Jack und Ronnie treten gemeinsam aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Jack ist Entertainer, Ronnie Zauberer. Sie kommen beide aus dem berüchtigten Londoner East End und steigen im flirrenden Showgeschäft der Fünfzigerjahre zu Stars auf. Evie, Ronnies Assistentin und Verlobte, beginnt heimlich eine Affäre mit Jack. Aus Freunden werden Rivalen. Wenig später verschwindet Ronnie während eines Auftritts und bleibt unauffindbar - als könnte er wirklich zaubern. Ein überraschender, hypnotischer Roman über zwei Männer im Rampenlicht, die sich in dieselbe Frau verlieben.Ungekürzte Lesung mit Ulrich Noethen4 CDs ca. 5 h 41 min
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2020Schwebend
Graham Swift erzählt in
„Da sind wir“ virtuos von einer Welt
zwischen Zauberei und Magie
VON LOTHAR MÜLLER
Aus der Gewohnheit, Geheimnisse zu haben, ist die Autorschaft der englischen Autorin Jane Fairfield hervorgewachsen. Und aus der Lektüre von Abenteuerbüchern „für Jungens“. Das war ihre Vorschule. Als sie Joseph Conrad entdeckte, wurde er ihre Hochschule, ihr Oxford. Noch im hohen Alter geht ihr „Der Geheimagent“ nach, und manchmal äußert sie den Gedanken, auf den Conrad sie gebracht hat: dass alle Schriftsteller Geheimagenten sind.
Graham Swift, 1949 in London geboren, hat 2016 mit seinem Buch „Mothering Sunday“ („Ein Festtag“), ein Hochplateau seiner Erzählkunst erreicht. Traumwandlerisch sicher geht er in der Geschichte des Waisenkindes und Dienstmädchens Jane Fairfield, das zur erfolgreichen Schriftstellerin wird, an allen Untiefen der Sentimentalität vorbei, obwohl ein herzzerreißendes Liebesabenteuer im Zentrum steht. Das hinreißend erzählte Abenteuer, das im Todesjahr Joseph Conrads, 1924, seinen Höhepunkt erreicht, ist in ein Porträt der englischen Provinz nach dem Großen Krieg eingebettet. Kälteschauer, die aus der Klassengesellschaft hervorgehen, durchziehen die Liebesgeschichte zwischen dem Dienstmädchen und dem jungen Herrn aus bestem Hause. Aus Fotografien auf Schreibtischen und Salonmöbeln blicken gefallene Söhne auf ihre Eltern. Vieles bleibt ungesagt, Lücken aus nicht Erzähltem tun sich auf, ob der Tod des Geliebten ein Unfall oder Selbstmord war, bleibt ein Rätsel.
Immer schon hat Graham Swift die Abenteuer, die in so vielen Romanen Joseph Conrads auf hoher See und in den Inselwelten des Fernen Ostens stattfinden, in den Alltag der „ordinary people“ in England selbst verlegt. Auch darum ging Jane Fairfield in ihrer Conrad-Lektüre den Weg von der Erzählung „Youth“, wo Marlow von seiner Erstbegegnung mit dem Fernen Osten berichtet, zum Roman „Der Geheimagent“, in dem die engen Straßen Londons zum Terrain von Gefahren und Geheimnisse werden, die denen auf hoher See nicht nachstehen. Der neue Roman von Graham Swift „Here we are“ („Da sind wir“) ist auf dem Hochplateau von „Mothering Sunday“. Er schreitet vom historischen Echoraum des Ersten Weltkriegs zum Zweiten Weltkrieg voran, ruft eine kollektive Erfahrung auf, die Evakuierung der Kinder aus London nach Kriegsbeginn im Jahr 1939. Eines dieser Kinder ist Ronnie Dean, der bei einem elternlosen Ehepaar in der Nähe von Oxford Aufnahme findet. „Evergrene“ heißt das geräumige Haus von Mr. und Mrs. Lawrence, es ist mit den Höhlen verwandt, in denen manchmal in Märchen die Kinder für lange Zeit verschwinden. In Mr. Lawrence steckt der Magier „Lorenzo“, aus den Jahren, die er in „Evergrene“ verbringt, kehrt Ronnie als junger Zauberer in die Nachkriegswelt zurück. Mindestens so lebhaft wie die Erinnerung an seinen Vater, der auf einem Handelsschiff zur See fuhr, bereits im ersten Kriegsjahr als vermisst gemeldet wurde und nun „bei den Fischen schläft“, ist die Erinnerung an den Papagei, den der Vater früher einmal mit nach Hause brachte und den die für exotische Wesen unempfängliche Mutter heimlich an einen Tierhändler verkauft hat.
