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Sie packt die Kinder und flieht mit ihnen an den entlegensten Ort, der für sie ohne Pass erreichbar ist: Alaska. Die Reise in dem angemieteten, abgetakelten Wohnmobil durch die Wildnis rüttelt die Familie durcheinander. Der achtjährige Paul übernimmt die fürsorgliche Vaterrolle in der Familie, während die fünfjährige Ana Chaos und Zerstörung magisch anzieht. Was sich zunächst wie ein Abenteuerurlaub am Ende der Welt anfühlt, wird schnell zur verzweifelten Flucht, nicht zuletzt vor einem großflächigen Waldbrand. Josie kämpft unermüdlich gegen die imaginären sowie realen Geister ihrer…mehr

Produktbeschreibung
Sie packt die Kinder und flieht mit ihnen an den entlegensten Ort, der für sie ohne Pass erreichbar ist: Alaska. Die Reise in dem angemieteten, abgetakelten Wohnmobil durch die Wildnis rüttelt die Familie durcheinander. Der achtjährige Paul übernimmt die fürsorgliche Vaterrolle in der Familie, während die fünfjährige Ana Chaos und Zerstörung magisch anzieht. Was sich zunächst wie ein Abenteuerurlaub am Ende der Welt anfühlt, wird schnell zur verzweifelten Flucht, nicht zuletzt vor einem großflächigen Waldbrand. Josie kämpft unermüdlich gegen die imaginären sowie realen Geister ihrer Vergangenheit und schafft es jeden Tag aufs Neue, ihren Kindern und sich Zuversicht für die Zukunft zu geben.
Autorenporträt
Dave Eggers, geboren 1971, wuchs in der Nähe von Chicago auf und besuchte die Universität von Illinois. Er gründete 1998 einen Verlag, in dem er seine Bücher veröffentlicht, ein vierteljährliches Literaturmagazin und eine Monatszeitschrift. 2012 wurde Dave Eggers mit dem "Albatros", dem Preis der "Grass-Stiftung.
Eggers ist Gründer und Herausgeber von McSweeney's, einem unabhängigen Verlag mit Sitz in San Francisco. 2002 rief er ein gemeinnütziges Schreib- und Förderzentrum für Jugendliche ins Leben, "826 Valencia", das heute Ableger in mehreren amerikanischen Städten hat. Eggers stammt aus Chicago und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Nordkalifornien.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.2017

