Sie packt die Kinder und flieht mit ihnen an den entlegensten Ort, der für sie ohne Pass erreichbar ist: Alaska. Die Reise in dem angemieteten, abgetakelten Wohnmobil durch die Wildnis rüttelt die Familie durcheinander. Der achtjährige Paul übernimmt die fürsorgliche Vaterrolle in der Familie, während die fünfjährige Ana Chaos und Zerstörung magisch anzieht. Was sich zunächst wie ein Abenteuerurlaub am Ende der Welt anfühlt, wird schnell zur verzweifelten Flucht, nicht zuletzt vor einem großflächigen Waldbrand. Josie kämpft unermüdlich gegen die imaginären sowie realen Geister ihrer Vergangenheit und schafft es jeden Tag aufs Neue, ihren Kindern und sich Zuversicht für die Zukunft zu geben.
Frankfurter Allgemeine ZeitungWeit, fremd und voller Verheißung
Der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers schickt die Heldin seines neuen Romans "Bis an die Grenze" auf einen Roadtrip durch Alaska
Im amerikanischen Kabelfernsehen läuft seit mehr als sechs Jahren eine erfolgreiche Reality-TV-Serie mit dem Namen "Alaska: The Last Frontier" (auf Deutsch: "Jenseits der Zivilisation"). In den bislang neunzig Episoden verfolgt der Zuschauer die Familie Kilcher bei ihrem aufregenden Leben ohne fließend Wasser und Heizung, ein Leben, in dem der Winter ein übermächtiger Gegner ist und umherstreifende Wölfe und Bären die Menschen nicht zum Fotoapparat greifen lassen, sondern in den Gewehrschrank. In Alaska leben ist angesagt im Fernsehen. Laut der Entertainment-Website Cinemablend wurden vor zwei Jahren um die zwanzig Reality-Fernsehserien im Frontier State gedreht, darunter Perlen wie "Alaskan Bush People", "Bering Sea Gold" und die Königskrabbensaga "Deadliest Catch". Der Frontier State ist vom Rest der Vereinigten Staaten isoliert und landschaftlich spektakulär, ein dünn besiedeltes Riesenreich, in dem man frei und selbstbestimmt leben kann wie zur Zeit der Pioniere.
Offenbar projizieren die Amerikaner ihren Freiheitsdrang umso mehr auf Alaska, je weiter sich die Kernstaaten von diesem Ideal entfernen. Viele Einwohner der Kernstaaten träumen Abend für Abend in ihren Fernsehsesseln vom Ausstieg aus der Zivilisation - auch wenn das Reality-TV nicht immer realistisch ist. "Viele Alaskaner wissen", schrieb eine Kolumnistin der "Alaskan Dispatch News", "dass die Farm der Kilchers eine kurze Fahrt von der Stadt Homer entfernt liegt. Sie können zu Safeway fahren und sich frittiertes Hähnchen mitnehmen, wenn sie wollen. Sie sind okay."
Auch Josie ist okay, jedenfalls für den Moment: Sie ist in Alaska und hat alles hinter sich gelassen bis auf ihre beiden Kinder und dreitausend Dollar Bargeld. Zu Beginn von Dave Eggers' neuem Roman "Bis an die Grenze" sitzt Josie auf dem Beifahrersitz eines gemieteten Wohnmobils, das auf einem Parkplatz der Kenai-Halbinsel steht, "umgeben von unbekannten Wäldern" und mit einem Rotweinschwipps. "Sie war zufrieden, obwohl sie wusste, dass es sich um eine flüchtige und künstliche Zufriedenheit handelte, wusste, dass alles falsch war - sie sollte nicht in Alaska sein, nicht so."
