Die beiden einfach gestrickten Pariser Büroangestellten Bouvard und Pécuchet, unerwartet zu Reichtum gelangt, ziehen sich auf ein Landgut zurück, um sich ungestört ihrem Forschungsdrang hingeben zu können. Sie versuchen sich auf den Gebieten sämtlicher Wissenschaften der Moderne - und scheitern bei allen Disziplinen auf ganzer Linie. Je mehr sie ihrem Dilettantismus frönen, desto schlechter wird ihr Verhältnis zur ansässigen Dorfbevölkerung. Flauberts letzter, unvollendeter Roman, gelesen von Richard Lauffen, ist eine gekonnte Satire auf die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeit.Lesung mit Richard Lauffen1 mp3-CD ca. 5 h 35 min
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Alexander Kosenina hält das NDR-Hörbuch von 1966 für aktuell. Die spöttische Lust in Gustave Flauberts "Antibildungsroman" kommt in der Interpretation von Richard Lauffen gut rüber, versichert Kosenina, ebenso die Fülle an Bildungsbürgerwissen aus allen Disziplinen, die Flaubert seinen beiden Figuren in den Mund legt. Kosenina jedenfalls langweilt sich keine Sekunde. Noch besser wird das Erlebnis, verspricht der Rezensent, bringt der Hörer einige Konzentration mit und gegebenenfalls die kommentierte Buchvorlage.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Ja! Flaubert ist mein Lehrmeister, und wenn ich vorankomme, werde ich Flaubert II. sein.« Oscar Wilde »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher, das Stück nur 10 EUR, besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Ihm war auch mal mephistophelisch zumute
Flauberts "Bouvard und Pécuchet" ist der größte Torso der Literaturgeschichte. Eine deutsche Ausgabe rekonstruiert ihn nun, so weit es möglich ist.
Von Niklas Bender
Gustave Flauberts vierter, unvollendet gebliebener Roman ist als offenes Versprechen in die Literaturgeschichte eingegangen. Als der Schriftsteller am 8. Mai 1880 mit 58 Jahren stirbt, hinterlässt er den Torso von "Bouvard und Pécuchet", jener "encyclopédie critique en farce", die das Wissen ihrer Zeit erfassen und komisch aufspießen sollte. Im "Wörterbuch der Gemeinplätze", einem Verzeichnis von stereotypen Denk- und Redeweisen, das moderner und postmoderner Sprachkritik zum Vorbild werden sollte, hat sie ihren bekanntesten Ausdruck gefunden.
Im ersten Teil befreunden sich die beiden Pariser Kopisten; als Bouvard erbt, beschließen sie, sich aufs Land zurückzuziehen und fortan ihrem Wissenseifer zu frönen. Sie finden einen Bauernhof in Chavignolles (Normandie), auf dem sie sich in alle denkbaren Wissensgebiete einlesen, diese diskutieren und versuchen, das Gelesene umzusetzen. Mit wechselnden Ergebnissen: "Urplötzlich zerbarst dann, mit dem Knall einer explodierenden Granate, der Destillierkolben in tausend Stücke, die bis zur Decke hinaufstoben, die Tiegel zerschmetterten, die Schaumlöffel platt walzten und die Gläser zerbrachen; die Kohlestückchen flogen umher, der Reflektorofen war dahin, und am nächsten Tag fand Germaine noch einen Spatel im Hof." So weit die Destillierversuche; die Landbevölkerung wird auf harte Proben gestellt.
Der erste Teil bricht kurz vor dem Ende ab: Er hätte mit Vorträgen schließen sollen sowie mit Bouvards und Pécuchets Plan, fortan wieder abzuschreiben. Teil zwei hätte dann das Ergebnis ihrer Kopierarbeit enthalten: den Sottisier, eine "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit", "Wörterbuch" inklusive. Im Sottisier erfährt man wunderbare Dinge, so in der Rubrik "Hass auf Romane": "Die modernen Romanciers verdienen zu viel Geld! Da haben Sie den Menschen der Herabwürdigung vor sich, den Feind der Gesellschaft, den Barbaren, der uns bedroht. (Pater Félix, ,Der Fortschritt durch das Christentum', 1856)" Diesen erbaulichen Eindruck gewährt die "Bouvard und Pécuchet"-Ausgabe von Hans-Horst Henschen, die nun bei Wallstein neu erscheint. Der letztes Jahr verstorbene Henschen war ein verdienter, mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichneter Übersetzer und zugleich weit mehr als das. So, wie seine Ausgabe weit mehr als den Roman bietet: Es handelt sich um einen "Werkkomplex". Band eins enthält den Roman, Band zwei den Sottisier, Band drei die Transkription von Handschriften (französisch/deutsch), Band vier das "Wörterbuch der gemeinen Phrasen" (so hier der Titel). Alle Bände sind bei Eichborn in den Jahren von 2003 bis 2005 erschienen, allerdings nicht in einem Guss; auch hat Henschen, Übersetzer, Transkriptor, Herausgeber und Kommentator in einer Person, die Anmerkungen noch einmal um Hunderte Seiten bereichert.
