Dies ist Paul Austers sehr persönliche Abrechnung mit der Vergottung des Waffentragens in der amerikanischen Kultur und Gesellschaft. Er erzählt davon zunächst in biografischen Vignetten, beginnend bei den Spielzeugcolts der Kindheit und den Western im Fernsehen. Es folgen die ersten Einschläge im näheren Umfeld, der von der Großmutter erschossene Großvater - lange Zeit ein Familiengeheimnis, von dem Auster nur durch Zufall erfuhr.Von da aus geht er zurück in die amerikanische Geschichte und erklärt, warum die Waffe in der Hand des freien Bürgers in direkter Linie aus der Gewalt der Sklavenhaltergesellschaft hervorgegangen ist. Der Streit ums Waffentragen führt ins Zentrum der aktuellen Auseinandersetzungen um die Gestaltung des amerikanischen Gesellschaftssystems. Auster zeigt sich hier als ebenso polemischer wie klarsichtiger politischer Beobachter und Kommentator.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.03.2024Kein Volltreffer von Paul Auster
In seinem Essayband „Bloodbath Nation“ versucht der Schriftsteller verzweifelt,
Amerikas Obsession mit Schusswaffen zu verstehen.
Am 23. Januar 1919 erschoss Paul Austers Großmutter seinen Großvater. Sie nahm nicht nur ihm das Leben, sie versehrte auch das ihrer vier Söhne, von denen einer, er war neun Jahre alt, den Mord mit ansah. Sie mussten von da an mit dem Wissen davon leben, was ihre Mutter getan hatte. „Auslöser für das alles war die Pistole.“ Warum die USA ihren ungezügelten Waffenwahn nicht in den Griff bekommen, warum selbst Amokläufe mit Dutzenden Toten, besonders oft an Schulen, folgenlos bleiben, ist seit Jahrzehnten eines der größten Rätsel dieses Landes. In „Bloodbath Nation“, dem schmalen Buch, von dem der an Krebs erkrankte, 77-jährige Paul Auster sagt, es könne sein letztes sein, nimmt er sich vor, es zu lösen.
Er nähert sich dem Thema über verschiedene Pfade. Einer ist seine Biografie. Er erzählt von den Nachmittagen mit Western-Trash vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher, von seiner erstaunlichen Treffsicherheit beim Tontaubenschießen mit einem Freund. Und von seinen Begegnungen mit zwei Rednecks, mit denen er auf einem Esso-Tanker als Matrose arbeitete. Beider Leben waren auf unterschiedliche Weise vom Schießen gezeichnet.
Die unspektakulären Anekdoten sollen darstellen, wie tief der Waffenkult den amerikanischen Alltag durchdringt. Und sie sollen die vielen nackten Zahlen, die er über sein Buch gestreut hat, um die Erfahrungen konkreter Menschen ergänzen. Amerikaner haben eine 25-mal größere Chance, angeschossen zu werden, als die Bürger vergleichbarer Länder. Amerikaner besitzen fast 400 Millionen Schusswaffen, mehr als eine Waffe also pro Mann, Frau und Kind. 40 000 Menschen sterben jährlich durch Kugeln, 80 000 werden verletzt. Auster vergleicht die Schusswaffen mit der anderen tragenden Säule des nationalen Mythos: den Autos. Während diese seit ihrer Erfindung durch kontinuierlich verschärfte Gesetze immer sicherer wurden, hat die Politik den Besitz von Waffen liberalisiert. Ob Asbest, Tabak oder Spraydosen: War die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit offenkundig genug, griff der Staat ein. Nur bei den Waffen nicht. Warum also, fragt er, ist „Amerika so anders – und was macht es zum gewalttätigsten Land der westlichen Welt?“
Um das zu beantworten, durchsucht Auster nun die Geschichte und findet – nicht als Erster – eine amerikanische Besonderheit: Während die europäischen Staaten auf das Gewaltmonopol von Polizei und Armee pochten, wurden die Amerikaner immer wieder ermutigt, sich in bewaffneten Milizen selbst an der gewaltsamen Durchsetzung staatlicher Ziele zu beteiligen – etwa bei der Vertreibung der Native Americans, und als es darum ging, entflohene Sklaven einzufangen.
