"Das ist eine DAISY-Ausgabe, ein Hörbuch in einem speziellen MP3-Format. Verpackt ist es in einer Amaray/DVD-Box mit Punktschriftaufkleber für Blinde und Sehbehinderte Hörer. Das Hörbuch gibt es darüber hinaus inhaltsgleich auch in einer Audio-CD-Ausgabe."
Über den Rausch des Schreibens und den Reiz des Liebesverrats
Auf einer illustren Festveranstaltung im Schloss Bellevue wird ein Professor für Molekularbiologie für seine Errungenschaften gefeiert. Doch der ebenfalls geladene Schriftsteller Basil Schlupp hat nur Augen für dessen Frau, eine Professorin für Evangelische Theologie. Geradezu besessen von Maya Schneilin schreibt Basil ihr einen solch raffinierten und durchtriebenen Brief, dass sie sich gezwungen sieht zu antworten. Obwohl beide glücklich verheiratet sind, entwickelt sich zwischen ihnen ein heftiger Briefwechsel voller intellektueller und erotischer Spannung. Als Mayas Mann schwer erkrankt, verliert sich die spielerische Unschuld der Briefeschreiber; das Leben fordert nun eine Entscheidung von ihnen.
In gewohnt leichtem Stil lässt Martin Walser seine Protagonisten erzählen: vom Unglück der Vergänglichkeit, dem Glück der Liebe und dem berauschenden Gefühl des Schreibens.
DAISY steht für Digital Accessible Information System und ist der Name eines weltweiten Standards für Multimedia-Dokumente. Die DAISY-Hörbücher des Argon-Verlages verbinden Hörbücher im MP3-Format mit Textelementen des Booklets. Ein DAISY-Hörbuch besitzt weitreichende Navigationsmöglichkeiten: Der Benutzer kann etwa von Kapitel zu Kapitel oder von Satz zu Satz springen. Dabei kann die Sprechgeschwindigkeit reguliert werden, der Benutzer kann zudem beliebig viele Lesezeichen platzieren. DAISY-Hörbücher können entweder mit einem speziellen Abspielgerät oder über den Computer genutzt werden: Die Softwares DAISY-Leser und Max DaisyPlayer sind Freewares und auf dieser CD enthalten. Die meisten handelsüblichen MP3-Player spielen DAISY-Hörbücher ebenfalls ab, allerdings ohne DAISY-Funktionalität.
Über den Rausch des Schreibens und den Reiz des Liebesverrats
Auf einer illustren Festveranstaltung im Schloss Bellevue wird ein Professor für Molekularbiologie für seine Errungenschaften gefeiert. Doch der ebenfalls geladene Schriftsteller Basil Schlupp hat nur Augen für dessen Frau, eine Professorin für Evangelische Theologie. Geradezu besessen von Maya Schneilin schreibt Basil ihr einen solch raffinierten und durchtriebenen Brief, dass sie sich gezwungen sieht zu antworten. Obwohl beide glücklich verheiratet sind, entwickelt sich zwischen ihnen ein heftiger Briefwechsel voller intellektueller und erotischer Spannung. Als Mayas Mann schwer erkrankt, verliert sich die spielerische Unschuld der Briefeschreiber; das Leben fordert nun eine Entscheidung von ihnen.
In gewohnt leichtem Stil lässt Martin Walser seine Protagonisten erzählen: vom Unglück der Vergänglichkeit, dem Glück der Liebe und dem berauschenden Gefühl des Schreibens.
DAISY steht für Digital Accessible Information System und ist der Name eines weltweiten Standards für Multimedia-Dokumente. Die DAISY-Hörbücher des Argon-Verlages verbinden Hörbücher im MP3-Format mit Textelementen des Booklets. Ein DAISY-Hörbuch besitzt weitreichende Navigationsmöglichkeiten: Der Benutzer kann etwa von Kapitel zu Kapitel oder von Satz zu Satz springen. Dabei kann die Sprechgeschwindigkeit reguliert werden, der Benutzer kann zudem beliebig viele Lesezeichen platzieren. DAISY-Hörbücher können entweder mit einem speziellen Abspielgerät oder über den Computer genutzt werden: Die Softwares DAISY-Leser und Max DaisyPlayer sind Freewares und auf dieser CD enthalten. Die meisten handelsüblichen MP3-Player spielen DAISY-Hörbücher ebenfalls ab, allerdings ohne DAISY-Funktionalität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2012Wer weiß, wohin ein Brief uns bringt?