Graham Swift wäre nicht Graham Swift, wenn er mit dieser Kindheitsgeschichte beginnen würde. Längst ist er ein Virtuose im aufgeschobenen, fragmentierten Erzählen nachgetragener Vorgeschichten. So auch hier. „Here we are“ beginnt, als werde ein Vorhang weggezogen, mit dem Blick in eine Seitenkulisse einer Varietéshow im Seebad Brighton in Sussex. Der Blick fällt auf Jack, den Conferencier, der gerade sein Lampenfieber bekämpft, ehe er die Bühne betritt. Es wird nicht lange dauern, bis die Erzählerstimme ein Trio auf der Bühne versammelt hat, Jack Robbins, den Entertainer, Womanizer und Schauspieler, Ronnie Dean, den Zauberer und Evie White, seine Assistentin. Und als sei er der Pianist, der die Show untermalt, lässt der Erzähler, während er die Plakate für die Sommersaison des Jahres 1959 in Brighton ins Auge fasst, Standardmotive anklingen, die sich im Lauf der Geschichte unweigerlich zu einer bekannten Melodie zusammenfügen, zur Ballade einer Dreiecksgeschichte.
Für das Publikum in Brighton geht aus ihr das plötzliche Verschwinden des Zauberers hervor, das die Polizei beschäftigt und die Zeitungen zu mäßig witzigen Überschriften inspiriert, in denen ein Zauberer sich selbst fortzaubert. Für das Lesepublikum von „Here we are“ aber tut sich ein Spiegelkabinett auf, in dem das Trio in immer neuer Beleuchtung erscheint. Es ist zu sehen, wie Ronnie der Zauberer und Evie seine Assistentin zum Paar werden, wie Evie an einer entscheidenden Weggabelung der Geschichte, als sei ihr der Weg vorgezeichnet, zu Jack überläuft und fortan mit ihm durch Leben geht.
Seine innere Spannung aber gewinnt dieses Buch dadurch, dass der Zauberer in diesem Spiegelkabinett nicht verschwinden kann. Das Erzählen verwandelt ihn in einen Wiedergänger, in ein Gespenst, aus dem der Verschwundene wie eine fortgezauberte Taube jederzeit wieder auftauchen zu können scheint. Diesen Schwebezustand erreicht die Erzählerstimme dadurch, dass sie ihre Geschichte schon lange, ehe sie auf ihr Ende zusteuert, in einen doppelten Zeitrahmen spannt. Wie Jane Fairfield in „Mothering Sunday“ geht Evie White als junge Frau, die ein Liebesabenteuer erlebt, und zugleich als alte Frau, die auf ihre Jugend zurückblickt, durch „Da sind wir“. Ihren Mann, Jack Robbins, dessen Managerin sie war, als er sich vom Entertainer zum Erfolgsschauspieler und Produzenten mauserte, hat sie überlebt. Den Zauberer nicht. Jane Fairfield würde sagen, sie hat mit Jack eine „story“ erlebt, und mit Ronnie das, was bei Joseph Conrad „Narrative“ oder „Tale“ heißt, durchaus mit Anklängen an die „Fairy Tales“, die Märchen. Ronnie ist mit dem Wunderbaren im Bunde, mit dem exotischen Papagei seiner Kindheit, die Geschichte seines Verschwindens erschöpft sich nicht in der Geschichte eines Liebesverrats. Er hat seine Assistentin und Geliebte in dem Moment verloren, in dem er dabei war, von den Tricks der gewöhnlichen Zauberei ins Reich der höheren Magie, in die Welt der leibhaftigen Illusionen vorzustoßen. Schon hatte er seinen Namen geändert, schon war aus Ronnie „Der große Pablo“ geworden, dass er kurz vor seinem Verschwinden Regenbogen auf die Bühne zauberte und statt Tauben einen Papagei herbeizauberte, war das Signal zum Aufbruch. „He was moving from magic towards wizardry“, heißt es im Original. „Ronnie entfernte sich von der Zauberei und wandte sich der Magie zu“, übersetzt Susanne Höbel, die ihre nicht eben leicht Aufgabe auch hier überzeugend löst und die „Zauberei“ konsequent den „Tricks“ zuordnet.