Andererseits, und das ist nur eine der vielen Wendungen, die Auster in seinem mäandernden, nie ganz durchdacht wirkenden Buch vollführt, war der Waffenbesitz, wie er schreibt, über lange Zeit vergleichsweise streng reglementiert. Selbst im Wilden Westen ging es „wesentlich zivilisierter, friedlicher und sicherer zu als im Amerika heutiger Tage“, zitiert Auster den Historiker Eugene Hollon.
Vielleicht, so nun Austers Hoffnung, offenbaren die grausamen Amokläufe selbst etwas über Amerikas pathologischen Waffenkult. Doch die Biografien und die Manifeste der Täter helfen nicht weiter. Ja, sie sind einsam, ja sie versteigen sich in die Tunnel der sozialen Medien. Aber warum müssen sie töten? Auch die vielen im Buch gezeigten Fotos, die Spencer Ostrander, Austers Schwiegersohn, an den heute verwaisten Schauplätzen der mass shootings gemacht hat, erklären nichts.
Ausgerechnet dem Amoklauf räumt Auster am meisten Platz ein, der das alte Argument des Waffenvereins National Rifle Association (NRA) bestätigt – dass das Einzige, was einen Bösen mit einer Schusswaffe stoppen kann, ein Guter mit einer Schusswaffe sei. Der Mann, der am 5. November 2017 in der First Baptist Church in Sutherland Springs, Texas, 25 Menschen tötete, hätte noch weiter gemordet, hätte ihn nicht ein Anwohner und früherer Schießausbilder mit seiner AR-15 gestoppt. Doch was will Auster damit sagen?
Und was mit seiner Behauptung, es seien die linksextremen Black Panthers gewesen, die die heute von rechten Weißen getragene Waffenbewegung losgetreten hätten? Kaliforniens damaliger Gouverneur Ronald Reagan propagierte ein Waffenkontrollgesetz, das die Panther als Versuch verstanden, die schwarze Bürgerrechtsbewegung zu stoppen. Behängt mit – legalen – Waffen stürmten sie ins Kapitol von Sacramento. Es folgte der Aufstieg der NRA.
Obwohl er zuvor dargelegt hat, dass Gewalt fester Bestandteil der amerikanischen DNA sei, überrascht er im letzten Kapitel mit einem anderen Argument. Nicht Amerikas Gewalttradition sei das Problem, sondern der leichte Zugang zu Waffen: „Waffenbesitzer töten, weil sie eine Waffe besitzen, und Selbstmörder erschießen sich, weil sie eine Waffe besitzen“. Doch von der naheliegenden Konsequenz, restriktivere Gesetze, hält Auster nichts. Während der Prohibition hätten die Amerikaner ja auch nicht weniger, sondern mehr Alkohol getrunken. „Frieden wird es erst geben, wenn beide Seiten ihn wollen“ und wenn wir uns „aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir sind und wer wir als Volk in Zukunft sein wollen.“ Damit verlegt er die Lösung des Problems ins Utopische.
Als Manifest ist Austers Buch zu unentschieden, als Mentalitätsgeschichte zu oberflächlich. Am Ende sind Autor und Leser ratlos wie zuvor.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Von der naheliegenden
Konsequenz – restriktivere
Gesetze – hält er nichts
Supermarkt King Soopers in Boulder, Colorado. Auf dem Parkplatz erschoss der 21 Jahre alte Ahmad Al Aliwi Al-Issa zehn Menschen.
Foto: Spencer Ostrander
Paul Auster:
Bloodbath Nation.
Mit Fotos von
Spencer Ostrander.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2024.
192 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem Essayband „Bloodbath Nation“ versucht der Schriftsteller verzweifelt,
Amerikas Obsession mit Schusswaffen zu verstehen.
