Als Geheimagentin Verity im Oktober 1943 in feindlichem Gebiet, im von den Nazis besetzten Frankreich, gefasst wird, erwartet sie ihr schlimmster Albtraum. Die Gestapo hält sie in einem alten Hotel gefangen und ihre Verhörer drohen ihr mit grausamer Folter, um Informationen über die britischen Truppen und Wissen über die Kriegsanstrengungen der Alliierten zu erfahren. Verity wurde mit den Ausweispapieren ihrer Pilotin und besten Freundin Maddie festgenommen. Das Flugzeug, in dem sie beide von England nach Frankreich flogen, wurde unterwegs beschädigt, doch die Spionin konnte vor Absturz mit ihrem Fallschirm abspringen. Die Erinnerung an Maddie und ihre unvergleichliche Freundschaft wird zum Mittelpunkt von Veritys Geständnis und der bewegende Bericht über ihre eigene Vergangenheit zugleich eine Art Abschiedsbrief. Auf jedem neuen Fetzen Papier kämpft Verity um ihr Leben, konfrontiert sich mit ihren Überzeugungen über Mut und Versagen sowie ihrer verzweifelten Hoffnung, es nach Hause zu schaffen. Wird sie ihre Mission verraten? Wird die Preisgabe ihrer Geheimnisse ausreichen, um sich vielleicht doch zu befreien? Und was ist eigentlich wahr?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2024Eine Spionin erzählt
In „Code Name Verity“ kämpfen zwei
junge Frauen im Zweiten Weltkrieg.
Eine Spionin schreibt einen Roman, das ist die kühne Konstruktion dieses Buchs – und sein erster Teil – „Verity“ – ist eben dieser „Roman“. Sie schreibt nicht in der Rückschau, autobiografisch, sondern mittendrin im aktiven Dienst, als Teil ihrer Arbeit, und ausgerechnet für ihren Feind. Es ist der Oktober 1943. Die junge Frau, sie trägt im Dienst für den britischen Geheimdienst den Codenamen Verity, ist über dem von den Deutschen besetzten Frankreich in einer geheimen Mission abgesprungen und schnell geschnappt worden – ein Verkehrsunfall, sie hat, an den Linksverkehr in England gewöhnt, beim Überqueren der Straße erst nach rechts geguckt.
Nun sitzt sie eingekerkert im einstigen Château de Bordeaux, einem Hotel, das die Gestapo zu ihrem Gefängnis gemacht hat, wo sie aus jungen Widerständlern Informationen herauszufoltern versucht. Château des bourreaux heißt es nun bei den Franzosen, Schloss der Schlächter. Auch Verity – ihr wirklicher Name Julie fällt erst spät im Buch, sie stammt aus einer schottischen Familie, die William Wallace und Mary Stuart unter den Vorfahren hat – wird erniedrigt und gefoltert. Schließlich macht sie einen Deal mit dem Gestapo-Hauptsturmführer Amadeus von Linden. Sie wird ihm wichtige Informationen – Funkcodes, Militärstützpunkte, Flugzeugtypen – aufschreiben, in aller Ausführlichkeit, wofür sie Zeit und eine gewisse Menge Papier bekommt. In aller Ausführlichkeit heißt: Sie verpackt die Informationen in einen Roman, in dem sie die Geschichte ihrer besten Freundin, Margaret „Maddie“ Broddat, erzählt.
Diese komplexe Rahmenkonstruktion macht das Buch doppeldeutiger und subversiver als übliche Abenteuergeschichten, es steckt voller überraschender Wendungen. Maddie ist eine junge Frau aus kleinbürgerlicher Familie, russischer Abstammung, jüdisch, die technisch äußerst begabt ist und ihren Traum verwirklicht, Pilotin zu werden. In der RAF darf sie schließlich auch Bomber fliegen, allerdings nicht im Einsatz über Feindesland, sondern für die Air Transport Auxiliary (ATA), die Maschinen zur Reparatur oder Piloten an ihre Einsatzorte bringt. Der zweite Teil des Buchs – „Kittyhawk“ – ist die Erzählung von Maddie, die über Frankreich eine Bruchlandung machte: wie sie vom französischen Widerstand versteckt wird und mit seiner Hilfe von Julies Schicksal und Aufenthaltsort erfährt, sie zu befreien versucht. Ihr Codename: Kittyhawk. Julie, die Scheherazade im Gestapo-Kerker, durchsetzt ihren Bericht mit vehementen Selbstanklagen – sie sei eine Verräterin, ein Feigling –, und mit einem wütenden „Ich bin eine Schottin“, wenn man sie als Engländerin anredet. Und auch mit Flüchen gegen die Scheißnazis und gegen Hitler. Eine Sekretärin, die für von Linden ins Deutsche übersetzt, korrigiert und mildert manches ab. Der Gestapo-Mann von Linden wiederum merkt gleich, als Julie, erzähltechnisch versiert, sich selbst in der dritten Person auftauchen lässt: „Sie war hübsch, zierlich und leichtfüßig, und wenn am Samstagabend ein Geschwaderball stattfand, war sie diejenige, auf die die Piloten abfuhren ...“ Seine Vorgesetzten lassen sich nicht bluffen, sie wollen Julie möglichst schnell im berüchtigten Lager Natzweiler-Struthof sehen, wo sie verschwinden soll, durch eine Spritze.