Rasselbande
Eine Frau verlässt das gewohnte Leben und flieht mit ihren Kindern in die Wildnis Alaskas. Dave Eggers überzeugt in seinem
Roman „Bis an die Grenze“ mit liebenswerten Protagonisten und nervt mit sozialromantischen Plattitüden
VON MEREDITH HAAF
Zu den Erfahrungen eines Menschen in der Moderne gehört oft der Eindruck, Gefangener seiner Umstände zu sein. Das betrifft auch und gerade diejenigen, die glücklich genug sind, für ihre Umstände mehr oder weniger selbst Verantwortung zu tragen. Wer den Vorteil genießt, in einer der Bastionen des friedlichen Westens zu leben, fühlt sich bisweilen keiner Kraft so sehr ausgeliefert wie der des eigenen Wollens.
Einer dieser selbst gewählten Verstrickungszusammenhänge ist die Elternschaft, und zwar paradoxerweise auch und gerade dann, wenn Partner, Zeitpunkt und Anzahl der Kinder selbstbestimmt gewählt werden dürfen. Die Unterhalterin und Autorin Charlotte Roche hat in einem Interview einmal gesagt „Eine Mutter ist keine freie Frau.“ Sie hat damit ein gängiges Selbst- und Fremdbild von Müttern artikuliert, aber auch einen real existierenden Seelenzustand. Mütter sind ja nicht nur unfrei durch die Liebe und Sorge für die Kinder, sondern auch in den sehr weltlichen Verpflichtungen ihnen gegenüber, Einhaltung von Bettzeiten und Körperpflegeritualen, Ermöglichung von Sozialleben und Erfüllung der Schulpflicht, um nur einige wenige zu nennen.
Doch geht es nicht auch anders? Könnte eine Mutter sich aus sämtlichen Verpflichtungen lösen, ohne dabei einen Verrat an ihren Kindern zu begehen? Gibt es so etwas wie Freiheit in Verantwortung für jemanden, der oder die mehrere schutzbedürftige kleine Leute und sich selbst versorgen muss? Was liegt überhaupt auf der anderen Seite einer ausgeklügelten Realitätsflucht? Und wie gnädig ist die Welt zu denen, die etwas anderes von ihr fordern als das für sie persönlich Naheliegende?
Das sind die Fragen, die Dave Eggers in seinem neuen Roman „Bis an die Grenze“ stellt. Seine Heldin, die Zahnärztin Josie, hat ihre Praxis aufgeben müssen, weil sie von einer geldgierigen und rachsüchtigen Patientin verklagt wurde. Sie leidet unter einer chronischen Belastungsstörung, die von einem komplizierten Elternhaus und einer Reihe falscher Entscheidungen herrührt. Josie hat zwei außergewöhnliche Kinder namens Paul und Ana und einen nichtsnutzigen Ex-Mann, namens Carl. Carl, „das Frettchen“, ein unausgeglichener Millionenerbe, der lieber Occupy-Aktivist gewesen wäre und stattdessen gar nichts tut, hat eine neue Freundin und möchte sie den Kindern vorstellen.
Josie aber beschließt, sich zu verweigern: „Sie war fertig, weg. Sie hatte es bequem gehabt, und Bequemlichkeit ist der Tod der Seele (. . . ) Ein Mensch kann sich entscheiden, entweder Neues zu sehen, Berge, Wasserfälle, gefährliche Stürme und Meere und Vulkane, oder dieselben von Menschenhand gemachten Dinge in endlosen Spielarten zu sehen. Metall in dieser Form, dann in jener Form, Beton so gestaltet oder anders. Auch Menschen! Dieselben Emotionen recycelt, neu konfiguriert, scheiß drauf, sie war frei!“ Sie fliegt mit ihren Kindern und einem Beutel voller Bargeld von Ohio nach Alaska, ein „Land aus Bergen und Licht“.
Dort angekommen, verhält sie sich zunächst eher durchschnittlich: Sie mietet sich ein uraltes Wohnmobil, Modell „Chateau“, kauft eine Menge Lebensmittel und trinkt, wenn sie am Waldrand parkt, einen Rotwein über den Durst, sobald die Kinder eingeschlafen sind.
Es dauert nicht lange, da taucht ein Polizist auf, und Josie muss weiterfahren. Eine lange Reise beginnt: „Sie hatte sich die Freiheit gewünscht, einfach irgendwo anzuhalten und zu essen oder zu schlafen und auf unbestimmte Zeit zu bleiben.“ Dave Eggers erzählt in diesen Passagen die Geschichte einer Ablösung von inneren und äußeren Zivilisationsgewohnheiten. Zunächst stellt sich heraus, dass selbst die vergleichsweise bescheiden anmutenden nomadischen Freiheitsvorstellungen nicht ohne Mühe zu verwirklichen sind. Das liegt auch an Josies gebeuteltem Zustand und an der maßlosen Wut, die sämtliche Zivilisationserscheinungen in ihr auslösen: „Oh nein. Ein Laubbläser. Die Dummheit und die fehl geleiteten Hoffnungen der Menschheit lassen sich am einfachsten erleben, wenn man zwanzig Minuten zuschaut, wie ein Mensch einen Laubbläser trägt.“