Josie ist keine gewöhnliche Touristin, sie ist auf der Flucht, auf der Flucht vor ihrem Leben in Ohio. Sie wäre davor sogar noch weiter geflohen als nach Alaska, doch nur eines ihrer beiden Kinder besitzt einen Pass, und um den anderen zu beantragen, braucht sie den Vater, ihren Exfreund Carl, einen in vieler Hinsicht nutzlosen Waschlappen. Es ist natürlich nicht Carl, sondern Dave Eggers, der ihr diesen Pass nicht geben will, denn Josies Geschichte kann nur hier spielen, in Amerika und doch nicht in Amerika, bekannt aus dem Fernsehen, aber verheißungsvoll weit und fremd. "Alaska war dasselbe Land und zugleich ein anderes Land, fast Russland, fast Vergessen, und solange Josie ihr Handy ausließ und nur Bargeld benutzte, . . . blieb sie unauffindbar, unaufspürbar . . . Sie war Pfadfinderin gewesen. Sie konnte einen Knoten binden, einen Fisch ausnehmen, Feuer machen. Alaska machte ihr keine Angst."
"Bis an die Grenze" ist ein Roman über Angst und Freiheit, vor allem aber ist er ein Roman über eine Frau. Aus Josies Perspektive erzählt Eggers auf fast 500 Seiten, so wie in seinem vorletzten Roman "Der Circle" aus dem der um die zwanzig Jahre jüngeren Mae Holland. Josie ist desillusionierter, abgeklärter und verletzter als Mae, aber auch viel aufmerksamer für die krummen Manöver der Menschen. Sie ist eine Mutter auf der Hut und hat den Blick einer Schriftstellerin: "Als sie jetzt auf der mit rosa Fischblut befleckten Promenade standen, war ein älterer Mann plötzlich zu nahe und sprach mit ihnen. ,Mögt ihr Kinder Zauberkunststücke?', fragte der Mann. Er wirkte irgendwie lüstern. Diese einsamen alten Männer, dachte Josie, mit ihren nassen Lippen und kleinen Augen, mit Hälsen, die kaum ihre schweren Köpfe voll mit ihren vielen Fehlern und Beerdigungen von Freunden tragen können. Alles, was diese Männer sagten, klang widerlich, und sie wussten es nicht einmal. Josie stupste Paul an. ,Antworte dem netten Mann.'"
Ihre Kinder Paul und Ana sind der Anlass für die Flucht. Josie fürchtet, dass ihr Exfreund ein Sorgerecht für sich und seine neue Frau erstreiten könnte. Ein Anruf versetzt sie in Panik. Kurz darauf ist sie in Alaska in einem gemieteten Wohnmobil, das sie ihr "Chateau" nennen, "eine sterbende Maschine" voller Küchengeräte und Besteck, das "rasselte wie die Ketten eines ruhelosen Gespenstes". Der ältere Sohn Paul ist erschreckend höflich, geduldig und verantwortungsbewusst, er fungiert als Ko-Erziehungsberechtigter für seine Schwester Ana, und den kann Josie auch gut brauchen: "Aus der Ferne ähnelte sie einer ständig betrunkenen Erwachsenen - stieß gegen Dinge, schrie Unverständliches, erfand Wörter. Man konnte sie weder auf Parkplätzen aus den Augen lassen noch in der Nähe von Steckdosen, von Öfen oder Glas oder Metall oder Treppen, Klippen, irgendwelchen Gewässern, jeder Art von Fahrzeugen oder Haustieren."
Josie wächst einem binnen weniger Kapitel ans Herz. Durch sie sehen wir Alaska und seine Bewohner, durch sie sehen wir Ana und Paul, die auf den Rücksitzen des Chateau durch das fremde Land kutschiert werden. So wie die Familien im Reality-TV können auch die drei Wohnmobiltrapper jederzeit auf die Infrastruktur der Zivilisation zurückgreifen. Von den Selbstversorgern aus "Jenseits der Zivilisation" sind Josie, Ana und Paul dennoch weit entfernt, sie stellen das Chateau auf Campingplätzen ab und angeln oder jagen nicht, sondern gehen essen. "Josie überschlug die Kosten grob und wusste, dass sie achtzig Dollar für ein Abendessen mit ihren zwei Kindern ausgeben würde, denen beiden völlig egal war, ob sie hier aßen oder Schlamm und Würmer aus flachen Löchern."