Am 23. Januar 1919 erschoss Paul Austers Großmutter seinen Großvater. Sie nahm nicht nur ihm das Leben, sie versehrte auch das ihrer vier Söhne, von denen einer, er war neun Jahre alt, den Mord mit ansah. Sie mussten von da an mit dem Wissen davon leben, was ihre Mutter getan hatte. „Auslöser für das alles war die Pistole.“ Warum die USA ihren ungezügelten Waffenwahn nicht in den Griff bekommen, warum selbst Amokläufe mit Dutzenden Toten, besonders oft an Schulen, folgenlos bleiben, ist seit Jahrzehnten eines der größten Rätsel dieses Landes. In „Bloodbath Nation“, dem schmalen Buch, von dem der an Krebs erkrankte, 77-jährige Paul Auster sagt, es könne sein letztes sein, nimmt er sich vor, es zu lösen.
Er nähert sich dem Thema über verschiedene Pfade. Einer ist seine Biografie. Er erzählt von den Nachmittagen mit Western-Trash vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher, von seiner erstaunlichen Treffsicherheit beim Tontaubenschießen mit einem Freund. Und von seinen Begegnungen mit zwei Rednecks, mit denen er auf einem Esso-Tanker als Matrose arbeitete. Beider Leben waren auf unterschiedliche Weise vom Schießen gezeichnet.
Die unspektakulären Anekdoten sollen darstellen, wie tief der Waffenkult den amerikanischen Alltag durchdringt. Und sie sollen die vielen nackten Zahlen, die er über sein Buch gestreut hat, um die Erfahrungen konkreter Menschen ergänzen. Amerikaner haben eine 25-mal größere Chance, angeschossen zu werden, als die Bürger vergleichbarer Länder. Amerikaner besitzen fast 400 Millionen Schusswaffen, mehr als eine Waffe also pro Mann, Frau und Kind. 40 000 Menschen sterben jährlich durch Kugeln, 80 000 werden verletzt. Auster vergleicht die Schusswaffen mit der anderen tragenden Säule des nationalen Mythos: den Autos. Während diese seit ihrer Erfindung durch kontinuierlich verschärfte Gesetze immer sicherer wurden, hat die Politik den Besitz von Waffen liberalisiert. Ob Asbest, Tabak oder Spraydosen: War die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit offenkundig genug, griff der Staat ein. Nur bei den Waffen nicht. Warum also, fragt er, ist „Amerika so anders – und was macht es zum gewalttätigsten Land der westlichen Welt?“
Um das zu beantworten, durchsucht Auster nun die Geschichte und findet – nicht als Erster – eine amerikanische Besonderheit: Während die europäischen Staaten auf das Gewaltmonopol von Polizei und Armee pochten, wurden die Amerikaner immer wieder ermutigt, sich in bewaffneten Milizen selbst an der gewaltsamen Durchsetzung staatlicher Ziele zu beteiligen – etwa bei der Vertreibung der Native Americans, und als es darum ging, entflohene Sklaven einzufangen.
Andererseits, und das ist nur eine der vielen Wendungen, die Auster in seinem mäandernden, nie ganz durchdacht wirkenden Buch vollführt, war der Waffenbesitz, wie er schreibt, über lange Zeit vergleichsweise streng reglementiert. Selbst im Wilden Westen ging es „wesentlich zivilisierter, friedlicher und sicherer zu als im Amerika heutiger Tage“, zitiert Auster den Historiker Eugene Hollon.
Vielleicht, so nun Austers Hoffnung, offenbaren die grausamen Amokläufe selbst etwas über Amerikas pathologischen Waffenkult. Doch die Biografien und die Manifeste der Täter helfen nicht weiter. Ja, sie sind einsam, ja sie versteigen sich in die Tunnel der sozialen Medien. Aber warum müssen sie töten? Auch die vielen im Buch gezeigten Fotos, die Spencer Ostrander, Austers Schwiegersohn, an den heute verwaisten Schauplätzen der mass shootings gemacht hat, erklären nichts.