Nicht selten sind Zauberer im Film und in der Literatur dämonische Verführer. Graham Swifts Pablo, gesehen durch die Augen von Evie White, ist eher eine Figur der Selbstreflexion. Wie der Magier ist der ingeniöse Erzähler ein Illusionist. Nicht lediglich in dem Sinn, dass er in seine Trickkiste greift, sondern in dem tieferliegenden, dass er mit den Illusionen im Bunde ist. Alle Schriftsteller sind Geheimagenten, sagt Jane Fairfield. Sie sind es, fügt Graham Swift hinzu, weil alle Menschen Geheimagenten ihres Lebens sind, weil sie so vieles nicht erzählen, nicht preisgeben. Er weiß sich in der Grundmelodie einig mit dem Song „Both Sides Now“ von Joni Mitchell, deren Vers „It’s life illusions I recall“ er seinem Roman als Motto vorangestellt hat. Die Zeile, auf die sich das reimt, „I really don’t know life at all“, hat er weggelassen. Sie schwingt aber mit. Sie ist das Credo dieses Erzählers, und dreimal darf man raten, ob er am Ende das Geheimnis lüftet, wohin der Große Pablo verschwunden ist. „Als sein Atem ihr Ohr streifte, musste er plötzlich an das Meeresgeräusch denken, das man angeblich in Muscheln hören konnte. Das würde man nicht als Trick bezeichnen, dachte er, da wäre Illusion das richtige Wort.“ So findet ausgerechnet Jack, an den der Große Pablo Evie verliert, ein suggestives Bild für den Unterschied von Trickzauberei und Magie. Über Graham Swifts Hochplateau des Erzählens schwebt Pablos Regenbogen.
Graham Swift: Da sind wir. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Dtv, München 2020. 160 Seiten, 20 Euro.
Alle Schriftsteller sind
Geheimagenten, weil alle
Menschen es sind
„Here we are“ beginnt in einer Varietéshow im Seebad Brighton in Sussex.
Foto: SSPL/Getty Images
Graham Swift wurde 1949
in London geboren.
Foto: imago/Leemage
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Graham Swift erzählt in
„Da sind wir“ virtuos von einer Welt
zwischen Zauberei und Magie
VON LOTHAR MÜLLER
Aus der Gewohnheit, Geheimnisse zu haben, ist die Autorschaft der englischen Autorin Jane Fairfield hervorgewachsen. Und aus der Lektüre von Abenteuerbüchern „für Jungens“. Das war ihre Vorschule. Als sie Joseph Conrad entdeckte, wurde er ihre Hochschule, ihr Oxford. Noch im hohen Alter geht ihr „Der Geheimagent“ nach, und manchmal äußert sie den Gedanken, auf den Conrad sie gebracht hat: dass alle Schriftsteller Geheimagenten sind.
Graham Swift, 1949 in London geboren, hat 2016 mit seinem Buch „Mothering Sunday“ („Ein Festtag“), ein Hochplateau seiner Erzählkunst erreicht. Traumwandlerisch sicher geht er in der Geschichte des Waisenkindes und Dienstmädchens Jane Fairfield, das zur erfolgreichen Schriftstellerin wird, an allen Untiefen der Sentimentalität vorbei, obwohl ein herzzerreißendes Liebesabenteuer im Zentrum steht. Das hinreißend erzählte Abenteuer, das im Todesjahr Joseph Conrads, 1924, seinen Höhepunkt erreicht, ist in ein Porträt der englischen Provinz nach dem Großen Krieg eingebettet. Kälteschauer, die aus der Klassengesellschaft hervorgehen, durchziehen die Liebesgeschichte zwischen dem Dienstmädchen und dem jungen Herrn aus bestem Hause. Aus Fotografien auf Schreibtischen und Salonmöbeln blicken gefallene Söhne auf ihre Eltern. Vieles bleibt ungesagt, Lücken aus nicht Erzähltem tun sich auf, ob der Tod des Geliebten ein Unfall oder Selbstmord war, bleibt ein Rätsel.