Natürlich muss Josie sich und ihre Kinder aus einer Umgebung entfernen, in der Laubbläser zum Einsatz kommen. Weiter geht es mit dem Wohnmobil, der „sterbenden Maschine“, im Höllenlärm seiner schäbigen, schlecht befestigten Inneneinrichtung: „Die Geräusche ähnelten denen eines Erdbebens. Das Besteck rasselte wie die Ketten eines ruhelosen Gespenstes.“
Es dauert gut 300 Seiten, bis Josie einen Platz für sich und ihre Kinder findet, an dem sie bleiben können. Denn immer wieder entpuppen sich vermeintliche Idyllen für die nervöse Josie als Fallen: Ein friedlicher Strand ist bei näherem Hinsehen eine einzige Müllkippe. Andauernd müssen auf der Suche nach der Freiheit Risiken eingegangen werden, Verkehrsunfälle, wütende, wohnwagenfahrende Norweger und vor allem die Waldbrände, die sich in ganz Alaska ausbreiten. Der Familie passieren dauernd Dinge, doch es geschieht ihr nichts wirklich. Seite um Seite wachsen die Kräfte von Josie und ihren Kindern, dem engelsgleichen achtjährigen Paul und seinem fünfjährigen Schwestern-Derwisch. Am Ende steht Josie ohne fahrbaren Untersatz oder Behausung da und auch mit sonst wenig, außer einer Erkenntnis: „Mut war der Anfang, furchtlos sein, weitergehen, trotz kleiner Entbehrungen nicht kehrtmachen. Mut war einfach eine Form des Weitergehens.“
Und da ist er dann auch wieder – der bei all seinem unbestreitbaren Humor und Charme doch beklagenswert sozialpädagogisch literarisierende Eggers. So ist man etwa versucht zu zählen, wie oft das Wort „tapfer“ in diesem Roman auftaucht, wenn der Autor seine Figuren loben will. Dass Eggers einen besonderen Draht zur Gegenwart hat, weiß man, aber leider hat er auch einen Hang zu prototypischen Figuren und sozialromantischen Plattitüden. Diese Schwäche war in seinem letzten Roman „The Circle“ nicht zu übersehen, einem blutarmen Buch, das nicht so recht zu dem Eigentlichkeitsanspruch passte, der in Eggers’ Menschenideal steckt.
Damit verglichen ist „Bis an die Grenze“ deutlich erfreulicher, vielleicht weil Eggers mit Josie und ihren Kindern Protagonisten ersonnen hat, die seinem Ideal zumindest nahezukommen suchen. Sie nutzen das Internet nicht, unternehmen lieber Wanderungen durch Stürme, kümmern sich um fremde Tiere. Damit kann der Autor Eggers etwas anfangen.
Die Familie findet schließlich ein vorübergehendes Zuhause in einer abgelegenen Waldhütte, ein vorübergehendes Kleinfamilien-Eden, bis die Feuersbrunst es erreicht: „Jeder Tag hatte hundert unkomplizierte Stunden, und sie sahen wochenlang keine Menschenseele. (. . . ) Tagsüber war alles still bis auf den gelegentlichen Schrei eines Vogels, wie ein irrer Nachbar; nachts war die Luft erfüllt von Fröschen und Grillen und Kojoten. Paul und Ana schliefen tief, und Josie schwebte über ihnen, wie eine kühle Nachtwolke über Bergzügen, die sich den ganzen Tag in der Sonne gewärmt hatte.“
Je weiter sich Josie und ihre Kinder von der Normalität entfernen, desto entspannter werden sie. Keine Rotweintiraden mehr, keine kindlichen Missetaten, keine Eskalationen mit Fremden. Diese Entspannung gereicht aber leider der Sprache nicht zum Vorteil, und die Sprache ist ohnehin die größte Schwachstelle des Schriftstellers Dave Eggers. Der Roman, in seiner ersten Hälfte noch enorm komisch, wird später fast dröge vor lauter Erfülltheit. Da enthält er dann Sätze wie diesen: „Die Kinder entwickelten sich wunderbar und vergaßen alle materiellen Belange.“
Dass „Bis an die Grenze“ dennoch ein berührendes und lesenswertes Buch ist, liegt an den Protagonisten, von denen Dave Eggers so liebevoll und detailverliebt erzählt, dass man es fast mütterlich nennen möchte. Die Welt verändern Josie und ihre Kinder nicht, aber immerhin treffen sie eine Wahl, wie sie sich selbst von der Welt verändern lassen.
Dave Eggers: Bis an die Grenze. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 426 Seiten, 23 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Josie, die Heldin, hat einen
nutzlosen Ex-Mann und zwei
außergewöhnliche Kinder
„Das Besteck rasselte
wie die Ketten
eines ruhelosen Gespenstes.“
Der Roman ist erst komisch
und dann bisweilen
dröge vor lauter Erfülltheit
Dave Eggers, Jahrgang 1970, lebt mit Frau und zwei Kindern in der Nähe von San Francisco.
Foto: Tom Pilston / VISUM
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2017