Abenteuerlich: Martin Walser macht in einer scheinbar veralteten Kommunikationsform ein modernes Liebesprinzip möglich.
Oft hat man inzwischen schon den Vorwurf gehört, Martin Walser schreibe nur noch "Altherrenliteratur". An seinem Roman "Ein liebender Mann" über die Beziehung des greisen Goethe zur neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow schieden sich deshalb die Geister - wie auch zuvor schon an seinem Buch "Angstblüte", dessen betagter Held eine halb so alte Frau verehrte und das gar als "Busenschlamassel" gerügt wurde. Auch das Sujet von Walsers neuem Roman "Das dreizehnte Kapitel" scheint solcherlei Befürchtungen zunächst zu bestätigen: Ein älterer verheirateter Schriftsteller verliebt sich darin in eine jüngere verheiratete Frau, eine Theologieprofessorin noch dazu - nicht unbedingt ein Stoff für Teenager. Oder für Menschen unter fünfzig.
Was hat ein Martin Walser der Generation Twitter noch zu sagen? Die Antwort ist: sehr viel, und sie liegt paradoxerweise in einem Thema begründet, das für diese Generation noch viel antiquierter wirken muss als die Liebesdinge älterer Menschen. Es geht, so sei behauptet, in diesem Roman nämlich nur zweitrangig um die Figuren. Es geht vor allem ums Briefeschreiben. Um Handschrift, um Tinte, um Papier. Es geht um eine Kommunikationsform, in der das Unmögliche möglich wird.
Diese Erfahrung illustriert Walser anhand einer Ausgangssituation, die zunächst ausweglos erscheint: Der Schriftsteller entdeckt die besagte Frau bei einem förmlichen Abendessen, es ist sogar ein Empfang beim Bundespräsidenten, und ist sogleich von dieser fasziniert. Sie dagegen nimmt ihn überhaupt nicht wahr: "Sie demonstrierte mir nichts als meine Nichtanwesenheit", schreibt der verstört Hingerissene - jeder weiß: Da man kann nichts machen. Der Schriftsteller ist sich schon im Gehen gewiss: "Ich werde diese Frau nicht mehr sehen." Dann jedoch fasst er den Entschluss, ihr zu schreiben, und dieses Schreiben wird sein Leben verändern.
Der Schriftsteller als Briefeschreiber geht gleich in die Vollen. Er dichtet seine Verehrung, lobt die Frau, die er gar nicht kennt, für "raffinierteste Einfalt" wie auch "unschuldigste Durchtriebenheit" und erzählt zugleich Intimstes aus seiner Ehe. Er gibt sich preis. Und erhält von der zuvor so Abweisenden tatsächlich eine Reaktion: Die Frau antwortet, ohne recht zu wissen, warum. Doch auch sie gibt sich preis. Über ihre Antwort ist er wiederum so glücklich, dass er ihr schreibt: "Ihr Brief ist eine Wiese. Ich habe auf dieser Wiese gegrast. Tag und Nacht." Sie darauf: "Ich habe übrigens nichts dagegen, dass sich unser Briefwechsel zu einem Geständnis-Wettbewerb entwickelt." Und er gesteht dann: "Ich bin ein anderer, und das durch Sie." Diese beiden Menschen kommen sozusagen von null auf hundert durch das Wagnis des Briefs.
Was sich zwischen ihnen entwickelt, erkennen sie bald als "Verrat" an ihren Ehegatten - und doch spielen auch diese Partner im Roman eine wichtige Rolle. Es wird sogar über ein Treffen zu viert phantasiert. Doch die Situation von Walsers modernem Klassiker über das Aufeinandertreffen zweier Paare, seinem Buch "Ein fliehendes Pferd", bleibt hier ein reines Kopfspiel.
