonischen Werken nach einer überzeitlichen Bedeutung zu suchen, die sie im Fortschreiten der Arbeit immer weiter in ihre Bedingtheiten auflöst.
Manfred Fuhrmann entgeht diesem Dilemma nicht. Das ist unvermeidlich. Seltsam aber ist, dass der philologisch hochgebildete Autor seinem Publikum so wenig Einblicke in das Prekäre seiner Lage gibt. Man kann es auch so sagen: Wie der moderne Klassizismus bei Winckelmann aus der Einsicht in das uneinholbare Ferngerücktsein der Antike entstand, so gibt es den modernen, nach-theologischen Begriff des Kanons nur als das Paradox der Behauptung eines säkularen Ewigen in einer insgesamt transitorisch verfassten Welt. Winckelmanns Bild der Antike ist durch die historisch-kritische Methode zwar revidierbar, aber dennoch bleibt dieses Bild "unvergänglich". Denn der ästhetische Enthusiasmus überbrückte in seinen Statuenbeschreibungen den Abgrund der Geschichte und holte die verlorene Antike zurück. Wer heute um den Kanon trauert, ohne glaubhaft diese Sprache des Enthusiasmus zu sprechen, der wird es nur zur Sorge des Hausvaters um das Erbe bringen.
Der Kanon, so wird gern gespottet, bestehe heute hauptsächlich in der Klage über seinen Verlust. Diese Klage ist die moderne Variante der alten Hoffnung, in den großen Werke der Literatur einen einzigartigen Zugang zu den grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz zu finden. Um dieser Hoffnung willen gibt es "Anwälte der Literatur", Präzeptoren des gemeinsamen Bekenntnisses zur Dichtung. Sie sind selten geworden und kaum noch in der Wissenschaft zu Hause. Manfred Fuhrmann ist ein zweifelnder Spätling in diesem Kreis, der heute hauptsächlich von der Literaturkritik, vom Feuilleton gebildet wird, das immer wieder neue Listen der hundert oder tausend ewigen Bücher erstellt.
Beides, die Geschichte des Kanons wie auch das feuilletonistische Interesse am Kult der großen Werke würde es nicht geben, wenn es nicht von einem weit verbreiteten Ungenügen getragen wäre. Beides setzt eine Sehnsucht nach dem Kanon voraus, die offenbar über sich selbst gar keine Auskunft zu geben vermag. Diese Sehnsucht ist sonderbar, denn das Publikum leidet ja keine intellektuelle Not - ein jeder kann in die Buchhandlung gehen und sich fast jedes beliebige Werk, gleich welchen Alters, beschaffen lassen. Nicht der Mangel ist das Problem, nicht der verlorene Kanon, sondern die Unsicherheit. Der Kanon ist nicht geschrumpft, sondern hat seine harten Grenzen verloren. Diesem Umstand soll mit den Listen und Enzyklopädien abgeholfen werden. Aber dem Problem entkommt man damit nicht.
Denn mit der Liste stellt sich eine Debatte ein: Diskutiert wird über die Frage, welche Werke in das Verzeichnis der niemals zu vergessenden und immer wieder neu zu lesenden Werke gehören. Und so selbstvergessen pflegt dieser Streit geführt zu werden, dass sich nie der fatale Zweifel einstellt, es gebe das ewige Korpus womöglich ohnehin nur in Gestalt eines ebenso endlosen Streits um Zuordnungen. William Shakespeares Dramen dürfen hinein, aber manchmal nicht Flauberts Romane, Friedrich Hölderlin gehörte lange Zeit nicht dazu, und Georg Weerth, den die Germanistik der siebziger Jahre in den Kanon aufgenommen hatte, muss immer wieder der Vergessenheit entrissen werden. Aus diesem dauernden Wandel müsste man einen Schluss ziehen. Der Kanon ist gerade nicht das Selbstverständliche, das sich verlässlich als Objekt der Sorge oder Rebellion empfiehlt. Er ist das absolut Unwahrscheinliche, das in immer neuen Gestalten die modernen Gesellschaften als Phantasma eines kulturellen Kristallisationskernes begleitet.