Weit, fremd und voller Verheißung

Der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers schickt die Heldin seines neuen Romans "Bis an die Grenze" auf einen Roadtrip durch Alaska

Im amerikanischen Kabelfernsehen läuft seit mehr als sechs Jahren eine erfolgreiche Reality-TV-Serie mit dem Namen "Alaska: The Last Frontier" (auf Deutsch: "Jenseits der Zivilisation"). In den bislang neunzig Episoden verfolgt der Zuschauer die Familie Kilcher bei ihrem aufregenden Leben ohne fließend Wasser und Heizung, ein Leben, in dem der Winter ein übermächtiger Gegner ist und umherstreifende Wölfe und Bären die Menschen nicht zum Fotoapparat greifen lassen, sondern in den Gewehrschrank. In Alaska leben ist angesagt im Fernsehen. Laut der Entertainment-Website Cinemablend wurden vor zwei Jahren um die zwanzig Reality-Fernsehserien im Frontier State gedreht, darunter Perlen wie "Alaskan Bush People", "Bering Sea Gold" und die Königskrabbensaga "Deadliest Catch". Der Frontier State ist vom Rest der Vereinigten Staaten isoliert und landschaftlich spektakulär, ein dünn besiedeltes Riesenreich, in dem man frei und selbstbestimmt leben kann wie zur Zeit der Pioniere.

Offenbar projizieren die Amerikaner ihren Freiheitsdrang umso mehr auf Alaska, je weiter sich die Kernstaaten von diesem Ideal entfernen. Viele Einwohner der Kernstaaten träumen Abend für Abend in ihren Fernsehsesseln vom Ausstieg aus der Zivilisation - auch wenn das Reality-TV nicht immer realistisch ist. "Viele Alaskaner wissen", schrieb eine Kolumnistin der "Alaskan Dispatch News", "dass die Farm der Kilchers eine kurze Fahrt von der Stadt Homer entfernt liegt. Sie können zu Safeway fahren und sich frittiertes Hähnchen mitnehmen, wenn sie wollen. Sie sind okay."

Auch Josie ist okay, jedenfalls für den Moment: Sie ist in Alaska und hat alles hinter sich gelassen bis auf ihre beiden Kinder und dreitausend Dollar Bargeld. Zu Beginn von Dave Eggers' neuem Roman "Bis an die Grenze" sitzt Josie auf dem Beifahrersitz eines gemieteten Wohnmobils, das auf einem Parkplatz der Kenai-Halbinsel steht, "umgeben von unbekannten Wäldern" und mit einem Rotweinschwipps. "Sie war zufrieden, obwohl sie wusste, dass es sich um eine flüchtige und künstliche Zufriedenheit handelte, wusste, dass alles falsch war - sie sollte nicht in Alaska sein, nicht so."

Josie ist keine gewöhnliche Touristin, sie ist auf der Flucht, auf der Flucht vor ihrem Leben in Ohio. Sie wäre davor sogar noch weiter geflohen als nach Alaska, doch nur eines ihrer beiden Kinder besitzt einen Pass, und um den anderen zu beantragen, braucht sie den Vater, ihren Exfreund Carl, einen in vieler Hinsicht nutzlosen Waschlappen. Es ist natürlich nicht Carl, sondern Dave Eggers, der ihr diesen Pass nicht geben will, denn Josies Geschichte kann nur hier spielen, in Amerika und doch nicht in Amerika, bekannt aus dem Fernsehen, aber verheißungsvoll weit und fremd. "Alaska war dasselbe Land und zugleich ein anderes Land, fast Russland, fast Vergessen, und solange Josie ihr Handy ausließ und nur Bargeld benutzte, . . . blieb sie unauffindbar, unaufspürbar . . . Sie war Pfadfinderin gewesen. Sie konnte einen Knoten binden, einen Fisch ausnehmen, Feuer machen. Alaska machte ihr keine Angst."