Es ist der Roman einer ganz großen Freundschaft, auch wenn Julie und Maddie meistens nicht zusammen sein können, „Eine beste Freundin zu finden ist so, als würde man sich verlieben“. Der Schreib-Deal verschafft Julie eine Schonfrist, erspart ihr die schrecklichen Grausamkeiten, die andere junge Menschen erleiden müssen, den spießig-gemeinen Zynismus der Gestapo und der Kollaborateure. Für die anderen gequälten Gefangenen ist sie eine Verräterin: „Du kleines schottisches Stück Scheiße, p’tite morceau de merde écossais“, raunen sie ihr zu, wenn sie in ihre Zelle zurückgeschleift werden.
„Code Name Verity“ ist ein Jugendroman, der seinen Leserinnen und Leser höchste Aufmerksamkeit abverlangt, von der ersten Zeile an, um das Wahre vom Trügerischen, das Todernste von jenem Spielerischen zu unterscheiden, das selbst im Schatten des Todes zu spüren ist. Ein gefährlicher Versuch, sich selbst treu zu bleiben und dadurch an die Wahrheit zu gelangen, la vérité, Verity …
Julie und Maddie, das sind zwei Mädchen, die stark im Kontext der britischen Kultur stecken – den Anspielungen des Buchs in dieser Hinsicht zu folgen, lohnt sich allemal. Der zweite Stern rechts und dann geradeaus bis zum Morgen als Richtungsangabe für einen Flug, das gibt die Richtung an, in der man nach Nimmerland kommt, die Insel des Peter Pan. Im selben Buch, das in England jedes Kind gelesen hat, lässt Mrs. Darling, Wendys Mutter, die Fenster offen – für den Fall, dass die Tochter eines Nachts aus Nimmerland zurückkommt. Das Buch ist 2012 in Großbritannien erschienen, Elizabeth Wein hat inzwischen noch drei weitere Bücher um Frauen im Zweiten Weltkrieg geschrieben, mit Figuren aus „Code Name Verity“, die bei uns noch der Übersetzung harren.
FRITZ GÖTTLER
Elizabeth Wein: Code Name Verity. Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis. Dtv, München 2024. 464 Seiten,
17 Euro. Ab 14 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In „Code Name Verity“ kämpfen zwei
junge Frauen im Zweiten Weltkrieg.
Eine Spionin schreibt einen Roman, das ist die kühne Konstruktion dieses Buchs – und sein erster Teil – „Verity“ – ist eben dieser „Roman“. Sie schreibt nicht in der Rückschau, autobiografisch, sondern mittendrin im aktiven Dienst, als Teil ihrer Arbeit, und ausgerechnet für ihren Feind. Es ist der Oktober 1943. Die junge Frau, sie trägt im Dienst für den britischen Geheimdienst den Codenamen Verity, ist über dem von den Deutschen besetzten Frankreich in einer geheimen Mission abgesprungen und schnell geschnappt worden – ein Verkehrsunfall, sie hat, an den Linksverkehr in England gewöhnt, beim Überqueren der Straße erst nach rechts geguckt.
Nun sitzt sie eingekerkert im einstigen Château de Bordeaux, einem Hotel, das die Gestapo zu ihrem Gefängnis gemacht hat, wo sie aus jungen Widerständlern Informationen herauszufoltern versucht. Château des bourreaux heißt es nun bei den Franzosen, Schloss der Schlächter. Auch Verity – ihr wirklicher Name Julie fällt erst spät im Buch, sie stammt aus einer schottischen Familie, die William Wallace und Mary Stuart unter den Vorfahren hat – wird erniedrigt und gefoltert. Schließlich macht sie einen Deal mit dem Gestapo-Hauptsturmführer Amadeus von Linden. Sie wird ihm wichtige Informationen – Funkcodes, Militärstützpunkte, Flugzeugtypen – aufschreiben, in aller Ausführlichkeit, wofür sie Zeit und eine gewisse Menge Papier bekommt. In aller Ausführlichkeit heißt: Sie verpackt die Informationen in einen Roman, in dem sie die Geschichte ihrer besten Freundin, Margaret „Maddie“ Broddat, erzählt.