Damit ist noch nichts gesagt über weitere Dimensionen dieses vielschichtigen Romans, dessen Konzeption als Spiegelung eines Briefwechsels zwischen dem Theologen Karl Barth und der Krankenschwester Charlotte von Kirschbaum angelegt ist. Es ist auch ein Campus- und Wissenschaftsroman zwischen Theologie und Hirnforschung, eng an die Realität gebunden durch zahlreiche Namen und Orte, während die sprechenden Namen seiner Figuren märchenhaft klingen: Basil Schlupp und Maja Schneilin. Und es ist schließlich auch ein mehrfacher Künstlerroman mit der Anlage zur Metafiktion: Denn Basil Schlupp hat ein Buch namens "Strandhafer" geschrieben, das ironische Assoziationen zu Walsers Bodensee-Büchern weckt, und auch Frau Schlupp schreibt im Buch an einem Buch, von dem sich Walsers Roman schließlich den Titel "Das dreizehnte Kapitel" leiht.
Eine überraschende Wendung nimmt dieser Roman, als der Ehemann der Theologin plötzlich krank wird und die beiden zu einer Reise an den Yukon aufbrechen, die ihre letzte gemeinsame sein könnte. Nicht nur dadurch wird der Kontakt zwischen Basil Schlupp und Maja Schneilin stark gefährdet - er steht ohnehin immer auf der Kippe, weil er so schonungslos ist.
Mit zunehmender Dramatik und häufigen Ortswechseln des Personals - womöglich auch als Tribut des Autors an die junge Generation - werden schließlich aus den Tintenbriefen elektronische, die mit der Information "Von meinem iPhone gesendet" enden. Aber es bleiben dennoch Briefe, formvollendet und mit immer kühnerer Signatur: Er unterschreibt mit "Dein von Dir Lebender", sie mit "die Gelieferte".
Wie immer bei Walser ist der Ton auch hier elegisch, also geprägt von der vermischten Empfindung. In den Briefen wird Hohes und Tiefes, alltäglich Banales und spitzfindig Metaphysisches unmittelbar nebeneinandergestellt, auch dialektisch ausgespielt: Neben ihren erstaunlich offenen emotionalen Bekenntnissen und einer deutlichen Bereitschaft zum intellektuellen Wettstreit offenbaren beide Briefschreiber, Mann und Frau, auch Neigungen zur leicht hämischen Stichelei. So schreibt etwa die Theologin in einem Rausch von sprachlicher Ersatzbefriedigung: "Bis dahin tun wir's, Sie und ich, proludisch und promissorisch und propudistisch und prognostisch und profund! Und, bitte, propurgistisch!" Wo man sich derart abgedreht unterhält, kann in anderer Hinsicht Entwarnung gegeben werden: Es geht in diesem neuen Walser-Roman für einmal nicht um nachlassende Körperfunktionen, eher um Probleme in Karl Barths Römerbriefkommentar.
Man muss diese intellektuelle Sprachartistik nicht bis zum letzten Schraubendreh goutieren. Sie mindert aber nicht die Faszination daran, dass hier aus dem Nichts, allein durch die Kraft der Worte, eine menschliche Beziehung ins Leben gehoben wird, die das Wunder der Liebe in Gedanken verwirklicht.
Das größte Wunder steht allerdings schon am Anfang des Buches: Es besteht darin, dass die Adressatin eines vielfach grenzüberschreitenden Briefes auf diesen tatsächlich antwortet, dass es also überhaupt erstmal irgendwie beginnt mit diesen beiden Menschen und dann auch weitergeht. Das ist das Wunder der Fiktion, welches in der Wirklichkeit ganz und gar nicht garantiert ist.
Aber Martin Walsers Buch macht nicht nur Hoffnung auf gelingende Kommunikation, sondern es gibt ganz konkrete Anschauung davon, wie das scheinbar Unaussprechliche im Brief mühelos Gestalt annimmt, ja kühne Sprünge macht. Dann ist es als Wort in der Welt, und es kann etwas anrichten: Briefeschreiben ist geradezu "abenteuerlich", wie es einmal heißt, und dann gleich darauf im schönsten Satz des Romans: "Ich weiß nie, wohin ein Brief mich bringt."