Darum beweist er seine Macht nicht dadurch, dass alle Gebildeten lesen, was er ihnen aufgibt. Er macht vielmehr das Gelesene dem Nicht-Gelesenen tributpflichtig und verwandelt nicht selten das herbeizitierte Buch, das man vom Hörensagen kennt, in eines, das man tatsächlich gelesen hat. Die deutsche Verdrossenheit an der Bildung sei, so erklärt Manfred Fuhrmann, darauf zurückzuführen, "daß die Literatur in Deutschland weniger tief verwurzelt ist als in England und den romanischen Ländern". Es wird schwer fallen, ein solches Urteil zu begründen, und es mündet in eine Kritik der Schule. "Von den zwei Hauptbastionen des bürgerlichen Kanons, dem ,kultivierten Elternhaus' und dem humanistischen Gymnasium, sind heute nur noch Reste übrig", stellt Manfred Fuhrmann fest. Tatsächlich hat die Schule einen großen Teil des kulturellen Kanons preisgegeben. Oder hat sie ihn preisgeben müssen? Manfred Fuhrmann bricht seine Geschichte der bürgerlichen Bildung jedenfalls am Punkt ihrer "völligen Entfaltung" ab - froh darüber, noch auf ein Gymnasium im alten Stil gegangen zu sein, nicht willens, die Bedingungen der modernen Zeit überhaupt zu diskutieren.
Doch gehört auch dies zur Geschichte des Kanons: Vor dreißig und erst recht vor siebzig oder hundert Jahren war ein Studium, gleich welcher Art, noch nicht der unsichere Weg in die unsichere Karriere, der er heute ist. Es war vielmehr der erste Teil einer Laufbahn. Der Student wurde nicht erst - er war bereits ein Mitglied der beruflichen Elite. Aber das Verschwinden dieser Kultur ist nicht Grund, sondern selbst Symptom: Durch die Ausweitung der höheren Bildung, durch die Vergrößerung und Vervielfältigung der universitären Lehre wurde eine Freiheit, die noch nicht den Notwendigkeiten des Erwerbslebens unterstellt war, demokratisiert, und damit löste sich für alle das gewohnte Verhältnis zwischen intellektuellem Aufwand und beruflichem Ertrag auf. Damit aber gingen die Voraussetzungen für ein freies Interesse an jeder Art von Bildung - und das philosophische und künstlerische vor allen anderen - offenbar ein für allemal verloren. Den Keim dieses Verlustes trug sie allerdings von vornherein in sich.
In welchen Werken aber ist Hoffnung? Die heiligen Schriften berichten vom Erscheinen Gottes in der Welt. Die Schriften der Literatur berichten von diesem und jenem und wollen trotzdem als Werke einer höheren Menschlichkeit ernst genommen sein. In jedem Fall sind es viel zu viele, als dass man sie überhaupt alle zur Kenntnis nehmen, geschweige denn würdigen könnte. Welche man aus diesem gewaltigen Korpus nun gelten läßt und welche nicht, kann daher nicht allein durch den Text entschieden werden. Tatsächlich wird der Kanon historisch bestimmt und hat sein Maß an der Brauchbarkeit für einen Zweck, der ihm vorausgesetzt wird. Der Kanon, so läßt sich sagen, entsteht in der Schule und für die Schule.
Der Kanon kennt, kaum dass er auf philologische Verhältnisse trifft, nur noch eine Form der Existenz, nämlich den Streit um ideelle Zuordnungen. Wie sehr dabei der Maßstab der Brauchbarkeit nach wie vor zum Tragen kommt, läßt sich zum Beispiel daran erkennen, dass die Germanistik in den Vereinigten Staaten die Ausweitung des Kanons im Heimatland der deutschen Philologie, andernorts auch gerne "Erweiterung des Kulturbegriffs" genannt, nur spät und in Teilen hat übernehmen wollen. In Frankreich liegen die Vorlieben anders, also etwa bei Heinrich Heine, und wer Ariost war, hat das neunzehnte Jahrhundert auswendig gewusst, während wir uns daran über Gustave Dorés Illustrationen zum "Rasenden Roland" erinnern müssen.