Seine Ausgabe ist das Resultat eines über fast zwanzig Jahre betriebenen Projekts. Henschen will "Bouvard und Pécuchet" durch die Aufwertung von Teil zwei neu deuten: Er ist der erste Übersetzer, der die Vorstufen präsentiert - ein spannendes, gewagtes Unterfangen, für das es selbst in Frankreich kein Äquivalent gibt. Er baut freilich auf umstrittene Voraussetzungen, nämlich erstens, dass Flaubert die Form einer Enzyklopädie bewahrt, nicht doch die einer Erzählung gewählt hätte; letztere Option legen Briefpassagen nahe. Zweitens lässt er außer Acht, dass nicht alle Dossiers zur Verfügung stehen (Texte zu Geschichte und Ästhetik wurden nach Flauberts Tod verkauft), drittens, dass Materialien mehrfach zugeordnet werden können.
Materialien gibt es zuhauf: Die Arbeit am Roman begann Flaubert 1872, aber vorher hatte er ihn über Jahrzehnte begleitet; erste Spuren führen in die vierziger Jahre. Legenden ranken sich um "Bouvard und Pécuchet". Zunächst, dass der Roman unvollendbar sei, eine Idee, die auf dem Humus der Fragmentverehrung gediehen ist; ein Abschluss wäre durchaus denkbar gewesen, betont Henschen zu Recht. Dann der Gedanke, der Roman entlarve alle Erkenntnis als relativ: Tatsächlich ist Flaubert ein Anhänger skeptischen Wissens. Unseriöse Autoritäten bekommen ihr Fett weg, etwa der Arzt Vaucorbeil. Oft jedoch lacht der Leser auf Kosten der "Kellerasseln", wie Flaubert Bouvard und Pécuchet zärtlich nannte, zum Beispiel, als sie psychologische Selbstbeobachtung betreiben, "und volle zwei Wochen lang stöberten sie, gewöhnlich nach dem Frühstück, aufs Geratewohl in ihrem Bewusstsein herum, immer auf der Suche nach neuen Entdeckungen, fanden aber nichts, was sie sehr erstaunte". Für den Antidemokraten Flaubert war Wissen wenigen Privilegierten vorbehalten.
Schließlich wird die Komik oft unterschätzt. Der große Pécuchet, Junggeselle, dunkle Stimme, schwarzes Haar, bildet einen pointierten Kontrast zum kleinen, rundlichen Witwer Bouvard mit blonden Locken und kindlicher Art. Der eine ist Melancholiker, der andere Genießer, der eine Idealist, der andere Materialist: Flaubert stellt zwei Spieler für ein Ping-Pong der Ideen auf. Auch die praktische Anwendung ist alles andere als trocken: Flaubert serviert dem Leser teils deftige Szenen, in denen Hühner hypnotisiert, Gärten verwüstet, Pfarrer schockiert und Kühe geheilt werden.
Dennoch ist "Bouvard und Pécuchet" ein intellektuelles Buch, der unstillbare Drang nach Wissen ist Motor des Romans. Flaubert hat sich an Goethe orientiert, den er zu den absoluten Größen zählte, und zwei prosaische Faust-Imitate geschaffen: Die Kopisten verzweifeln ob philosophisch-existentieller Abgründe und wollen sich den Tod geben. Faust jedoch wird durch Ostergeläut gerettet, die Kopisten geben ihr Vorhaben aus banaleren Gründen auf, sehen eine Weihnachtsprozession und wenden sich der Religion zu. In Vorstufen finden sich Glocken sowie das Adjektiv "méphistophélique", beides hat Flaubert dann getilgt; man entdeckt sie nur, wenn man die Manuskripte konsultiert. Das geht bequem von zu Hause aus; das Centre Flaubert in Rouen hat den Roman mit allen Vorstufen frei ins Netz gestellt (http://flaubert.univ-rouen.fr/bouvard_et_pecuchet/).
Flauberts Romane, die man, wollte man sie um alle Notizen und Vorstufen ergänzen, nicht sinnvoll drucken kann, sind ein Beispiel dafür, welchen editorischen Nutzen das Internet bietet. Henschen behauptet, zumindest für die "Dossiers préparatoires" (die Materialien, Exzerpte und Notizen für Teil zwei) sei die Buchform unabdingbar - und stürzt sich in einen unverständlichen Kleinkrieg gegen Stéphanie Dord-Crouslé (CNRS/ENS Lyon), unter deren Leitung besagte Dossiers digitalisiert wurden (http://www.dossiers-flaubert.fr). Dord-Crouslé hat Wichtiges geleistet: Sie macht ein Konvolut von Notizen, Mitschriften, Skizzen, Materialien, das selbst für passionierte Leser oder Forscher nicht immer in allen Aspekten relevant ist, komplett zugänglich, und zwar in Faksimile-Version, diversen Transkriptionen, mit Metadaten, in verschiedenen Klassifikationen. Hier leistet das Internet wertvolle Dienste.
