Vom Glück, sich dem Unbekannten zu überlassenEin Mann lässt alles hinter sich: seine Stadt, sein Land, sein bisheriges Leben. Mit nicht viel mehr als einer Hängematte und ein paar Schreibheften im Gepäck steigt er in einen Zug Richtung Süden: Andalusien. Der Name zieht ihn an. Der Zufall bringt ihn nach Cabo de Gata, ein Fischerdorf an der Mittelmeerküste. Die Landschaft ist öde; ein kalter Wind weht. Kein Ort zum Verweilen. Und doch bleibt er als einziger Gast in einer Pension der alten Wirtin, die ihm unerklärlich feindselig erscheint, so abweisend wie alles hier.Es ist, als hätten sie etwas zu verbergen: die Frau mit dem Gipsbein, der Fischer, der ständig sein Boot repariert, die beiden alten Männer im Pyjama, die sich jeden Morgen auf der Promenade anschreien. Das einzige Wesen, zu dem der Reisende schließlich Kontakt findet, ist - eine Katze. Und plötzlich glaubt er zu begreifen, dass sie ihm etwas sagen will.Eugen Ruge erzählt vom Scheitern einer Sehnsucht und von dem Glück, sich dem Unbekannten zu überlassen; er erzählt von Flucht, aber auch vom Ankommen. Ein Glanzstück novellistischer Prosa, im Wechselspiel von Erfindung und Erfahrung liegt seine Wahrhaftigkeit - und auch seine Kunst. Manche Geschichten muss man erfinden, um zu erzählen, wie es war.
CD 1 | |||
1 | Die Kündigung | 00:05:24 | |
2 | Die Kündigung | 00:04:47 | |
3 | Die Kündigung | 00:04:24 | |
4 | Die Kündigung | 00:02:48 | |
5 | Die Kündigung | 00:05:46 | |
6 | Die Kündigung | 00:03:58 | |
7 | Die Kündigung | 00:04:03 | |
8 | Die Kündigung | 00:03:58 | |
9 | Die Kündigung | 00:04:24 | |
10 | Die Kündigung | 00:04:50 | |
11 | Die Kündigung | 00:06:19 | |
12 | Die Kündigung | 00:03:52 | |
13 | Die Kündigung | 00:02:50 | |
14 | Die Kündigung | 00:04:12 | |
15 | Die Kündigung | 00:03:39 | |
16 | Die Kündigung | 00:03:26 | |
CD 2 | |||
1 | Der Krebs | 00:05:40 | |
2 | Der Krebs | 00:05:43 | |
3 | Der Krebs | 00:04:56 | |
4 | Der Krebs | 00:04:52 | |
5 | Der Krebs | 00:04:47 | |
6 | Der Krebs | 00:03:47 | |
7 | Der Krebs | 00:05:09 | |
8 | Der Krebs | 00:05:12 | |
9 | Der Krebs | 00:06:41 | |
10 | Der Krebs | 00:05:57 | |
11 | Der Krebs | 00:04:38 | |
12 | Der Krebs | 00:03:03 | |
13 | Der Krebs | 00:06:09 | |
14 | Der Krebs | 00:05:54 | |
CD 3 | |||
1 | Die Katze | 00:05:33 | |
2 | Die Katze | 00:04:34 | |
3 | Die Katze | 00:03:52 | |
4 | Die Katze | 00:05:03 | |
5 | Die Katze | 00:05:57 | |
6 | Die Katze | 00:03:22 | |
7 | Die Katze | 00:08:06 | |
8 | Die Katze | 00:06:09 | |
9 | Die Katze | 00:05:38 | |
10 | Die Katze | 00:04:53 | |
11 | Die Katze | 00:05:30 | |
12 | Die Katze | 00:03:27 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2013Die andalusische Katze
Erinnern und erfinden: Seinem epischen Abgesang auf die DDR lässt Eugen Ruge eine Novelle folgen - "Cabo de Gata" erzählt von einem Schriftsteller in der Krise
Luis Buñuel ist schuld, dass der Mann bis in die späten neunziger Jahre nicht wusste, dass Andalusien wirklich existiert. Einige Jahre zuvor hatte er in Ostberlin, noch zu DDR-Zeiten, "Ein andalusischer Hund" gesehen. An den Inhalt konnte er sich kaum erinnern, zumal die Umstände der Aufführung in einem halb legalen, eiskalten Kino mit einer Kopie, die dauernd riss, kaum weniger surrealistisch anmuteten als der Film selbst. Was den Erzähler aber beeindruckte, war der Titel, der sich ihm vielleicht gerade deshalb einprägte, weil er ihn nicht ganz verstand: "Ich brachte das Wort andalusisch in keiner Weise mit Geographie in Verbindung, sondern hielt es für eine Art Phantasie-Adjektiv, dessen Bedeutung ich in der Nähe von ,wunderbar' oder ,zauberhaft' wähnte."