Eine übervolle, alte Bibliothek prangt auf dem Umschlag der "Bildung", dem dicken Buch von Dietrich Schwanitz, das sich anheischig macht, mit einem Schlag alle Bildungslücken zu beheben: "Alles, was man wissen muss", lautet der Untertitel. Es ist kein historisches, sondern ein dogmatisches Werk, eines, das ernst machen will mit dem Bedürfnis nach einem Kanon, aber so leicht, so entgegenkommend, so freundlich, dass hier niemand ein schlechtes Gewissen angesichts eines ungelesenen Buches haben muss: "Man muß allen weihevollen Zinnober, alle Imponiereffekte und allen Begriffsnebel beiseite räumen", erklärt Dietrich Schwanitz. Er will dem Volk, dem einfachen, die Schwellenangst vor der großen Bildung nehmen, und zu diesem Zweck bemalt er die Schwelle in bunten Farben, auf dass das Volk freudig und entzückt davorstehe und die Schwelle überwinde. Ein solcher Versuch wird, das sei hier versprochen, in einer herben Enttäuschung enden.
Dietrich Schwanitz hat angeblich nicht für die Gebildeten geschrieben, er hat ein Verzeichnis der ungelesenen Bücher, der ungehörten Musik, der ungesehenen Bilder. verfasst, ein Buch der ungestillten Sehnsucht nach Bildung. Dabei ist er einem Irrtum erlegen, und zwar doppelt. Zum einen trifft es nicht zu, und es war auch nie so, dass der Kanon aus gelesenen Büchern besteht. Im Gegenteil: Er hat schon immer zu einem großen Teil aus Werken bestanden, die man nur vom Hörensagen kannte. "Zur Lektüre gehört, daß sie ihr Gelingen simuliert", hat vor kurzem der Germanist Heinz Schlaffer in einem Aufsatz über "Diesseits und jenseits der Lektüre" erklärt. Der Kanon ist eine Referenz, und er ist selbst dann mit Bedeutung beladen, wenn man ihn nicht gut kennt und braucht. Und Bildung ist viel mehr eine Frage des kulturellen Bewusstseins als einzelner Kenntnisse - und diesen Rang muss Schwanitz verfehlen, wenn er auf das Bedürfnis nach Bildung mit einem knappen, flapsigen Konversationslexikon reagiert.
Das andere Irrtum besteht darin, dass Schwanitz sich zum Anwalt der schweigenden, ungebildeten Mehrheit macht. Er will das eine Buch geschrieben haben, das aus der Reihe tritt, das Hilfe leistet auf dem Weg zu einem erfüllteren Leben, und dabei schreckt er vor praktischen Ratschlägen nicht zurück "Der Diskurs der Kunst ist für den Bildungsbeflissenen am leichtesten zu erlernen. Man schweigt", heißt es zum Beispiel, oder: "Was bei uns übertrieben klingen würde, ist in Frankreich normal. Das liegt an einer unterschiedlichen Einstellung zur Theatralik."
Aber braucht das Publikum solche Ratschläge? Wer immer dieses Buch kauft, dürfte schon einige Bücher haben, und dann wäre es sinnlos, ihm mit kleinen Handreichungen unter die Arme zu greifen. Jedem anderen aber kann auch dieses Buch gleichgültig sein sein. Und so kann dieser Unterricht nur dort auf fruchtbaren Boden fallen, wo es weniger um Belehrung als um Bestätigung geht. Dietrich Schwanitz wurde mit einer Kolportage aus der akademischen Welt berühmt. Dem Verfahren ist er treu geblieben: Seine kleine Enzyklopädie des kulturellen Wissens besteht in einer Kolportage von Bildung, und das schließt eine große Zahl von Fehlern und Versehen, von falschen Daten, falschen Titeln sowie irreführenden Namen ein.