Wenn man heute gern über die Folgenlosigkeit der Literatur redet, so kann man sagen: Wer dieses Buch liest, für den kann es eigentlich kaum folgenlos bleiben: Es ist eine echte Anstiftung dazu, das Wagnis des Briefes einzugehen - gerade da, wo alle andere Kommunikation am Ende ist, vor die Wand gefahren, lange tot. Und dann muss man demütig darauf warten, dass jemand anderes dieses Wagnis auch eingeht.
JAN WIELE
Martin Walser: "Das dreizehnte Kapitel". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 271 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abenteuerlich: Martin Walser macht in einer scheinbar veralteten Kommunikationsform ein modernes Liebesprinzip möglich.
Oft hat man inzwischen schon den Vorwurf gehört, Martin Walser schreibe nur noch "Altherrenliteratur". An seinem Roman "Ein liebender Mann" über die Beziehung des greisen Goethe zur neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow schieden sich deshalb die Geister - wie auch zuvor schon an seinem Buch "Angstblüte", dessen betagter Held eine halb so alte Frau verehrte und das gar als "Busenschlamassel" gerügt wurde. Auch das Sujet von Walsers neuem Roman "Das dreizehnte Kapitel" scheint solcherlei Befürchtungen zunächst zu bestätigen: Ein älterer verheirateter Schriftsteller verliebt sich darin in eine jüngere verheiratete Frau, eine Theologieprofessorin noch dazu - nicht unbedingt ein Stoff für Teenager. Oder für Menschen unter fünfzig.
Was hat ein Martin Walser der Generation Twitter noch zu sagen? Die Antwort ist: sehr viel, und sie liegt paradoxerweise in einem Thema begründet, das für diese Generation noch viel antiquierter wirken muss als die Liebesdinge älterer Menschen. Es geht, so sei behauptet, in diesem Roman nämlich nur zweitrangig um die Figuren. Es geht vor allem ums Briefeschreiben. Um Handschrift, um Tinte, um Papier. Es geht um eine Kommunikationsform, in der das Unmögliche möglich wird.
Diese Erfahrung illustriert Walser anhand einer Ausgangssituation, die zunächst ausweglos erscheint: Der Schriftsteller entdeckt die besagte Frau bei einem förmlichen Abendessen, es ist sogar ein Empfang beim Bundespräsidenten, und ist sogleich von dieser fasziniert. Sie dagegen nimmt ihn überhaupt nicht wahr: "Sie demonstrierte mir nichts als meine Nichtanwesenheit", schreibt der verstört Hingerissene - jeder weiß: Da man kann nichts machen. Der Schriftsteller ist sich schon im Gehen gewiss: "Ich werde diese Frau nicht mehr sehen." Dann jedoch fasst er den Entschluss, ihr zu schreiben, und dieses Schreiben wird sein Leben verändern.
Der Schriftsteller als Briefeschreiber geht gleich in die Vollen. Er dichtet seine Verehrung, lobt die Frau, die er gar nicht kennt, für "raffinierteste Einfalt" wie auch "unschuldigste Durchtriebenheit" und erzählt zugleich Intimstes aus seiner Ehe. Er gibt sich preis. Und erhält von der zuvor so Abweisenden tatsächlich eine Reaktion: Die Frau antwortet, ohne recht zu wissen, warum. Doch auch sie gibt sich preis. Über ihre Antwort ist er wiederum so glücklich, dass er ihr schreibt: "Ihr Brief ist eine Wiese. Ich habe auf dieser Wiese gegrast. Tag und Nacht." Sie darauf: "Ich habe übrigens nichts dagegen, dass sich unser Briefwechsel zu einem Geständnis-Wettbewerb entwickelt." Und er gesteht dann: "Ich bin ein anderer, und das durch Sie." Diese beiden Menschen kommen sozusagen von null auf hundert durch das Wagnis des Briefs.