So erinnert sich der Held in Eugen Ruges neuem Roman, oder zumindest meint er, sich so zu erinnern, denn er weiß natürlich, dass das Gedächtnis alle Vergegenwärtigung immer wieder neu erfindet. Von dieser Spannung zwischen Erinnern und Erfinden, dem Wechselspiel literarischer Konstruktion und dem Vortäuschen vermeintlicher Authentizität handelt diese gleichnishafte Erzählung.
Andalusien, das klang nicht nur fremd wie die Namen all der Orte, die unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang lagen, es musste vielmehr "ein Märchenort" sein. Und dann entdeckt unser Erzähler eines Tages per Zufall in einem Reiseführer, dass es die Landschaft wirklich gibt. Da er sich ohnehin gerade in Barcelona aufhält, ohne zu wissen, was er in dieser Stadt mit ihrem "steingewordenen Wahn" will, steigt er in den Nachtbus nach Andalusien, Richtung Cabo de Gata, das vom Reiseführer als romantisches Fischerdorf gerühmt wird.
Der Erzähler, der uns die Geschichte der folgenden vier Monate aus dem Abstand von fünfzehn Jahren erzählt, ohne auf Hilfsmittel wie Internet oder Literatur zurückgreifen zu wollen (weshalb Sätze oft mit "Ich erinnere mich, dass. . ." beginnen), ist zu diesem Zeitpunkt längst kein Mathematiker mehr, sondern Autor, leider erfolglos, und auch die DDR gibt es nicht mehr, und Cabo de Gata entpuppt sich, wen wundert's, als äußerst unbehaglich.
Geschichten erzählen heißt Erfahrungen weitergeben, hat Eugen Ruge einmal gesagt. Seinem neuen Roman, der, benannt nach besagtem "Cabo de Gata", dieser Tage erscheint, stellt er eine Widmung voran, die ganz ähnlich klingt: "Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war." Das Verfahren hat Eugen Ruge bereits in seinem gefeierten Debüt "In Zeiten des abnehmenden Lichts" angewandt, das der Mathematiker und spätere Dramatiker mit Mitte fünfzig vorlegte, wofür er 2011 den Deutschen Buchpreis bekam. Darin erzählt er die Geschichte seiner Familie zwischen der DDR, dem Ural und Mexiko, zwischen Anpassung und Widerspruch, zwischen 1950 und 2001.
Knapp zwei Jahre später folgt sein zweiter Roman. Das kann eine Hürde sein, und vielleicht hat Ruge deshalb diesmal alles anders gemacht, zumindest auf den ersten Blick. Dem damals weit gespannten Bogen über mehrere Kontinente und Jahrzehnte folgt nun eine Novelle, die, kaum halb so lang, aus der Perspektive eines namenlosen Ich-Erzählers geschrieben, sich in Zeit und Raum begrenzt. Es ist nicht die Geschichte einer stolzen Familie und ihres Niedergangs, sondern umgekehrt die eines Mannes, der, pleite, geschieden und erfolglos, sich auf den Weg macht, etwas Neues zu finden. Obwohl seine finanzielle Lage schon in Berlin so prekär ist, dass er bei jeder Tasse Kaffee überlegen muss, ob er sie sich leisten kann, sagt er sich von seinen Möbeln, seinem Telefonanschluss und seinen Versicherungen los und verlässt an einem Neujahrsmorgen die Stadt, das Land und sein bisheriges Leben. Er will nichts festhalten, was ihm nicht mehr zusteht, er bricht einfach auf. Das allerdings ist leichter gedacht als getan, und was wie eine erborgte Männerphantasie mit Risiken und Nebenwirkungen wirkt, erweist sich in Eugen Ruges lakonischer und genau beobachtender Erzählung als derart realitätsorientiert, dass man meint, er habe diesen Aufbruch und diese Reise so erlebt. Und war der Autor vor Jahren nicht tatsächlich selbst in Spanien?