Darin eine Bedrohung klassischer Editionsarbeit zu sehen ist ein Fehlschluss: Eine Leseausgabe ist und bleibt notwendig. Henschen hat recht, wenn er darauf hinweist, sowie darauf, dass sie einen Editor voraussetzt, der eine Auswahl trifft. Allerdings muss dieser seine Arbeit und die Vorgehensweise gut erklären und den Leser an den Text heranführen. Das ist bei Henschen nicht immer der Fall. Man hätte sich mehr Deutlichkeit gewünscht: Entgegen der sonstigen wissenschaftlichen Sorgfalt verliert Henschen sich in Band 3 in einem Gestrüpp von Nachworten, lässt persönliche Leidenschaften schießen; auch das Verhältnis von Band 2 (Sottisier) und Band 3 (transkribierte Handschriften) hätte klarer bestimmt werden können. Immerhin aber gibt er selbst auf die Sprachfrage - warum ein Flaubert-Leser sich eine schöne, aber auch kostspielige, vierbändige Übersetzung kaufen sollte, statt zum Original zu greifen - eine gute Antwort: wegen Teil zwei.
Gustave Flaubert, "Bouvard und Pécuchet". Der Werkkomplex.
Hrsg. und aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 4 Bde., zus. 2064 S., 32 Abb., geb. im Schuber, bis zum 31. Januar 2018 99,- [Euro], danach 128,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Flauberts "Bouvard und Pécuchet" ist der größte Torso der Literaturgeschichte. Eine deutsche Ausgabe rekonstruiert ihn nun, so weit es möglich ist.
Von Niklas Bender
Gustave Flauberts vierter, unvollendet gebliebener Roman ist als offenes Versprechen in die Literaturgeschichte eingegangen. Als der Schriftsteller am 8. Mai 1880 mit 58 Jahren stirbt, hinterlässt er den Torso von "Bouvard und Pécuchet", jener "encyclopédie critique en farce", die das Wissen ihrer Zeit erfassen und komisch aufspießen sollte. Im "Wörterbuch der Gemeinplätze", einem Verzeichnis von stereotypen Denk- und Redeweisen, das moderner und postmoderner Sprachkritik zum Vorbild werden sollte, hat sie ihren bekanntesten Ausdruck gefunden.
Im ersten Teil befreunden sich die beiden Pariser Kopisten; als Bouvard erbt, beschließen sie, sich aufs Land zurückzuziehen und fortan ihrem Wissenseifer zu frönen. Sie finden einen Bauernhof in Chavignolles (Normandie), auf dem sie sich in alle denkbaren Wissensgebiete einlesen, diese diskutieren und versuchen, das Gelesene umzusetzen. Mit wechselnden Ergebnissen: "Urplötzlich zerbarst dann, mit dem Knall einer explodierenden Granate, der Destillierkolben in tausend Stücke, die bis zur Decke hinaufstoben, die Tiegel zerschmetterten, die Schaumlöffel platt walzten und die Gläser zerbrachen; die Kohlestückchen flogen umher, der Reflektorofen war dahin, und am nächsten Tag fand Germaine noch einen Spatel im Hof." So weit die Destillierversuche; die Landbevölkerung wird auf harte Proben gestellt.
Der erste Teil bricht kurz vor dem Ende ab: Er hätte mit Vorträgen schließen sollen sowie mit Bouvards und Pécuchets Plan, fortan wieder abzuschreiben. Teil zwei hätte dann das Ergebnis ihrer Kopierarbeit enthalten: den Sottisier, eine "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit", "Wörterbuch" inklusive. Im Sottisier erfährt man wunderbare Dinge, so in der Rubrik "Hass auf Romane": "Die modernen Romanciers verdienen zu viel Geld! Da haben Sie den Menschen der Herabwürdigung vor sich, den Feind der Gesellschaft, den Barbaren, der uns bedroht. (Pater Félix, ,Der Fortschritt durch das Christentum', 1856)" Diesen erbaulichen Eindruck gewährt die "Bouvard und Pécuchet"-Ausgabe von Hans-Horst Henschen, die nun bei Wallstein neu erscheint. Der letztes Jahr verstorbene Henschen war ein verdienter, mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichneter Übersetzer und zugleich weit mehr als das. So, wie seine Ausgabe weit mehr als den Roman bietet: Es handelt sich um einen "Werkkomplex". Band eins enthält den Roman, Band zwei den Sottisier, Band drei die Transkription von Handschriften (französisch/deutsch), Band vier das "Wörterbuch der gemeinen Phrasen" (so hier der Titel). Alle Bände sind bei Eichborn in den Jahren von 2003 bis 2005 erschienen, allerdings nicht in einem Guss; auch hat Henschen, Übersetzer, Transkriptor, Herausgeber und Kommentator in einer Person, die Anmerkungen noch einmal um Hunderte Seiten bereichert.