Auf Dauer geht das nicht gut, aber es gibt keine Dauer, es gibt vor allem das Jetzt, die Flucht. Die Reise durch das fremde Land hat lauter große Momente, die beiden Kinder sind phantastisch gestaltete Figuren. Doch Eggers will nicht nur Alaska erkunden, er will Josies ganze Geschichte erzählen. Er liebt es, sich über Hunderte Seiten hinweg die Biographien seiner Figuren auszudenken, und dann stehen sie fertig vor einem, und man weiß nicht, was man sie noch fragen sollte. Der 47-jährige Autor hat keinen Mut zur Lücke, jeden Erzählfaden, den er an einer Stelle aus der Hand gibt, wird er an einer anderen verlässlich aufklauben.
Emblem von Eggers' Verliebtheit ins Biographische ist die Zeitschrift, die er Josie in Momenten der Ruhe gern lesen lässt. Es sind alte Ausgaben von "Old West", die der Vermieter im Chateau gelassen hat und in denen Amerikaner unter der Rubrik "Verlorene Spuren" nach ihren Vorfahren fahnden. Welche herzzerreißende Vergeblichkeit, jemandem nachzuspüren, der seit einem halben Jahrhundert verschollen ist; welche Sehnsucht, sich als Zweig in einem Stammbaum zu sehen, die Anfänge zu kennen, die Lebenswege der Vorfahren.
Familie, das ist die schöne These des Romans, ist kostbar in einem Land, in dem Wurzellosigkeit die Regel ist, aber nicht als Ausweis von Alteingesessenheit und Privilegien. Man braucht dieses Wissen, um dem sinnlos wütenden Zufall eines individuellen Lebens einen tröstlichen Rahmen zu geben. Schadensersatzklagen, Krebs und Sorgerechtsstreits sind die Blitzschläge des modernen Amerikas. Aus heiterem Himmel treffen sie die modernen Hiobs, die es wagen, kein großes Vermögen zu haben. Die Familiengeschichte kann einem keiner nehmen.
Doch Josie weiß nichts über das Leben ihrer Vorfahren. "Selbst die schwermütigen Suchanfragen von ,Verlorene Spuren' machten sie traurig, neidisch. Sie war als Leerstelle geboren worden. Ihre Eltern waren Leerstellen . . . Sie waren von nirgendwo. Amerikaner sein bedeutet, eine Leerstelle zu sein, und ein echter Amerikaner ist eine echte Leerstelle. Somit war Josie alles in allem eine wahrhaft großartige Amerikanerin."
Das Chateau mit seinen dünnen Wänden wird zum Sinnbild für den kleinsten gemeinsamen Nenner, den letzten Ort, ohne Vergangenheit und Zukunft. Während Josie in präzis-absurd beschriebene Situationen mit Campingplatzbetreibern, Blockhüttenbesitzern und Waldbränden gerät und die Kinder an ihren gemeinsamen Abenteuern reifen, wird ihre Vergangenheit Schicht für Schicht enthüllt: ihre desolate Kindheit, ihr Aufwachsen bei einer Zahnärztin, die Lebenstragödie ihrer Eltern, Carl und ihre beiden eigenen Traumata, von denen eines zum Verlust ihrer Praxis führte und das andere zu nicht enden wollenden Schuldgefühlen. Eggers gestaltet diese Schicksale so, dass sie wie echt wirken, nämlich arbiträr und voller kruder Details, wie das Leben halt. Ihre Biographie soll uns verraten, wer Josie ist, warum sie so ist, wie sie ist, dabei verrät sie sich viel unmittelbarer durch das, was sie denkt und wie sie handelt, im Hier und Jetzt.
Die Routiniertheit, mit der Dave Eggers Josies Lebensgeschichte ausbreitet, ist gekonnt und insgesamt doch enttäuschend. Man muss nicht unbedingt wissen, was Josies Eltern den Job kostete und wer ihre Stiefschwester ist. Man liest es aber trotzdem, denn auch in diesen Momenten ist der Roman nicht schlecht: Er unterhält, er ist genau und funkelt irr. Und doch fragt man sich, was "Bis an die Grenze" hätte werden können, wenn Eggers, wie es in Roadmovies eigentlich üblich ist, öfter auf die Straße vor dem Chateau geblickt hätte und weniger oft zurück. Bis an die Grenze eben.