Doch wie weit trägt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt? Denn auch wenn Ruge mit dem autobiographischen Hintergrund spielt, geht es hier doch viel weniger darum, ob sich etwas so zugetragen hat. Die Frage ist, ob es sich so zugetragen haben könnte.
Dass die Ankunft des Erzählers in Cabo de Gata nüchtern ausfällt, kann niemanden wundern. Kein "Hauch von Afrika", nirgends, statt dessen Müllhalden links und rechts der Straßen, dazu Bauschutt, zerbrochene Fliesen und Scherben wohin man blickt. "Das letzte Paradies in Europa" steht auf einem Schild am Wegesrand dieser Geisterstadt, deren Häuser entlang der Promenade sich in einem Stadium "zwischen noch ausstehender Vollendung und beginnendem Verfall" befinden.
Und doch, man begreift auch dies, kommt der Erzähler, ein durchaus verschlossener verkopfter Typ, der unter seiner zwanghaften Pedanterie selbst am allermeisten leidet, aus dem Nest nicht wieder fort. Im Gegenteil: Er fühlt sich in der schäbigen Pension mit einer Wirtin, die ihm fast feindselig gesinnt ist, zunehmend wohl. Vielleicht gelingt es hier, so seine Hoffnung, das Werk, den unvollendeten Roman zu beenden?
Einhundertdreiundzwanzig Tage harrt er aus, die Schreibblockade gerät mehr und mehr zur Komödie, wenn er vormittags erste Sätze schreibt, die er nachmittags wieder herausreißt, so lange, bis sein blaues Ringbuch keine Seiten mehr hat. Statt eines Plots entwickelt der Schriftsteller Marotten. Er wandert durchs Dorf, sammelt Muscheln für alle Frauen, die es in seinem Leben je gegeben hat, liest täglich "El País", allerdings immer dieselbe Ausgabe, und freundet sich schließlich mit einer rot getigerten Katze an. Darauf kommt es dann auch nicht mehr an.
Das eigentliche Wunder dieses Buches ist, wie unaufgeregt, ja fast heiter Ruge von diesem Scheitern erzählt, von all den missglückten Rettungsversuchen und dem Versuch, sich der Fremde anzuvertrauen: Noch nie habe er so gefroren wie hier im Süden, gesteht der Erzähler, "und noch nie hatte ich der Sonne gegenüber so etwas empfunden wie - Dankbarkeit". Der Roman wird auch nach vier Monaten nicht geschrieben sein, aber Rettung hält die Katzenbucht, wie sich der Erzähler den Ortsnamen Cabo de Gata schließlich übersetzt, doch bereit: Sie liegt im Aufbruch und in der Erkenntnis, dass er vergeblich hier ist. Weil das, worauf er hofft, nicht eintreten kann - und zwar gerade weil er darauf hofft.
Eugen Ruge notiert am Ende, dass der Text zwischen November 2011 und August 2012 entstanden ist, also kurz nachdem er den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Dass er sich im Augenblick des Triumphs an das Gefühl von Niederlage erinnert, ist eine hübsche Volte. Aber wem sind wir hier begegnet? Einem Erzähler, der scheitert, weil er den eigenen Ton nicht findet? Oder einem Schriftsteller, der im Begriff ist, sich aus seiner Verschalung zu befreien?
Einmal beschreibt der Autor, wie er am Hafen zwischen den Booten umhergeht. Ein früher Morgen, das Licht wirft harte Schatten. Man feilscht um Mengen und Preise. Fische werden gewogen und in Plastiktüten verpackt. "An all das erinnere ich mich allerdings nur vage, und so, als wäre es ohne Ton abgelaufen". Jetzt gibt es auch den Ton zur Erinnerung, und er stimmt.
SANDRA KEGEL
Eugen Ruge: "Cabo de Gata".
Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013. 208 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnern und erfinden: Seinem epischen Abgesang auf die DDR lässt Eugen Ruge eine Novelle folgen - "Cabo de Gata" erzählt von einem Schriftsteller in der Krise
Luis Buñuel ist schuld, dass der Mann bis in die späten neunziger Jahre nicht wusste, dass Andalusien wirklich existiert. Einige Jahre zuvor hatte er in Ostberlin, noch zu DDR-Zeiten, "Ein andalusischer Hund" gesehen. An den Inhalt konnte er sich kaum erinnern, zumal die Umstände der Aufführung in einem halb legalen, eiskalten Kino mit einer Kopie, die dauernd riss, kaum weniger surrealistisch anmuteten als der Film selbst. Was den Erzähler aber beeindruckte, war der Titel, der sich ihm vielleicht gerade deshalb einprägte, weil er ihn nicht ganz verstand: "Ich brachte das Wort andalusisch in keiner Weise mit Geographie in Verbindung, sondern hielt es für eine Art Phantasie-Adjektiv, dessen Bedeutung ich in der Nähe von ,wunderbar' oder ,zauberhaft' wähnte."
So erinnert sich der Held in Eugen Ruges neuem Roman, oder zumindest meint er, sich so zu erinnern, denn er weiß natürlich, dass das Gedächtnis alle Vergegenwärtigung immer wieder neu erfindet. Von dieser Spannung zwischen Erinnern und Erfinden, dem Wechselspiel literarischer Konstruktion und dem Vortäuschen vermeintlicher Authentizität handelt diese gleichnishafte Erzählung.
Andalusien, das klang nicht nur fremd wie die Namen all der Orte, die unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang lagen, es musste vielmehr "ein Märchenort" sein. Und dann entdeckt unser Erzähler eines Tages per Zufall in einem Reiseführer, dass es die Landschaft wirklich gibt. Da er sich ohnehin gerade in Barcelona aufhält, ohne zu wissen, was er in dieser Stadt mit ihrem "steingewordenen Wahn" will, steigt er in den Nachtbus nach Andalusien, Richtung Cabo de Gata, das vom Reiseführer als romantisches Fischerdorf gerühmt wird.
Der Erzähler, der uns die Geschichte der folgenden vier Monate aus dem Abstand von fünfzehn Jahren erzählt, ohne auf Hilfsmittel wie Internet oder Literatur zurückgreifen zu wollen (weshalb Sätze oft mit "Ich erinnere mich, dass. . ." beginnen), ist zu diesem Zeitpunkt längst kein Mathematiker mehr, sondern Autor, leider erfolglos, und auch die DDR gibt es nicht mehr, und Cabo de Gata entpuppt sich, wen wundert's, als äußerst unbehaglich.
Geschichten erzählen heißt Erfahrungen weitergeben, hat Eugen Ruge einmal gesagt. Seinem neuen Roman, der, benannt nach besagtem "Cabo de Gata", dieser Tage erscheint, stellt er eine Widmung voran, die ganz ähnlich klingt: "Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war." Das Verfahren hat Eugen Ruge bereits in seinem gefeierten Debüt "In Zeiten des abnehmenden Lichts" angewandt, das der Mathematiker und spätere Dramatiker mit Mitte fünfzig vorlegte, wofür er 2011 den Deutschen Buchpreis bekam. Darin erzählt er die Geschichte seiner Familie zwischen der DDR, dem Ural und Mexiko, zwischen Anpassung und Widerspruch, zwischen 1950 und 2001.
Knapp zwei Jahre später folgt sein zweiter Roman. Das kann eine Hürde sein, und vielleicht hat Ruge deshalb diesmal alles anders gemacht, zumindest auf den ersten Blick. Dem damals weit gespannten Bogen über mehrere Kontinente und Jahrzehnte folgt nun eine Novelle, die, kaum halb so lang, aus der Perspektive eines namenlosen Ich-Erzählers geschrieben, sich in Zeit und Raum begrenzt. Es ist nicht die Geschichte einer stolzen Familie und ihres Niedergangs, sondern umgekehrt die eines Mannes, der, pleite, geschieden und erfolglos, sich auf den Weg macht, etwas Neues zu finden. Obwohl seine finanzielle Lage schon in Berlin so prekär ist, dass er bei jeder Tasse Kaffee überlegen muss, ob er sie sich leisten kann, sagt er sich von seinen Möbeln, seinem Telefonanschluss und seinen Versicherungen los und verlässt an einem Neujahrsmorgen die Stadt, das Land und sein bisheriges Leben. Er will nichts festhalten, was ihm nicht mehr zusteht, er bricht einfach auf. Das allerdings ist leichter gedacht als getan, und was wie eine erborgte Männerphantasie mit Risiken und Nebenwirkungen wirkt, erweist sich in Eugen Ruges lakonischer und genau beobachtender Erzählung als derart realitätsorientiert, dass man meint, er habe diesen Aufbruch und diese Reise so erlebt. Und war der Autor vor Jahren nicht tatsächlich selbst in Spanien?