Diese komplexe Rahmenkonstruktion macht das Buch doppeldeutiger und subversiver als übliche Abenteuergeschichten, es steckt voller überraschender Wendungen. Maddie ist eine junge Frau aus kleinbürgerlicher Familie, russischer Abstammung, jüdisch, die technisch äußerst begabt ist und ihren Traum verwirklicht, Pilotin zu werden. In der RAF darf sie schließlich auch Bomber fliegen, allerdings nicht im Einsatz über Feindesland, sondern für die Air Transport Auxiliary (ATA), die Maschinen zur Reparatur oder Piloten an ihre Einsatzorte bringt. Der zweite Teil des Buchs – „Kittyhawk“ – ist die Erzählung von Maddie, die über Frankreich eine Bruchlandung machte: wie sie vom französischen Widerstand versteckt wird und mit seiner Hilfe von Julies Schicksal und Aufenthaltsort erfährt, sie zu befreien versucht. Ihr Codename: Kittyhawk. Julie, die Scheherazade im Gestapo-Kerker, durchsetzt ihren Bericht mit vehementen Selbstanklagen – sie sei eine Verräterin, ein Feigling –, und mit einem wütenden „Ich bin eine Schottin“, wenn man sie als Engländerin anredet. Und auch mit Flüchen gegen die Scheißnazis und gegen Hitler. Eine Sekretärin, die für von Linden ins Deutsche übersetzt, korrigiert und mildert manches ab. Der Gestapo-Mann von Linden wiederum merkt gleich, als Julie, erzähltechnisch versiert, sich selbst in der dritten Person auftauchen lässt: „Sie war hübsch, zierlich und leichtfüßig, und wenn am Samstagabend ein Geschwaderball stattfand, war sie diejenige, auf die die Piloten abfuhren ...“ Seine Vorgesetzten lassen sich nicht bluffen, sie wollen Julie möglichst schnell im berüchtigten Lager Natzweiler-Struthof sehen, wo sie verschwinden soll, durch eine Spritze.
Es ist der Roman einer ganz großen Freundschaft, auch wenn Julie und Maddie meistens nicht zusammen sein können, „Eine beste Freundin zu finden ist so, als würde man sich verlieben“. Der Schreib-Deal verschafft Julie eine Schonfrist, erspart ihr die schrecklichen Grausamkeiten, die andere junge Menschen erleiden müssen, den spießig-gemeinen Zynismus der Gestapo und der Kollaborateure. Für die anderen gequälten Gefangenen ist sie eine Verräterin: „Du kleines schottisches Stück Scheiße, p’tite morceau de merde écossais“, raunen sie ihr zu, wenn sie in ihre Zelle zurückgeschleift werden.
„Code Name Verity“ ist ein Jugendroman, der seinen Leserinnen und Leser höchste Aufmerksamkeit abverlangt, von der ersten Zeile an, um das Wahre vom Trügerischen, das Todernste von jenem Spielerischen zu unterscheiden, das selbst im Schatten des Todes zu spüren ist. Ein gefährlicher Versuch, sich selbst treu zu bleiben und dadurch an die Wahrheit zu gelangen, la vérité, Verity …
Julie und Maddie, das sind zwei Mädchen, die stark im Kontext der britischen Kultur stecken – den Anspielungen des Buchs in dieser Hinsicht zu folgen, lohnt sich allemal. Der zweite Stern rechts und dann geradeaus bis zum Morgen als Richtungsangabe für einen Flug, das gibt die Richtung an, in der man nach Nimmerland kommt, die Insel des Peter Pan. Im selben Buch, das in England jedes Kind gelesen hat, lässt Mrs. Darling, Wendys Mutter, die Fenster offen – für den Fall, dass die Tochter eines Nachts aus Nimmerland zurückkommt. Das Buch ist 2012 in Großbritannien erschienen, Elizabeth Wein hat inzwischen noch drei weitere Bücher um Frauen im Zweiten Weltkrieg geschrieben, mit Figuren aus „Code Name Verity“, die bei uns noch der Übersetzung harren.
FRITZ GÖTTLER
Elizabeth Wein: Code Name Verity. Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis. Dtv, München 2024. 464 Seiten,
17 Euro. Ab 14 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Fritz Göttler liest Elizabeth Weins im englischen Original bereits 2012 erschienenen Abenteuerroman für Jugendliche über zwei Freundinnen im Widerstand gegen Nazideutschland mit Spannung. Auch wenn der Aufbau des Buches alten wie jungen Lesern einiges abverlangt, wie Göttler warnt, ist die Belohnung doch vielversprechend. In der "komplexen Rahmenkonstruktion" mit ihren vielen Wendungen steckt laut Rezensent eine spannende Geschichte über Freundschaft, über das Wahre und das Trügerische, das Todernste und das Spielerische.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Während die beiden Hauptfiguren durch ihre Resilienz überzeugen, changieren viele der anderen Figuren zwischen gut und böse. Seinen atemberaubenden Höhepunkt findet der Text schließlich in einer letzten Begegnung der beiden Freundinnen (...). Kathrin Wexberg Die Furche 20240801