Seine Ausgabe ist das Resultat eines über fast zwanzig Jahre betriebenen Projekts. Henschen will "Bouvard und Pécuchet" durch die Aufwertung von Teil zwei neu deuten: Er ist der erste Übersetzer, der die Vorstufen präsentiert - ein spannendes, gewagtes Unterfangen, für das es selbst in Frankreich kein Äquivalent gibt. Er baut freilich auf umstrittene Voraussetzungen, nämlich erstens, dass Flaubert die Form einer Enzyklopädie bewahrt, nicht doch die einer Erzählung gewählt hätte; letztere Option legen Briefpassagen nahe. Zweitens lässt er außer Acht, dass nicht alle Dossiers zur Verfügung stehen (Texte zu Geschichte und Ästhetik wurden nach Flauberts Tod verkauft), drittens, dass Materialien mehrfach zugeordnet werden können.
Materialien gibt es zuhauf: Die Arbeit am Roman begann Flaubert 1872, aber vorher hatte er ihn über Jahrzehnte begleitet; erste Spuren führen in die vierziger Jahre. Legenden ranken sich um "Bouvard und Pécuchet". Zunächst, dass der Roman unvollendbar sei, eine Idee, die auf dem Humus der Fragmentverehrung gediehen ist; ein Abschluss wäre durchaus denkbar gewesen, betont Henschen zu Recht. Dann der Gedanke, der Roman entlarve alle Erkenntnis als relativ: Tatsächlich ist Flaubert ein Anhänger skeptischen Wissens. Unseriöse Autoritäten bekommen ihr Fett weg, etwa der Arzt Vaucorbeil. Oft jedoch lacht der Leser auf Kosten der "Kellerasseln", wie Flaubert Bouvard und Pécuchet zärtlich nannte, zum Beispiel, als sie psychologische Selbstbeobachtung betreiben, "und volle zwei Wochen lang stöberten sie, gewöhnlich nach dem Frühstück, aufs Geratewohl in ihrem Bewusstsein herum, immer auf der Suche nach neuen Entdeckungen, fanden aber nichts, was sie sehr erstaunte". Für den Antidemokraten Flaubert war Wissen wenigen Privilegierten vorbehalten.
Schließlich wird die Komik oft unterschätzt. Der große Pécuchet, Junggeselle, dunkle Stimme, schwarzes Haar, bildet einen pointierten Kontrast zum kleinen, rundlichen Witwer Bouvard mit blonden Locken und kindlicher Art. Der eine ist Melancholiker, der andere Genießer, der eine Idealist, der andere Materialist: Flaubert stellt zwei Spieler für ein Ping-Pong der Ideen auf. Auch die praktische Anwendung ist alles andere als trocken: Flaubert serviert dem Leser teils deftige Szenen, in denen Hühner hypnotisiert, Gärten verwüstet, Pfarrer schockiert und Kühe geheilt werden.
Dennoch ist "Bouvard und Pécuchet" ein intellektuelles Buch, der unstillbare Drang nach Wissen ist Motor des Romans. Flaubert hat sich an Goethe orientiert, den er zu den absoluten Größen zählte, und zwei prosaische Faust-Imitate geschaffen: Die Kopisten verzweifeln ob philosophisch-existentieller Abgründe und wollen sich den Tod geben. Faust jedoch wird durch Ostergeläut gerettet, die Kopisten geben ihr Vorhaben aus banaleren Gründen auf, sehen eine Weihnachtsprozession und wenden sich der Religion zu. In Vorstufen finden sich Glocken sowie das Adjektiv "méphistophélique", beides hat Flaubert dann getilgt; man entdeckt sie nur, wenn man die Manuskripte konsultiert. Das geht bequem von zu Hause aus; das Centre Flaubert in Rouen hat den Roman mit allen Vorstufen frei ins Netz gestellt (http://flaubert.univ-rouen.fr/bouvard_et_pecuchet/).
Flauberts Romane, die man, wollte man sie um alle Notizen und Vorstufen ergänzen, nicht sinnvoll drucken kann, sind ein Beispiel dafür, welchen editorischen Nutzen das Internet bietet. Henschen behauptet, zumindest für die "Dossiers préparatoires" (die Materialien, Exzerpte und Notizen für Teil zwei) sei die Buchform unabdingbar - und stürzt sich in einen unverständlichen Kleinkrieg gegen Stéphanie Dord-Crouslé (CNRS/ENS Lyon), unter deren Leitung besagte Dossiers digitalisiert wurden (http://www.dossiers-flaubert.fr). Dord-Crouslé hat Wichtiges geleistet: Sie macht ein Konvolut von Notizen, Mitschriften, Skizzen, Materialien, das selbst für passionierte Leser oder Forscher nicht immer in allen Aspekten relevant ist, komplett zugänglich, und zwar in Faksimile-Version, diversen Transkriptionen, mit Metadaten, in verschiedenen Klassifikationen. Hier leistet das Internet wertvolle Dienste.