Was sich zwischen ihnen entwickelt, erkennen sie bald als "Verrat" an ihren Ehegatten - und doch spielen auch diese Partner im Roman eine wichtige Rolle. Es wird sogar über ein Treffen zu viert phantasiert. Doch die Situation von Walsers modernem Klassiker über das Aufeinandertreffen zweier Paare, seinem Buch "Ein fliehendes Pferd", bleibt hier ein reines Kopfspiel.
Damit ist noch nichts gesagt über weitere Dimensionen dieses vielschichtigen Romans, dessen Konzeption als Spiegelung eines Briefwechsels zwischen dem Theologen Karl Barth und der Krankenschwester Charlotte von Kirschbaum angelegt ist. Es ist auch ein Campus- und Wissenschaftsroman zwischen Theologie und Hirnforschung, eng an die Realität gebunden durch zahlreiche Namen und Orte, während die sprechenden Namen seiner Figuren märchenhaft klingen: Basil Schlupp und Maja Schneilin. Und es ist schließlich auch ein mehrfacher Künstlerroman mit der Anlage zur Metafiktion: Denn Basil Schlupp hat ein Buch namens "Strandhafer" geschrieben, das ironische Assoziationen zu Walsers Bodensee-Büchern weckt, und auch Frau Schlupp schreibt im Buch an einem Buch, von dem sich Walsers Roman schließlich den Titel "Das dreizehnte Kapitel" leiht.
Eine überraschende Wendung nimmt dieser Roman, als der Ehemann der Theologin plötzlich krank wird und die beiden zu einer Reise an den Yukon aufbrechen, die ihre letzte gemeinsame sein könnte. Nicht nur dadurch wird der Kontakt zwischen Basil Schlupp und Maja Schneilin stark gefährdet - er steht ohnehin immer auf der Kippe, weil er so schonungslos ist.
Mit zunehmender Dramatik und häufigen Ortswechseln des Personals - womöglich auch als Tribut des Autors an die junge Generation - werden schließlich aus den Tintenbriefen elektronische, die mit der Information "Von meinem iPhone gesendet" enden. Aber es bleiben dennoch Briefe, formvollendet und mit immer kühnerer Signatur: Er unterschreibt mit "Dein von Dir Lebender", sie mit "die Gelieferte".
Wie immer bei Walser ist der Ton auch hier elegisch, also geprägt von der vermischten Empfindung. In den Briefen wird Hohes und Tiefes, alltäglich Banales und spitzfindig Metaphysisches unmittelbar nebeneinandergestellt, auch dialektisch ausgespielt: Neben ihren erstaunlich offenen emotionalen Bekenntnissen und einer deutlichen Bereitschaft zum intellektuellen Wettstreit offenbaren beide Briefschreiber, Mann und Frau, auch Neigungen zur leicht hämischen Stichelei. So schreibt etwa die Theologin in einem Rausch von sprachlicher Ersatzbefriedigung: "Bis dahin tun wir's, Sie und ich, proludisch und promissorisch und propudistisch und prognostisch und profund! Und, bitte, propurgistisch!" Wo man sich derart abgedreht unterhält, kann in anderer Hinsicht Entwarnung gegeben werden: Es geht in diesem neuen Walser-Roman für einmal nicht um nachlassende Körperfunktionen, eher um Probleme in Karl Barths Römerbriefkommentar.
Man muss diese intellektuelle Sprachartistik nicht bis zum letzten Schraubendreh goutieren. Sie mindert aber nicht die Faszination daran, dass hier aus dem Nichts, allein durch die Kraft der Worte, eine menschliche Beziehung ins Leben gehoben wird, die das Wunder der Liebe in Gedanken verwirklicht.
Das größte Wunder steht allerdings schon am Anfang des Buches: Es besteht darin, dass die Adressatin eines vielfach grenzüberschreitenden Briefes auf diesen tatsächlich antwortet, dass es also überhaupt erstmal irgendwie beginnt mit diesen beiden Menschen und dann auch weitergeht. Das ist das Wunder der Fiktion, welches in der Wirklichkeit ganz und gar nicht garantiert ist.