Immer schon hat Graham Swift die Abenteuer, die in so vielen Romanen Joseph Conrads auf hoher See und in den Inselwelten des Fernen Ostens stattfinden, in den Alltag der „ordinary people“ in England selbst verlegt. Auch darum ging Jane Fairfield in ihrer Conrad-Lektüre den Weg von der Erzählung „Youth“, wo Marlow von seiner Erstbegegnung mit dem Fernen Osten berichtet, zum Roman „Der Geheimagent“, in dem die engen Straßen Londons zum Terrain von Gefahren und Geheimnisse werden, die denen auf hoher See nicht nachstehen. Der neue Roman von Graham Swift „Here we are“ („Da sind wir“) ist auf dem Hochplateau von „Mothering Sunday“. Er schreitet vom historischen Echoraum des Ersten Weltkriegs zum Zweiten Weltkrieg voran, ruft eine kollektive Erfahrung auf, die Evakuierung der Kinder aus London nach Kriegsbeginn im Jahr 1939. Eines dieser Kinder ist Ronnie Dean, der bei einem elternlosen Ehepaar in der Nähe von Oxford Aufnahme findet. „Evergrene“ heißt das geräumige Haus von Mr. und Mrs. Lawrence, es ist mit den Höhlen verwandt, in denen manchmal in Märchen die Kinder für lange Zeit verschwinden. In Mr. Lawrence steckt der Magier „Lorenzo“, aus den Jahren, die er in „Evergrene“ verbringt, kehrt Ronnie als junger Zauberer in die Nachkriegswelt zurück. Mindestens so lebhaft wie die Erinnerung an seinen Vater, der auf einem Handelsschiff zur See fuhr, bereits im ersten Kriegsjahr als vermisst gemeldet wurde und nun „bei den Fischen schläft“, ist die Erinnerung an den Papagei, den der Vater früher einmal mit nach Hause brachte und den die für exotische Wesen unempfängliche Mutter heimlich an einen Tierhändler verkauft hat.
Graham Swift wäre nicht Graham Swift, wenn er mit dieser Kindheitsgeschichte beginnen würde. Längst ist er ein Virtuose im aufgeschobenen, fragmentierten Erzählen nachgetragener Vorgeschichten. So auch hier. „Here we are“ beginnt, als werde ein Vorhang weggezogen, mit dem Blick in eine Seitenkulisse einer Varietéshow im Seebad Brighton in Sussex. Der Blick fällt auf Jack, den Conferencier, der gerade sein Lampenfieber bekämpft, ehe er die Bühne betritt. Es wird nicht lange dauern, bis die Erzählerstimme ein Trio auf der Bühne versammelt hat, Jack Robbins, den Entertainer, Womanizer und Schauspieler, Ronnie Dean, den Zauberer und Evie White, seine Assistentin. Und als sei er der Pianist, der die Show untermalt, lässt der Erzähler, während er die Plakate für die Sommersaison des Jahres 1959 in Brighton ins Auge fasst, Standardmotive anklingen, die sich im Lauf der Geschichte unweigerlich zu einer bekannten Melodie zusammenfügen, zur Ballade einer Dreiecksgeschichte.
Für das Publikum in Brighton geht aus ihr das plötzliche Verschwinden des Zauberers hervor, das die Polizei beschäftigt und die Zeitungen zu mäßig witzigen Überschriften inspiriert, in denen ein Zauberer sich selbst fortzaubert. Für das Lesepublikum von „Here we are“ aber tut sich ein Spiegelkabinett auf, in dem das Trio in immer neuer Beleuchtung erscheint. Es ist zu sehen, wie Ronnie der Zauberer und Evie seine Assistentin zum Paar werden, wie Evie an einer entscheidenden Weggabelung der Geschichte, als sei ihr der Weg vorgezeichnet, zu Jack überläuft und fortan mit ihm durch Leben geht.