"Bis an die Grenze" ist ein Roman über Angst und Freiheit, vor allem aber ist er ein Roman über eine Frau. Aus Josies Perspektive erzählt Eggers auf fast 500 Seiten, so wie in seinem vorletzten Roman "Der Circle" aus dem der um die zwanzig Jahre jüngeren Mae Holland. Josie ist desillusionierter, abgeklärter und verletzter als Mae, aber auch viel aufmerksamer für die krummen Manöver der Menschen. Sie ist eine Mutter auf der Hut und hat den Blick einer Schriftstellerin: "Als sie jetzt auf der mit rosa Fischblut befleckten Promenade standen, war ein älterer Mann plötzlich zu nahe und sprach mit ihnen. ,Mögt ihr Kinder Zauberkunststücke?', fragte der Mann. Er wirkte irgendwie lüstern. Diese einsamen alten Männer, dachte Josie, mit ihren nassen Lippen und kleinen Augen, mit Hälsen, die kaum ihre schweren Köpfe voll mit ihren vielen Fehlern und Beerdigungen von Freunden tragen können. Alles, was diese Männer sagten, klang widerlich, und sie wussten es nicht einmal. Josie stupste Paul an. ,Antworte dem netten Mann.'"

Ihre Kinder Paul und Ana sind der Anlass für die Flucht. Josie fürchtet, dass ihr Exfreund ein Sorgerecht für sich und seine neue Frau erstreiten könnte. Ein Anruf versetzt sie in Panik. Kurz darauf ist sie in Alaska in einem gemieteten Wohnmobil, das sie ihr "Chateau" nennen, "eine sterbende Maschine" voller Küchengeräte und Besteck, das "rasselte wie die Ketten eines ruhelosen Gespenstes". Der ältere Sohn Paul ist erschreckend höflich, geduldig und verantwortungsbewusst, er fungiert als Ko-Erziehungsberechtigter für seine Schwester Ana, und den kann Josie auch gut brauchen: "Aus der Ferne ähnelte sie einer ständig betrunkenen Erwachsenen - stieß gegen Dinge, schrie Unverständliches, erfand Wörter. Man konnte sie weder auf Parkplätzen aus den Augen lassen noch in der Nähe von Steckdosen, von Öfen oder Glas oder Metall oder Treppen, Klippen, irgendwelchen Gewässern, jeder Art von Fahrzeugen oder Haustieren."

Josie wächst einem binnen weniger Kapitel ans Herz. Durch sie sehen wir Alaska und seine Bewohner, durch sie sehen wir Ana und Paul, die auf den Rücksitzen des Chateau durch das fremde Land kutschiert werden. So wie die Familien im Reality-TV können auch die drei Wohnmobiltrapper jederzeit auf die Infrastruktur der Zivilisation zurückgreifen. Von den Selbstversorgern aus "Jenseits der Zivilisation" sind Josie, Ana und Paul dennoch weit entfernt, sie stellen das Chateau auf Campingplätzen ab und angeln oder jagen nicht, sondern gehen essen. "Josie überschlug die Kosten grob und wusste, dass sie achtzig Dollar für ein Abendessen mit ihren zwei Kindern ausgeben würde, denen beiden völlig egal war, ob sie hier aßen oder Schlamm und Würmer aus flachen Löchern."

Auf Dauer geht das nicht gut, aber es gibt keine Dauer, es gibt vor allem das Jetzt, die Flucht. Die Reise durch das fremde Land hat lauter große Momente, die beiden Kinder sind phantastisch gestaltete Figuren. Doch Eggers will nicht nur Alaska erkunden, er will Josies ganze Geschichte erzählen. Er liebt es, sich über Hunderte Seiten hinweg die Biographien seiner Figuren auszudenken, und dann stehen sie fertig vor einem, und man weiß nicht, was man sie noch fragen sollte. Der 47-jährige Autor hat keinen Mut zur Lücke, jeden Erzählfaden, den er an einer Stelle aus der Hand gibt, wird er an einer anderen verlässlich aufklauben.

Emblem von Eggers' Verliebtheit ins Biographische ist die Zeitschrift, die er Josie in Momenten der Ruhe gern lesen lässt. Es sind alte Ausgaben von "Old West", die der Vermieter im Chateau gelassen hat und in denen Amerikaner unter der Rubrik "Verlorene Spuren" nach ihren Vorfahren fahnden. Welche herzzerreißende Vergeblichkeit, jemandem nachzuspüren, der seit einem halben Jahrhundert verschollen ist; welche Sehnsucht, sich als Zweig in einem Stammbaum zu sehen, die Anfänge zu kennen, die Lebenswege der Vorfahren.