BORIS POFALLA
Dave Eggers: "Bis an die Grenze". Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, 496 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers schickt die Heldin seines neuen Romans "Bis an die Grenze" auf einen Roadtrip durch Alaska
Im amerikanischen Kabelfernsehen läuft seit mehr als sechs Jahren eine erfolgreiche Reality-TV-Serie mit dem Namen "Alaska: The Last Frontier" (auf Deutsch: "Jenseits der Zivilisation"). In den bislang neunzig Episoden verfolgt der Zuschauer die Familie Kilcher bei ihrem aufregenden Leben ohne fließend Wasser und Heizung, ein Leben, in dem der Winter ein übermächtiger Gegner ist und umherstreifende Wölfe und Bären die Menschen nicht zum Fotoapparat greifen lassen, sondern in den Gewehrschrank. In Alaska leben ist angesagt im Fernsehen. Laut der Entertainment-Website Cinemablend wurden vor zwei Jahren um die zwanzig Reality-Fernsehserien im Frontier State gedreht, darunter Perlen wie "Alaskan Bush People", "Bering Sea Gold" und die Königskrabbensaga "Deadliest Catch". Der Frontier State ist vom Rest der Vereinigten Staaten isoliert und landschaftlich spektakulär, ein dünn besiedeltes Riesenreich, in dem man frei und selbstbestimmt leben kann wie zur Zeit der Pioniere.
Offenbar projizieren die Amerikaner ihren Freiheitsdrang umso mehr auf Alaska, je weiter sich die Kernstaaten von diesem Ideal entfernen. Viele Einwohner der Kernstaaten träumen Abend für Abend in ihren Fernsehsesseln vom Ausstieg aus der Zivilisation - auch wenn das Reality-TV nicht immer realistisch ist. "Viele Alaskaner wissen", schrieb eine Kolumnistin der "Alaskan Dispatch News", "dass die Farm der Kilchers eine kurze Fahrt von der Stadt Homer entfernt liegt. Sie können zu Safeway fahren und sich frittiertes Hähnchen mitnehmen, wenn sie wollen. Sie sind okay."
Auch Josie ist okay, jedenfalls für den Moment: Sie ist in Alaska und hat alles hinter sich gelassen bis auf ihre beiden Kinder und dreitausend Dollar Bargeld. Zu Beginn von Dave Eggers' neuem Roman "Bis an die Grenze" sitzt Josie auf dem Beifahrersitz eines gemieteten Wohnmobils, das auf einem Parkplatz der Kenai-Halbinsel steht, "umgeben von unbekannten Wäldern" und mit einem Rotweinschwipps. "Sie war zufrieden, obwohl sie wusste, dass es sich um eine flüchtige und künstliche Zufriedenheit handelte, wusste, dass alles falsch war - sie sollte nicht in Alaska sein, nicht so."
Josie ist keine gewöhnliche Touristin, sie ist auf der Flucht, auf der Flucht vor ihrem Leben in Ohio. Sie wäre davor sogar noch weiter geflohen als nach Alaska, doch nur eines ihrer beiden Kinder besitzt einen Pass, und um den anderen zu beantragen, braucht sie den Vater, ihren Exfreund Carl, einen in vieler Hinsicht nutzlosen Waschlappen. Es ist natürlich nicht Carl, sondern Dave Eggers, der ihr diesen Pass nicht geben will, denn Josies Geschichte kann nur hier spielen, in Amerika und doch nicht in Amerika, bekannt aus dem Fernsehen, aber verheißungsvoll weit und fremd. "Alaska war dasselbe Land und zugleich ein anderes Land, fast Russland, fast Vergessen, und solange Josie ihr Handy ausließ und nur Bargeld benutzte, . . . blieb sie unauffindbar, unaufspürbar . . . Sie war Pfadfinderin gewesen. Sie konnte einen Knoten binden, einen Fisch ausnehmen, Feuer machen. Alaska machte ihr keine Angst."