Darin eine Bedrohung klassischer Editionsarbeit zu sehen ist ein Fehlschluss: Eine Leseausgabe ist und bleibt notwendig. Henschen hat recht, wenn er darauf hinweist, sowie darauf, dass sie einen Editor voraussetzt, der eine Auswahl trifft. Allerdings muss dieser seine Arbeit und die Vorgehensweise gut erklären und den Leser an den Text heranführen. Das ist bei Henschen nicht immer der Fall. Man hätte sich mehr Deutlichkeit gewünscht: Entgegen der sonstigen wissenschaftlichen Sorgfalt verliert Henschen sich in Band 3 in einem Gestrüpp von Nachworten, lässt persönliche Leidenschaften schießen; auch das Verhältnis von Band 2 (Sottisier) und Band 3 (transkribierte Handschriften) hätte klarer bestimmt werden können. Immerhin aber gibt er selbst auf die Sprachfrage - warum ein Flaubert-Leser sich eine schöne, aber auch kostspielige, vierbändige Übersetzung kaufen sollte, statt zum Original zu greifen - eine gute Antwort: wegen Teil zwei.
Gustave Flaubert, "Bouvard und Pécuchet". Der Werkkomplex.
Hrsg. und aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 4 Bde., zus. 2064 S., 32 Abb., geb. im Schuber, bis zum 31. Januar 2018 99,- [Euro], danach 128,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2017Das große Buch
vom Scheitern
Zum ersten Mal gibt es Gustave Flauberts Roman
„Bouvard und Pécuchet“ zusammen mit allen
Vor- und Nebenarbeiten: Und ein scheinbar
bekanntes Buch erscheint in völlig neuem Licht
VON THOMAS STEINFELD
Ein Rumor begleitet „Bouvard und Pécuchet“, den letzten Roman Gustave Flauberts: Eine grundstürzende Satire auf die bürgerliche Gesellschaft sei hier versucht worden. Urkomisch seien die beiden Helden, wie sie die Wissenschaft ihrer Zeit in das praktische Leben zu übertragen trachten. Doch habe sich der Schriftsteller übernommen. Das Werk habe gar nicht fertiggestellt werden können, aus logischen Gründen: Denn aus einer langen Kette von Torheiten entstünden ja immer wieder nur neue Torheiten. Deshalb ende nicht nur der Roman in lauter unausgeführten Ideen, sondern auch die zugehörigen Schriften, also vor allem die „Universalenzyklopädie der Dummheit“. Die neue, vierbändige Ausgabe dieses Werks ist geeignet, das Gerücht von Satire und Fragment zu widerlegen: Je tiefer man sich in diesen Berg aus Schriften gräbt, desto deutlicher wird, dass „Bouvard und Pécuchet“ ein Buch ist, das sich mit „Madame Bovary“ und der „Lehrjahre des Herzens“, den anderen beiden großen Romanen Gustave Flauberts, zumindest messen kann.
An einem Sonntag im Sommer, in der Mittagshitze, begegnen sich zwei Männer mittleren Alters auf einer Pariser Parkbank. Es dauert nicht lange, bis sie im jeweils anderen die verwandte Seele entdecken. Zudem teilen sie den Beruf: Beide arbeiten als Kopisten in einem Büro. Dann erbt Bouvard, und Pécuchet erhält eine Pension, sodass sich die beiden in der Normandie niederlassen können – um zuerst die Wissenschaft vom Ackerbau als Schwindel zu entlarven, dann die vom Obstbau, später die Chemie, dann die Anatomie, und so geht das fort, bis sie auch an Philosophie, Pädagogik und Moral verzweifeln und sich schließlich, im vollendeten Glück ihrer Niederlage, einen Schreibtisch mit doppeltem Pult anfertigen lassen, um zum Kopieren zurückkehren. Gewiss, man kann sagen, dass Bouvard und Pécuchet immer wieder denselben Fehler begehen, indem sie sich unter Wissenschaft einen Katalog von Regeln vorstellen, die zur praktischen Verwendung bestimmt sind – indem sie also von Argumenten nichts wissen und, was immer ihnen gedruckt begegnet, als Handreichung verstehen wollen.
Weitaus schwieriger aber ist es zu bestimmen, wie Gustave Flaubert sich zu diesem Irrtum verhält: Will er ihn entlarven? Kaum, denn dafür hätte er sich nicht so gründlich mit so vielen Wissenschaften beschäftigen müssen. Will er sich über die Menschen erheben, sich gar mit dem Selbstgenuss seiner Überlegenheit über ihre vermeintliche Dummheit trösten? Nein, denn er lässt er keinen Zweifel daran, dass die beiden ernsthaft nach Wahrheit suchen, auch wenn ihnen die dafür zur Verfügung stehenden Mittel unzureichend sind. Der im vergangenen Jahr gestorbene Münchner Übersetzer Hans-Horst Henschen hatte für dieses komplizierte Verhältnis einen angemessenen Ton gefunden, als er das Werk vor einigen Jahren für die „Andere Bibliothek“ (2003) neu ins Deutsche übertrug. Sie bildet das Zentrum der neuen Ausgabe.