Ausgerechnet dem Amoklauf räumt Auster am meisten Platz ein, der das alte Argument des Waffenvereins National Rifle Association (NRA) bestätigt – dass das Einzige, was einen Bösen mit einer Schusswaffe stoppen kann, ein Guter mit einer Schusswaffe sei. Der Mann, der am 5. November 2017 in der First Baptist Church in Sutherland Springs, Texas, 25 Menschen tötete, hätte noch weiter gemordet, hätte ihn nicht ein Anwohner und früherer Schießausbilder mit seiner AR-15 gestoppt. Doch was will Auster damit sagen?
Und was mit seiner Behauptung, es seien die linksextremen Black Panthers gewesen, die die heute von rechten Weißen getragene Waffenbewegung losgetreten hätten? Kaliforniens damaliger Gouverneur Ronald Reagan propagierte ein Waffenkontrollgesetz, das die Panther als Versuch verstanden, die schwarze Bürgerrechtsbewegung zu stoppen. Behängt mit – legalen – Waffen stürmten sie ins Kapitol von Sacramento. Es folgte der Aufstieg der NRA.
Obwohl er zuvor dargelegt hat, dass Gewalt fester Bestandteil der amerikanischen DNA sei, überrascht er im letzten Kapitel mit einem anderen Argument. Nicht Amerikas Gewalttradition sei das Problem, sondern der leichte Zugang zu Waffen: „Waffenbesitzer töten, weil sie eine Waffe besitzen, und Selbstmörder erschießen sich, weil sie eine Waffe besitzen“. Doch von der naheliegenden Konsequenz, restriktivere Gesetze, hält Auster nichts. Während der Prohibition hätten die Amerikaner ja auch nicht weniger, sondern mehr Alkohol getrunken. „Frieden wird es erst geben, wenn beide Seiten ihn wollen“ und wenn wir uns „aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir sind und wer wir als Volk in Zukunft sein wollen.“ Damit verlegt er die Lösung des Problems ins Utopische.
Als Manifest ist Austers Buch zu unentschieden, als Mentalitätsgeschichte zu oberflächlich. Am Ende sind Autor und Leser ratlos wie zuvor.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Von der naheliegenden
Konsequenz – restriktivere
Gesetze – hält er nichts
Supermarkt King Soopers in Boulder, Colorado. Auf dem Parkplatz erschoss der 21 Jahre alte Ahmad Al Aliwi Al-Issa zehn Menschen.
Foto: Spencer Ostrander
Paul Auster:
Bloodbath Nation.
Mit Fotos von
Spencer Ostrander.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2024.
192 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
In den USA gibt es mehr Waffen als Menschen, täglich sterben mehr als 100 Menschen durch Kugeln, weiß Sarah Pines, die Paul Austers neuem Buch eine knappe Besprechung widmet. Dennoch scheint die Kritikerin diese Mischung aus Essay, Faktenbericht und Autobiografie mit Gewinn gelesen zu haben, auch wenn sie nicht "polarisiert", wie Pines einräumt. Sie erfährt hier nicht nur, weshalb amerikanische Präsidenten immer wieder am Waffenverbot scheitern oder wann die Bewaffnung der Amis ihren Anfang nahm. Sie liest hier auch, dass Austers Großmutter den Großvater vor den Augen ihrer Kinder erschoss. Die ernüchternde Erkenntnis, dass ein Waffenverbot nicht zuletzt daran scheitert, dass die Amerikaner Gewaltanwendung als elementares Recht des Einzelnen betrachten, nimmt Pines ebenfalls mit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
In einer Zusammenschau schockierender Zahlen, großer historischer Zusammenhänge, kleiner eigener Erlebnisse und berührender Bilder gelingt es Auster und Ostrander, ein überwältigendes Thema mental handhabbar zu machen. Andreas ; Sebastian Kremler ; Kiefer Falter 20240301