Seine innere Spannung aber gewinnt dieses Buch dadurch, dass der Zauberer in diesem Spiegelkabinett nicht verschwinden kann. Das Erzählen verwandelt ihn in einen Wiedergänger, in ein Gespenst, aus dem der Verschwundene wie eine fortgezauberte Taube jederzeit wieder auftauchen zu können scheint. Diesen Schwebezustand erreicht die Erzählerstimme dadurch, dass sie ihre Geschichte schon lange, ehe sie auf ihr Ende zusteuert, in einen doppelten Zeitrahmen spannt. Wie Jane Fairfield in „Mothering Sunday“ geht Evie White als junge Frau, die ein Liebesabenteuer erlebt, und zugleich als alte Frau, die auf ihre Jugend zurückblickt, durch „Da sind wir“. Ihren Mann, Jack Robbins, dessen Managerin sie war, als er sich vom Entertainer zum Erfolgsschauspieler und Produzenten mauserte, hat sie überlebt. Den Zauberer nicht. Jane Fairfield würde sagen, sie hat mit Jack eine „story“ erlebt, und mit Ronnie das, was bei Joseph Conrad „Narrative“ oder „Tale“ heißt, durchaus mit Anklängen an die „Fairy Tales“, die Märchen. Ronnie ist mit dem Wunderbaren im Bunde, mit dem exotischen Papagei seiner Kindheit, die Geschichte seines Verschwindens erschöpft sich nicht in der Geschichte eines Liebesverrats. Er hat seine Assistentin und Geliebte in dem Moment verloren, in dem er dabei war, von den Tricks der gewöhnlichen Zauberei ins Reich der höheren Magie, in die Welt der leibhaftigen Illusionen vorzustoßen. Schon hatte er seinen Namen geändert, schon war aus Ronnie „Der große Pablo“ geworden, dass er kurz vor seinem Verschwinden Regenbogen auf die Bühne zauberte und statt Tauben einen Papagei herbeizauberte, war das Signal zum Aufbruch. „He was moving from magic towards wizardry“, heißt es im Original. „Ronnie entfernte sich von der Zauberei und wandte sich der Magie zu“, übersetzt Susanne Höbel, die ihre nicht eben leicht Aufgabe auch hier überzeugend löst und die „Zauberei“ konsequent den „Tricks“ zuordnet.
Nicht selten sind Zauberer im Film und in der Literatur dämonische Verführer. Graham Swifts Pablo, gesehen durch die Augen von Evie White, ist eher eine Figur der Selbstreflexion. Wie der Magier ist der ingeniöse Erzähler ein Illusionist. Nicht lediglich in dem Sinn, dass er in seine Trickkiste greift, sondern in dem tieferliegenden, dass er mit den Illusionen im Bunde ist. Alle Schriftsteller sind Geheimagenten, sagt Jane Fairfield. Sie sind es, fügt Graham Swift hinzu, weil alle Menschen Geheimagenten ihres Lebens sind, weil sie so vieles nicht erzählen, nicht preisgeben. Er weiß sich in der Grundmelodie einig mit dem Song „Both Sides Now“ von Joni Mitchell, deren Vers „It’s life illusions I recall“ er seinem Roman als Motto vorangestellt hat. Die Zeile, auf die sich das reimt, „I really don’t know life at all“, hat er weggelassen. Sie schwingt aber mit. Sie ist das Credo dieses Erzählers, und dreimal darf man raten, ob er am Ende das Geheimnis lüftet, wohin der Große Pablo verschwunden ist. „Als sein Atem ihr Ohr streifte, musste er plötzlich an das Meeresgeräusch denken, das man angeblich in Muscheln hören konnte. Das würde man nicht als Trick bezeichnen, dachte er, da wäre Illusion das richtige Wort.“ So findet ausgerechnet Jack, an den der Große Pablo Evie verliert, ein suggestives Bild für den Unterschied von Trickzauberei und Magie. Über Graham Swifts Hochplateau des Erzählens schwebt Pablos Regenbogen.
Graham Swift: Da sind wir. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Dtv, München 2020. 160 Seiten, 20 Euro.
Alle Schriftsteller sind
Geheimagenten, weil alle
Menschen es sind
„Here we are“ beginnt in einer Varietéshow im Seebad Brighton in Sussex.
Foto: SSPL/Getty Images
Graham Swift wurde 1949
in London geboren.
Foto: imago/Leemage
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»Swift lässt den Leser auf bezaubernde Weise zum heimlichen Mitwisser, zum Komplizen werden.« Der Tagesspiegel über »Ein Festtag«
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Martin Oehlen mag den melancholischen Ton von Graham Swift. Entsprechend erfreut ist der Kritiker, dass mit "Das sind wir" ein neuer Roman des Briten vorliegt, der den Vorgängern in puncto Stille, Schönheit und Sentimentalität in nichts nachsteht. Erzählt wird die Geschichte des Zauberers Ronnie, dessen Freundin und Assistentin Evie in seiner Abwesenheit eine Affäre mit Ronnies Jugendfreund beginnt. Wie Swift mit wenigen Strichen auf Ronnies Jugend im Zweiten Weltkrieg zurückblickt und das Leben im Varieté der Sechziger dagegenschneidet, findet Oehlen beeindruckend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Meister anrührender Szenen: Graham Swift. Georg Patzer Mannheimer Morgen 20200629