Genauso wenig, wie man in „Madame Bovary“ mitgeteilt bekommt, wie Gustave Flaubert über seine Heldin denkt, genauso wenig, wie aus den „Lehrjahren des Herzens“ zu erfahren ist, was eigentlich – im moralischen Sinn – von Frédéric Moreau zu halten ist, genauso wenig urteilt der Autor über Bouvard und Pécuchet, wenn der Destillierkolben explodiert, in dem sie einen neuen Likör hatten schaffen wollen. Einem aufmerksamen Leser kann darüber hinaus spätestens nach einem Drittel der Lektüre nicht mehr entgehen, dass er sich zwar mit einem überaus realistisch wirkenden Roman beschäftigt, in der Mitte allen Realismus aber das Fantastische haust. Wie viele Leben hätten die beiden Helden eigentlich gebraucht, um all ihre Experimente durchzuführen, während zugleich erkennbar ist, dass sie sich in einer historisch identifizierbaren Zeit bewegen? Und wie oft hätte das kleine Vermögen der beiden wiederkehren müssen, so oft, wie es verbrannt, verpfändet, vergeudet, verschenkt und verloren wurde?
Die Antwort auf diese Fragen liegt in einem Werk verborgen, dessen Anfänge weit hinter den Beginn der Arbeiten an „Bouvard und Pécuchet“ im Jahr 1872 zurückgehen: auf die „Universalenzyklopädie der Gemeinplätze“, von der Gustave Flaubert gehofft hatte, sie zusammen mit dem Roman veröffentlichen zu können. Ein solches Wörterbuch, versprach er im Dezember 1852 seiner Freundin Louise Colet, werde ungeheuer einschlagen: „Das gesamte Buch hindurch dürfte es kein Wort geben, das auf meinem Mist gewachsen wäre, und hätte man es einmal gelesen, dürfte man sich nicht mehr trauen, den Mund aufzumachen aus Angst, von selbst eine der Phrasen zu sagen, die darin stehen.“ Am Ende und Ziel dieses Werkes herrschte Stille, und es wäre dieselbe Stille, die sich über das Haus von Bouvard und Pécuchet senkte, wenn die beiden endlich wieder an ihre Kopiertische zurückgekehrt wären. Es ist das Verdienst der neuen Ausgabe, dass sie den Roman und die „Enzyklopädie“ nebeneinanderstellt, einschließlich der handschriftlich überlieferten Notizen, Dossiers, Exzerpte – und also zu rekonstruieren sucht, was sich Gustave Flaubert unter diesem Werk womöglich vorgestellt hatte.
Dieses Nebeneinander von Roman und Nachschlagewerk ist selbstverständlich eine Konjektur, über die man streiten kann. Sie besitzt indessen den Vorteil, dass sich daraus ein intellektuelles Konzept ergibt, wie man es Gustave Flaubert zutraute. Denn in jener Stille steckt nicht nur eine Theorie der Gesellschaft, sondern auch eine der öffentlichen Repräsentation, und an dieser Theorie hat der Leser teil, lange schon bevor er bemerken kann, was dieses Buch mit ihm macht. Denn selbstverständlich weiß auch er nicht, was er sagen oder denken kann, ohne dass es in der „Enzyklopädie der Gemeinplätze“ verzeichnet wäre. Dann hält er sich vielleicht eine Weile an den Ereignissen fest, die ihm zuweilen wie Slapstick erscheinen, an der Geschichte vom explodierenden Destillierkolben zum Beispiel. Dahinter aber tut sich bald jene gnadenlose Stille auf.
In dieser Stille weiß man, dass nichts Gesellschaftliches geschieht, ohne dass die Dummheit sich darin niederließe und in sich selbst zu kreisen begänne – aus dem einfachen Grund, aus dem der französische Ausdruck „idées reçues“ im Titel dieses Werkes mit dem Wort „Gemeinplätze“ richtig übersetzt ist: Denn es sind die gebrauchten, die bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffenen Gedanken, über die man sich am leichtesten verständigt, und kaum, dass sie ergriffen sind, beginnen sie neue Dummheiten hervorzubringen. Je weiter man in diesen Werkkosmos vordringt, desto mehr ist es deshalb, als bekomme man etwa zu Samuel Becketts Dramen die philosophische und literarische Begründung geliefert – wiederum in Gestalt eines literarischen Werks. So betrachtet, im Ensemble der Vor- und Nebenarbeiten, stellt sich Gustave Flauberts Roman „Bouvard und Pécuchet“ als eine ungeheure Errungenschaft dar: moderner, unerbittlicher, aber auch liebe- und verständnisvoller, als es der Roman der ästhetischen Moderne dann wurde.