Familie, das ist die schöne These des Romans, ist kostbar in einem Land, in dem Wurzellosigkeit die Regel ist, aber nicht als Ausweis von Alteingesessenheit und Privilegien. Man braucht dieses Wissen, um dem sinnlos wütenden Zufall eines individuellen Lebens einen tröstlichen Rahmen zu geben. Schadensersatzklagen, Krebs und Sorgerechtsstreits sind die Blitzschläge des modernen Amerikas. Aus heiterem Himmel treffen sie die modernen Hiobs, die es wagen, kein großes Vermögen zu haben. Die Familiengeschichte kann einem keiner nehmen.

Doch Josie weiß nichts über das Leben ihrer Vorfahren. "Selbst die schwermütigen Suchanfragen von ,Verlorene Spuren' machten sie traurig, neidisch. Sie war als Leerstelle geboren worden. Ihre Eltern waren Leerstellen . . . Sie waren von nirgendwo. Amerikaner sein bedeutet, eine Leerstelle zu sein, und ein echter Amerikaner ist eine echte Leerstelle. Somit war Josie alles in allem eine wahrhaft großartige Amerikanerin."

Das Chateau mit seinen dünnen Wänden wird zum Sinnbild für den kleinsten gemeinsamen Nenner, den letzten Ort, ohne Vergangenheit und Zukunft. Während Josie in präzis-absurd beschriebene Situationen mit Campingplatzbetreibern, Blockhüttenbesitzern und Waldbränden gerät und die Kinder an ihren gemeinsamen Abenteuern reifen, wird ihre Vergangenheit Schicht für Schicht enthüllt: ihre desolate Kindheit, ihr Aufwachsen bei einer Zahnärztin, die Lebenstragödie ihrer Eltern, Carl und ihre beiden eigenen Traumata, von denen eines zum Verlust ihrer Praxis führte und das andere zu nicht enden wollenden Schuldgefühlen. Eggers gestaltet diese Schicksale so, dass sie wie echt wirken, nämlich arbiträr und voller kruder Details, wie das Leben halt. Ihre Biographie soll uns verraten, wer Josie ist, warum sie so ist, wie sie ist, dabei verrät sie sich viel unmittelbarer durch das, was sie denkt und wie sie handelt, im Hier und Jetzt.

Die Routiniertheit, mit der Dave Eggers Josies Lebensgeschichte ausbreitet, ist gekonnt und insgesamt doch enttäuschend. Man muss nicht unbedingt wissen, was Josies Eltern den Job kostete und wer ihre Stiefschwester ist. Man liest es aber trotzdem, denn auch in diesen Momenten ist der Roman nicht schlecht: Er unterhält, er ist genau und funkelt irr. Und doch fragt man sich, was "Bis an die Grenze" hätte werden können, wenn Eggers, wie es in Roadmovies eigentlich üblich ist, öfter auf die Straße vor dem Chateau geblickt hätte und weniger oft zurück. Bis an die Grenze eben.

BORIS POFALLA

Dave Eggers: "Bis an die Grenze". Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, 496 Seiten, 23 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Zunächst ist Rezensentin Petra Ahne irritiert, dass Dave Eggers nach Romanen wie "Zeitoun" oder "The Circle" nun die Geschichte einer vierzigjährigen, alleinerziehenden Mutter erzählt, die mit ihren beiden Kindern nach der Pleite ihrer Zahnarztpraxis aus ihrem Vorstadt-Leben in Ohio zu einer Wohnmobil-Tour durch Alaska aufbricht. Schnell erscheint der Kritikerin der neue Roman aber als logische Fortsetzung von "The Circle": Während Eggers dort die "falschen Heilsversprechen" des Silicon Valley untersuchte, durchleuchtet er nun die "naive Sehnsucht" eines einfachen Lebens in der Natur, erklärt Ahne, die sich mit den Schilderungen einer überforderten Mittelstands-Elternschicht und den verschiedenen Missgeschicken auf der Reise bestens amüsiert. Eggers Figuren sind differenziert und ergreifend gezeichnet, einem simplen Happy End entgeht der Autor geschickt und auf die großen Fragen nach dem Glück gibt Eggers keine einfachen Antworten, lobt die Rezensentin.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Er unterhält, er ist genau und funkelt irr.« Boris Pofalla FAZ 20170319