Bildung", so meint Dietrich Schwanitz, sei "der Stil der Kommunikation, durch die Verständigung zwischen Menschen zum Genuss wird". Auch dieses Versprechen ist, auf einen volkstümlichen Materialismus reduziert, eine Erlösungsphantasie: eine Sprache für das Leben und den Sinn zu finden. Diese Phantasie treibt das große Gerede um den Kanon voran. Weil dieses Bedürfnis jenseits der Dichtung, der Kritik und der Philologie nicht sehr verbreitet ist, tritt es als Forderung an den Rest der Welt auf. Und weil sich die Welt dieser Forderung nicht zu fügen pflegt, entdeckt dieses Bedürfnis überall die "Krise". Sie ist in Wirklichkeit eine Forderung an das praktische Leben, und dessen Zustand ist immer unerfreulich. Denn einem solchen Bedürfnis nach Einheit, dessen einzige Repräsentanten die Anwälte der Kultur selber sind, ist keine intellektuelle Anstrengung gewachsen.
Dietrich Schwanitz will Bildung für alle. So etwas hat es früher nicht gegeben und wird es auch in Zukunft nicht geben. Manfred Fuhrmann erinnert mit gutem Grund daran, dass Bildung ein Vorbehalt gegen das praktische Leben ist - und gegen die leichte Unterhaltung: Die "bürgerliche Bildung" habe, wie er erklärt, "jedenfalls in Deutschland schon um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihren politischen, freiheitlichen, ,jakobinischen' Impetus eingebüßt." Das wird so früh nicht gewesen sein, aber dennoch: Bildung ist, wie der Schriftsteller Robert Menasse in seiner "Phänomenologie der Entgeisterung" von 1995 erklärte, "ein von der wissenschaftlichen Anschauung der Welt abgeleitetes, aber mit ihr nicht identisches Bewußtsein, weil es wesentlich die Differenz zu ihr und ihr Defizit weiß". Bildung trug einen Stachel in sich, der sich gegen die Billigung des Lebens, so wie es ist, richtete. Wo es, wie Dietrich Schwanitz erklärt, nur darum gehen soll, das "Leben durch den Zugang zu unserem kulturellen Wissen zu bereichern", ist dieser Stachel ebenso verloren wie in der Historiographie des europäischen Bildungskanons.
Zwei Bücher reden von Bildung, zwei Bücher beschwören sie. Keines von beiden besteht selbst in Bildung. Wo das eine in die Geschichte ausweicht, kultiviert das andere eine erschlichene Begeisterung. Daraus kann man einen Schluss ziehen: Der Kanon muss, wenn es darauf ankommt, so etwas wie der Zauberwald im Märchen sein. Die meisten finden ihn nicht und können ihn auch gar nicht finden. Andere finden ihn, gehen aber lieber drum herum. Und selbst bei denen, die ihn finden und finden wollen, ist es nicht sicher, ob sich die ersehnten Abenteuer tatsächlich einstellen. Den Kanon gibt es nur in Extremen: Man kann ihn vergessen, verwässern oder verbrennen. Oder man muss fromm sein.
Manfred Fuhrmann: "Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters". Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 1999. 219 S., Abb., geb., 39,80 DM.
Dietrich Schwanitz: "Bildung". Alles, was man wissen muß. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 554 S., Abb., geb., 49,80 DM.
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"Wissen ist heute die wichtigste Ressource in unserem rohstoffarmen Land. Wissen können wir aber nur durch Bildung erschließen ... Es geht darum, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren und allen ein breites Grundwissen zu vermitteln..."
(Roman Herzog, Bundespräsident a.D.)
(Roman Herzog, Bundespräsident a.D.)