Aber Martin Walsers Buch macht nicht nur Hoffnung auf gelingende Kommunikation, sondern es gibt ganz konkrete Anschauung davon, wie das scheinbar Unaussprechliche im Brief mühelos Gestalt annimmt, ja kühne Sprünge macht. Dann ist es als Wort in der Welt, und es kann etwas anrichten: Briefeschreiben ist geradezu "abenteuerlich", wie es einmal heißt, und dann gleich darauf im schönsten Satz des Romans: "Ich weiß nie, wohin ein Brief mich bringt."
Wenn man heute gern über die Folgenlosigkeit der Literatur redet, so kann man sagen: Wer dieses Buch liest, für den kann es eigentlich kaum folgenlos bleiben: Es ist eine echte Anstiftung dazu, das Wagnis des Briefes einzugehen - gerade da, wo alle andere Kommunikation am Ende ist, vor die Wand gefahren, lange tot. Und dann muss man demütig darauf warten, dass jemand anderes dieses Wagnis auch eingeht.
JAN WIELE
Martin Walser: "Das dreizehnte Kapitel". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 271 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.09.2012Lippenbekenntnisse
Martin Walsers neues Buch „Das dreizehnte Kapitel“ erzählt von einem Paar, das keines sein kann –
ein grandioser Briefroman, der von der Liebe nicht nur spricht, sondern selbst ein großes Werk der Liebe ist
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Am 20. September 1912 begann Franz Kafkas Korrespondenz mit seiner Verlobten Felice Bauer. Wann genau hingegen die Korrespondenz des Schriftstellers Basil Schlupp mit der Theologieprofessorin Maja Schneilin begann, wissen wir nicht, denn in den ersten Monaten ist ihr Briefwechsel nicht datiert. Dass aber Martin Walsers neuer Roman, der aus ebendiesem fiktiven Briefwechsel besteht und den Titel „Das dreizehnte Kapitel“ trägt, fast auf den Tag genau einhundert Jahre erscheint, nachdem Kafka und Felice Bauer anfingen, einander zu schreiben, ist natürlich kein Zufall. Als bloße Koinzidenz könnte diese Übereinstimmung nur durchgehen, wenn Martin Walser nicht der Kafka-Kenner wäre, der er ist. 1951 promovierte er über ihn, der so etwas darstellt wie die Portalfigur seines Weges als Schriftsteller und dessen Werk, ausweislich des jüngsten, im vergangenen Jahr erschienenen großen Essays „Über Rechtfertigung“, bis heute Walsers wichtigste Bezugsgröße ist.
Waren Kafkas „Briefe an Felice“ der Versuch, sich eine Wirklichkeit herbeizuphantasieren, so ist Walsers Briefroman eine verwirklichte Phantasie. Beide Bücher handeln von einer unmöglichen Liebe, dem Seelen-Experiment, so nennt es Kafka, einen Menschen allein „mit der Schrift binden“ und „halten“ zu können. Doch bei Kafka bedeutete diese Unmöglichkeit eine nichtgelebte Möglichkeit, bei Walser wendet sie sich ins Positive und wird zu einer gelebten Unmöglichkeit, „die unmögliche Möglichkeit“, um es mit Majas Worten zu sagen. Kafka wollte sein Verhältnis zu Felice in der unverbindlichen Schwebe belassen, die Geliebte auf Abstand halten, und bekennt, als Briefeschreiber ein Betrüger gewesen zu sein, der vor allem sich selbst betrog. Walsers Schriftsteller jedoch kann seine Liebe nicht anders als in Briefen ausleben, da er und seine Angebetete gebunden sind und keiner von beiden daran denkt, seinen Partner zu verlassen. So wird die Schrift zum einzigen Ort ihrer Zweisamkeit, „unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit“, wie es einmal heißt, und zwar „in die Luft gebaut“. Lauter Lippenbekenntnisse im emphatischsten Sinne, die einen Zustand beschwören, „für den es keine Wirklichkeit gibt“. Auch als sie sich ein einziges Mal zufällig über den Weg laufen, kommen sie nicht zueinander. Beide leben sie in Berlin, sind irgendwann am Flughafen Tegel unterwegs, er eben angekommen, sie kurz vor dem Abflug. Rufweite ist hier das Äußerste an körperlicher Nähe, gerade so nahe, dass er ihr seine E-Mail-Adressen zurufen kann, womit der Briefkontakt dann auch das Medium wechselt, von Bütten zu Bytes sozusagen. Diese Szene am Gate bringt die Vergeblichkeit berückend ins Bild, zwei Menschen, getrennt-vereint im Drehkreuz des Lebens. Zwei Lieben, die nicht eine werden können.