Will Flaubert die Irrtümer
seiner Figuren entlarven?
Will er sich über sie erheben?
Leicht einigt man sich über die
bis zur Unkenntlichkeit
abgeschliffenen Gedanken
Gustave Flaubert:
Bouvard und Pécuchet.
Der Werkkomplex. Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt, annotiert und mit einem Nachwort versehen von Hans-Horst Henschen. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 4 Bände., 2066 Seiten, 128 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
vom Scheitern
Zum ersten Mal gibt es Gustave Flauberts Roman
„Bouvard und Pécuchet“ zusammen mit allen
Vor- und Nebenarbeiten: Und ein scheinbar
bekanntes Buch erscheint in völlig neuem Licht
VON THOMAS STEINFELD
Ein Rumor begleitet „Bouvard und Pécuchet“, den letzten Roman Gustave Flauberts: Eine grundstürzende Satire auf die bürgerliche Gesellschaft sei hier versucht worden. Urkomisch seien die beiden Helden, wie sie die Wissenschaft ihrer Zeit in das praktische Leben zu übertragen trachten. Doch habe sich der Schriftsteller übernommen. Das Werk habe gar nicht fertiggestellt werden können, aus logischen Gründen: Denn aus einer langen Kette von Torheiten entstünden ja immer wieder nur neue Torheiten. Deshalb ende nicht nur der Roman in lauter unausgeführten Ideen, sondern auch die zugehörigen Schriften, also vor allem die „Universalenzyklopädie der Dummheit“. Die neue, vierbändige Ausgabe dieses Werks ist geeignet, das Gerücht von Satire und Fragment zu widerlegen: Je tiefer man sich in diesen Berg aus Schriften gräbt, desto deutlicher wird, dass „Bouvard und Pécuchet“ ein Buch ist, das sich mit „Madame Bovary“ und der „Lehrjahre des Herzens“, den anderen beiden großen Romanen Gustave Flauberts, zumindest messen kann.
An einem Sonntag im Sommer, in der Mittagshitze, begegnen sich zwei Männer mittleren Alters auf einer Pariser Parkbank. Es dauert nicht lange, bis sie im jeweils anderen die verwandte Seele entdecken. Zudem teilen sie den Beruf: Beide arbeiten als Kopisten in einem Büro. Dann erbt Bouvard, und Pécuchet erhält eine Pension, sodass sich die beiden in der Normandie niederlassen können – um zuerst die Wissenschaft vom Ackerbau als Schwindel zu entlarven, dann die vom Obstbau, später die Chemie, dann die Anatomie, und so geht das fort, bis sie auch an Philosophie, Pädagogik und Moral verzweifeln und sich schließlich, im vollendeten Glück ihrer Niederlage, einen Schreibtisch mit doppeltem Pult anfertigen lassen, um zum Kopieren zurückkehren. Gewiss, man kann sagen, dass Bouvard und Pécuchet immer wieder denselben Fehler begehen, indem sie sich unter Wissenschaft einen Katalog von Regeln vorstellen, die zur praktischen Verwendung bestimmt sind – indem sie also von Argumenten nichts wissen und, was immer ihnen gedruckt begegnet, als Handreichung verstehen wollen.
Weitaus schwieriger aber ist es zu bestimmen, wie Gustave Flaubert sich zu diesem Irrtum verhält: Will er ihn entlarven? Kaum, denn dafür hätte er sich nicht so gründlich mit so vielen Wissenschaften beschäftigen müssen. Will er sich über die Menschen erheben, sich gar mit dem Selbstgenuss seiner Überlegenheit über ihre vermeintliche Dummheit trösten? Nein, denn er lässt er keinen Zweifel daran, dass die beiden ernsthaft nach Wahrheit suchen, auch wenn ihnen die dafür zur Verfügung stehenden Mittel unzureichend sind. Der im vergangenen Jahr gestorbene Münchner Übersetzer Hans-Horst Henschen hatte für dieses komplizierte Verhältnis einen angemessenen Ton gefunden, als er das Werk vor einigen Jahren für die „Andere Bibliothek“ (2003) neu ins Deutsche übertrug. Sie bildet das Zentrum der neuen Ausgabe.