"Bis an die Grenze" ist ein Roman über Angst und Freiheit, vor allem aber ist er ein Roman über eine Frau. Aus Josies Perspektive erzählt Eggers auf fast 500 Seiten, so wie in seinem vorletzten Roman "Der Circle" aus dem der um die zwanzig Jahre jüngeren Mae Holland. Josie ist desillusionierter, abgeklärter und verletzter als Mae, aber auch viel aufmerksamer für die krummen Manöver der Menschen. Sie ist eine Mutter auf der Hut und hat den Blick einer Schriftstellerin: "Als sie jetzt auf der mit rosa Fischblut befleckten Promenade standen, war ein älterer Mann plötzlich zu nahe und sprach mit ihnen. ,Mögt ihr Kinder Zauberkunststücke?', fragte der Mann. Er wirkte irgendwie lüstern. Diese einsamen alten Männer, dachte Josie, mit ihren nassen Lippen und kleinen Augen, mit Hälsen, die kaum ihre schweren Köpfe voll mit ihren vielen Fehlern und Beerdigungen von Freunden tragen können. Alles, was diese Männer sagten, klang widerlich, und sie wussten es nicht einmal. Josie stupste Paul an. ,Antworte dem netten Mann.'"
Ihre Kinder Paul und Ana sind der Anlass für die Flucht. Josie fürchtet, dass ihr Exfreund ein Sorgerecht für sich und seine neue Frau erstreiten könnte. Ein Anruf versetzt sie in Panik. Kurz darauf ist sie in Alaska in einem gemieteten Wohnmobil, das sie ihr "Chateau" nennen, "eine sterbende Maschine" voller Küchengeräte und Besteck, das "rasselte wie die Ketten eines ruhelosen Gespenstes". Der ältere Sohn Paul ist erschreckend höflich, geduldig und verantwortungsbewusst, er fungiert als Ko-Erziehungsberechtigter für seine Schwester Ana, und den kann Josie auch gut brauchen: "Aus der Ferne ähnelte sie einer ständig betrunkenen Erwachsenen - stieß gegen Dinge, schrie Unverständliches, erfand Wörter. Man konnte sie weder auf Parkplätzen aus den Augen lassen noch in der Nähe von Steckdosen, von Öfen oder Glas oder Metall oder Treppen, Klippen, irgendwelchen Gewässern, jeder Art von Fahrzeugen oder Haustieren."
Josie wächst einem binnen weniger Kapitel ans Herz. Durch sie sehen wir Alaska und seine Bewohner, durch sie sehen wir Ana und Paul, die auf den Rücksitzen des Chateau durch das fremde Land kutschiert werden. So wie die Familien im Reality-TV können auch die drei Wohnmobiltrapper jederzeit auf die Infrastruktur der Zivilisation zurückgreifen. Von den Selbstversorgern aus "Jenseits der Zivilisation" sind Josie, Ana und Paul dennoch weit entfernt, sie stellen das Chateau auf Campingplätzen ab und angeln oder jagen nicht, sondern gehen essen. "Josie überschlug die Kosten grob und wusste, dass sie achtzig Dollar für ein Abendessen mit ihren zwei Kindern ausgeben würde, denen beiden völlig egal war, ob sie hier aßen oder Schlamm und Würmer aus flachen Löchern."
Auf Dauer geht das nicht gut, aber es gibt keine Dauer, es gibt vor allem das Jetzt, die Flucht. Die Reise durch das fremde Land hat lauter große Momente, die beiden Kinder sind phantastisch gestaltete Figuren. Doch Eggers will nicht nur Alaska erkunden, er will Josies ganze Geschichte erzählen. Er liebt es, sich über Hunderte Seiten hinweg die Biographien seiner Figuren auszudenken, und dann stehen sie fertig vor einem, und man weiß nicht, was man sie noch fragen sollte. Der 47-jährige Autor hat keinen Mut zur Lücke, jeden Erzählfaden, den er an einer Stelle aus der Hand gibt, wird er an einer anderen verlässlich aufklauben.
Emblem von Eggers' Verliebtheit ins Biographische ist die Zeitschrift, die er Josie in Momenten der Ruhe gern lesen lässt. Es sind alte Ausgaben von "Old West", die der Vermieter im Chateau gelassen hat und in denen Amerikaner unter der Rubrik "Verlorene Spuren" nach ihren Vorfahren fahnden. Welche herzzerreißende Vergeblichkeit, jemandem nachzuspüren, der seit einem halben Jahrhundert verschollen ist; welche Sehnsucht, sich als Zweig in einem Stammbaum zu sehen, die Anfänge zu kennen, die Lebenswege der Vorfahren.