Doch wie weit trägt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt? Denn auch wenn Ruge mit dem autobiographischen Hintergrund spielt, geht es hier doch viel weniger darum, ob sich etwas so zugetragen hat. Die Frage ist, ob es sich so zugetragen haben könnte.
Dass die Ankunft des Erzählers in Cabo de Gata nüchtern ausfällt, kann niemanden wundern. Kein "Hauch von Afrika", nirgends, statt dessen Müllhalden links und rechts der Straßen, dazu Bauschutt, zerbrochene Fliesen und Scherben wohin man blickt. "Das letzte Paradies in Europa" steht auf einem Schild am Wegesrand dieser Geisterstadt, deren Häuser entlang der Promenade sich in einem Stadium "zwischen noch ausstehender Vollendung und beginnendem Verfall" befinden.
Und doch, man begreift auch dies, kommt der Erzähler, ein durchaus verschlossener verkopfter Typ, der unter seiner zwanghaften Pedanterie selbst am allermeisten leidet, aus dem Nest nicht wieder fort. Im Gegenteil: Er fühlt sich in der schäbigen Pension mit einer Wirtin, die ihm fast feindselig gesinnt ist, zunehmend wohl. Vielleicht gelingt es hier, so seine Hoffnung, das Werk, den unvollendeten Roman zu beenden?
Einhundertdreiundzwanzig Tage harrt er aus, die Schreibblockade gerät mehr und mehr zur Komödie, wenn er vormittags erste Sätze schreibt, die er nachmittags wieder herausreißt, so lange, bis sein blaues Ringbuch keine Seiten mehr hat. Statt eines Plots entwickelt der Schriftsteller Marotten. Er wandert durchs Dorf, sammelt Muscheln für alle Frauen, die es in seinem Leben je gegeben hat, liest täglich "El País", allerdings immer dieselbe Ausgabe, und freundet sich schließlich mit einer rot getigerten Katze an. Darauf kommt es dann auch nicht mehr an.
Das eigentliche Wunder dieses Buches ist, wie unaufgeregt, ja fast heiter Ruge von diesem Scheitern erzählt, von all den missglückten Rettungsversuchen und dem Versuch, sich der Fremde anzuvertrauen: Noch nie habe er so gefroren wie hier im Süden, gesteht der Erzähler, "und noch nie hatte ich der Sonne gegenüber so etwas empfunden wie - Dankbarkeit". Der Roman wird auch nach vier Monaten nicht geschrieben sein, aber Rettung hält die Katzenbucht, wie sich der Erzähler den Ortsnamen Cabo de Gata schließlich übersetzt, doch bereit: Sie liegt im Aufbruch und in der Erkenntnis, dass er vergeblich hier ist. Weil das, worauf er hofft, nicht eintreten kann - und zwar gerade weil er darauf hofft.
Eugen Ruge notiert am Ende, dass der Text zwischen November 2011 und August 2012 entstanden ist, also kurz nachdem er den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Dass er sich im Augenblick des Triumphs an das Gefühl von Niederlage erinnert, ist eine hübsche Volte. Aber wem sind wir hier begegnet? Einem Erzähler, der scheitert, weil er den eigenen Ton nicht findet? Oder einem Schriftsteller, der im Begriff ist, sich aus seiner Verschalung zu befreien?
Einmal beschreibt der Autor, wie er am Hafen zwischen den Booten umhergeht. Ein früher Morgen, das Licht wirft harte Schatten. Man feilscht um Mengen und Preise. Fische werden gewogen und in Plastiktüten verpackt. "An all das erinnere ich mich allerdings nur vage, und so, als wäre es ohne Ton abgelaufen". Jetzt gibt es auch den Ton zur Erinnerung, und er stimmt.
SANDRA KEGEL
Eugen Ruge: "Cabo de Gata".
Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013. 208 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ruge ist ein Meister des konkreten, sinnlichen Details. (...) ein fabelhafter Roman. Focus