Genauso wenig, wie man in „Madame Bovary“ mitgeteilt bekommt, wie Gustave Flaubert über seine Heldin denkt, genauso wenig, wie aus den „Lehrjahren des Herzens“ zu erfahren ist, was eigentlich – im moralischen Sinn – von Frédéric Moreau zu halten ist, genauso wenig urteilt der Autor über Bouvard und Pécuchet, wenn der Destillierkolben explodiert, in dem sie einen neuen Likör hatten schaffen wollen. Einem aufmerksamen Leser kann darüber hinaus spätestens nach einem Drittel der Lektüre nicht mehr entgehen, dass er sich zwar mit einem überaus realistisch wirkenden Roman beschäftigt, in der Mitte allen Realismus aber das Fantastische haust. Wie viele Leben hätten die beiden Helden eigentlich gebraucht, um all ihre Experimente durchzuführen, während zugleich erkennbar ist, dass sie sich in einer historisch identifizierbaren Zeit bewegen? Und wie oft hätte das kleine Vermögen der beiden wiederkehren müssen, so oft, wie es verbrannt, verpfändet, vergeudet, verschenkt und verloren wurde?
Die Antwort auf diese Fragen liegt in einem Werk verborgen, dessen Anfänge weit hinter den Beginn der Arbeiten an „Bouvard und Pécuchet“ im Jahr 1872 zurückgehen: auf die „Universalenzyklopädie der Gemeinplätze“, von der Gustave Flaubert gehofft hatte, sie zusammen mit dem Roman veröffentlichen zu können. Ein solches Wörterbuch, versprach er im Dezember 1852 seiner Freundin Louise Colet, werde ungeheuer einschlagen: „Das gesamte Buch hindurch dürfte es kein Wort geben, das auf meinem Mist gewachsen wäre, und hätte man es einmal gelesen, dürfte man sich nicht mehr trauen, den Mund aufzumachen aus Angst, von selbst eine der Phrasen zu sagen, die darin stehen.“ Am Ende und Ziel dieses Werkes herrschte Stille, und es wäre dieselbe Stille, die sich über das Haus von Bouvard und Pécuchet senkte, wenn die beiden endlich wieder an ihre Kopiertische zurückgekehrt wären. Es ist das Verdienst der neuen Ausgabe, dass sie den Roman und die „Enzyklopädie“ nebeneinanderstellt, einschließlich der handschriftlich überlieferten Notizen, Dossiers, Exzerpte – und also zu rekonstruieren sucht, was sich Gustave Flaubert unter diesem Werk womöglich vorgestellt hatte.
Dieses Nebeneinander von Roman und Nachschlagewerk ist selbstverständlich eine Konjektur, über die man streiten kann. Sie besitzt indessen den Vorteil, dass sich daraus ein intellektuelles Konzept ergibt, wie man es Gustave Flaubert zutraute. Denn in jener Stille steckt nicht nur eine Theorie der Gesellschaft, sondern auch eine der öffentlichen Repräsentation, und an dieser Theorie hat der Leser teil, lange schon bevor er bemerken kann, was dieses Buch mit ihm macht. Denn selbstverständlich weiß auch er nicht, was er sagen oder denken kann, ohne dass es in der „Enzyklopädie der Gemeinplätze“ verzeichnet wäre. Dann hält er sich vielleicht eine Weile an den Ereignissen fest, die ihm zuweilen wie Slapstick erscheinen, an der Geschichte vom explodierenden Destillierkolben zum Beispiel. Dahinter aber tut sich bald jene gnadenlose Stille auf.
In dieser Stille weiß man, dass nichts Gesellschaftliches geschieht, ohne dass die Dummheit sich darin niederließe und in sich selbst zu kreisen begänne – aus dem einfachen Grund, aus dem der französische Ausdruck „idées reçues“ im Titel dieses Werkes mit dem Wort „Gemeinplätze“ richtig übersetzt ist: Denn es sind die gebrauchten, die bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffenen Gedanken, über die man sich am leichtesten verständigt, und kaum, dass sie ergriffen sind, beginnen sie neue Dummheiten hervorzubringen. Je weiter man in diesen Werkkosmos vordringt, desto mehr ist es deshalb, als bekomme man etwa zu Samuel Becketts Dramen die philosophische und literarische Begründung geliefert – wiederum in Gestalt eines literarischen Werks. So betrachtet, im Ensemble der Vor- und Nebenarbeiten, stellt sich Gustave Flauberts Roman „Bouvard und Pécuchet“ als eine ungeheure Errungenschaft dar: moderner, unerbittlicher, aber auch liebe- und verständnisvoller, als es der Roman der ästhetischen Moderne dann wurde.
Will Flaubert die Irrtümer
seiner Figuren entlarven?
Will er sich über sie erheben?
Leicht einigt man sich über die
bis zur Unkenntlichkeit
abgeschliffenen Gedanken
Gustave Flaubert:
Bouvard und Pécuchet.
Der Werkkomplex. Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt, annotiert und mit einem Nachwort versehen von Hans-Horst Henschen. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 4 Bände., 2066 Seiten, 128 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Der Roman ist, (...) sehr komisch, und die Komik liegt im Missverhältnis zwischen Anspruch und Können.« (Elke Heidenreich, Kölner Stadt-Anzeiger, 08./09.05.2021) »Es gibt jede Menge günstigerer Ausgaben, aber keine so präzise wie diese!« (Das Magazin, Dezember 2021)