Familie, das ist die schöne These des Romans, ist kostbar in einem Land, in dem Wurzellosigkeit die Regel ist, aber nicht als Ausweis von Alteingesessenheit und Privilegien. Man braucht dieses Wissen, um dem sinnlos wütenden Zufall eines individuellen Lebens einen tröstlichen Rahmen zu geben. Schadensersatzklagen, Krebs und Sorgerechtsstreits sind die Blitzschläge des modernen Amerikas. Aus heiterem Himmel treffen sie die modernen Hiobs, die es wagen, kein großes Vermögen zu haben. Die Familiengeschichte kann einem keiner nehmen.
Doch Josie weiß nichts über das Leben ihrer Vorfahren. "Selbst die schwermütigen Suchanfragen von ,Verlorene Spuren' machten sie traurig, neidisch. Sie war als Leerstelle geboren worden. Ihre Eltern waren Leerstellen . . . Sie waren von nirgendwo. Amerikaner sein bedeutet, eine Leerstelle zu sein, und ein echter Amerikaner ist eine echte Leerstelle. Somit war Josie alles in allem eine wahrhaft großartige Amerikanerin."
Das Chateau mit seinen dünnen Wänden wird zum Sinnbild für den kleinsten gemeinsamen Nenner, den letzten Ort, ohne Vergangenheit und Zukunft. Während Josie in präzis-absurd beschriebene Situationen mit Campingplatzbetreibern, Blockhüttenbesitzern und Waldbränden gerät und die Kinder an ihren gemeinsamen Abenteuern reifen, wird ihre Vergangenheit Schicht für Schicht enthüllt: ihre desolate Kindheit, ihr Aufwachsen bei einer Zahnärztin, die Lebenstragödie ihrer Eltern, Carl und ihre beiden eigenen Traumata, von denen eines zum Verlust ihrer Praxis führte und das andere zu nicht enden wollenden Schuldgefühlen. Eggers gestaltet diese Schicksale so, dass sie wie echt wirken, nämlich arbiträr und voller kruder Details, wie das Leben halt. Ihre Biographie soll uns verraten, wer Josie ist, warum sie so ist, wie sie ist, dabei verrät sie sich viel unmittelbarer durch das, was sie denkt und wie sie handelt, im Hier und Jetzt.
Die Routiniertheit, mit der Dave Eggers Josies Lebensgeschichte ausbreitet, ist gekonnt und insgesamt doch enttäuschend. Man muss nicht unbedingt wissen, was Josies Eltern den Job kostete und wer ihre Stiefschwester ist. Man liest es aber trotzdem, denn auch in diesen Momenten ist der Roman nicht schlecht: Er unterhält, er ist genau und funkelt irr. Und doch fragt man sich, was "Bis an die Grenze" hätte werden können, wenn Eggers, wie es in Roadmovies eigentlich üblich ist, öfter auf die Straße vor dem Chateau geblickt hätte und weniger oft zurück. Bis an die Grenze eben.
BORIS POFALLA
Dave Eggers: "Bis an die Grenze". Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, 496 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zunächst ist Rezensentin Petra Ahne irritiert, dass Dave Eggers nach Romanen wie "Zeitoun" oder "The Circle" nun die Geschichte einer vierzigjährigen, alleinerziehenden Mutter erzählt, die mit ihren beiden Kindern nach der Pleite ihrer Zahnarztpraxis aus ihrem Vorstadt-Leben in Ohio zu einer Wohnmobil-Tour durch Alaska aufbricht. Schnell erscheint der Kritikerin der neue Roman aber als logische Fortsetzung von "The Circle": Während Eggers dort die "falschen Heilsversprechen" des Silicon Valley untersuchte, durchleuchtet er nun die "naive Sehnsucht" eines einfachen Lebens in der Natur, erklärt Ahne, die sich mit den Schilderungen einer überforderten Mittelstands-Elternschicht und den verschiedenen Missgeschicken auf der Reise bestens amüsiert. Eggers Figuren sind differenziert und ergreifend gezeichnet, einem simplen Happy End entgeht der Autor geschickt und auf die großen Fragen nach dem Glück gibt Eggers keine einfachen Antworten, lobt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Er unterhält, er ist genau und funkelt irr.« Boris Pofalla FAZ 20170319