Dabei beginnt der Roman alles andere als elegisch, eher wie eine auftoupierte Boulevard-Satire. Händchenhaltend sind Basil und seine Frau Iris auf dem Weg zu einem Empfang im Schloss Bellevue zu Ehren von Majas Mann, einem Biologen und Mastermind der Wissenschaft. Basil gibt reflexhaft den Gesellschaftskasper und das Enfant terrible, als ihm Maja ins Auge fällt und ihn gleichsam auf den ersten Blick niederstreckt, seine Existenz aus den Angeln gebt und ihr eine neue Richtung gibt, ein „Mandat“, eine „Tendenz“. Er fühlt sich „nominiert“. Denn über diese Frau kann man nur sagen, was Kafka über seine Felice schrieb: „Sie gefällt mir zum Seufzen.“ Mit über sechzig Jahren hat Walsers Alter Ego die Liebe noch einmal voll erwischt. Wie ein Vorzeichen erscheint es ihm, dass beide gleichermaßen von der Sonne gebräunt sind, als stammten sie von derselben Insel. Zwei Wochen braucht Basil, bis er sein Herz in die Hand nimmt und den ersten Brief an die „sehr verehrte Frau Professor“ sich abzuschicken getraut: Und damit das beginnt, was sie so nennt: „Sie ritzen meine theologische Rüstung mit literarischen Pfeilen.“
Was nun folgt, ist Verbalerotik der sublimsten Art, ein versilberter Minnesang, ein Pas de deux der Betörung mit schon leicht rheumatischer Intonation. Doch mit welch wunderwitziger Delikatesse schildert Walser im Wechsel der Perspektiven das schüchtern-forsche Sichumgarnen zweier nicht mehr junger Menschen, mit wie viel Zartheit und graziler Komik entspinnt er die süße Pein dieser amourösen Nachblüte: hier der nicht uneitle Schriftsteller, mit katholisch barocker Prunkrhetorik offensiv balzend, Süßholz raspelnd und drechselnd, eine Brachialmimose, fast noch mehr betört vom eigenen Hormonsturm als von der Adressatin, die diesen in ihm entfacht, und die verbotene Frucht der Verstohlenheit sichtlich genießend. Dort die zunächst spröde evangelische Theologin, eine Art ins Idealische entrückte Margot Käßmann, halb geschmeichelt, halb spöttisch den Stürmer und Dränger an ihrem Herzen zappeln lassend. Sogleich entlarvt sie seine Doktrin, die wahre Liebe zeige sich erst, wenn das körperliche Begehren nachlasse, als kokette Unterwerfungsgeste eines eifersüchtig Entflammten, der doch keinen Zweifel daran lässt, dass er noch weit entfernt ist von der Geschlechtsverrentung. Wo er tändelt und sülzt, ist sie klar und bestimmt, nimmt der Anbahnung alles Frivole, indem sie das, was den beiden widerfährt, ins Metaphysische hochschraubt. Bei aller kühlen Distanz zeigt sie sich viel entschiedener in ihren Gefühlen als der egomanisch verschmierte, gefühlsschlampig flatterhafte, romantische Liebesnarr. Sie erkennt ihren Amour fou als schicksalhaft – „wir sind die Extreme, die einander berühren“ –, weiß das, was sie verbindet, jenseits von Betrug und Verrat, jenseits auch des schnöden Gegensatzes von Wahrheit und Lüge. Diesem stellt sie die Tiefe der alle Dichotomien aufhebenden Aletheia, der Unverborgenheit entgegen, „das allumfassend Weibliche als das welterhaltende Sowohl-als-auch“.
So antiquiert dieses mystifizierende Frauenbild auch wirken mag, der Gültigkeit dieser ergreifenden Liebesgeschichte tut das genauso wenig Abbruch, wie der zunächst forciert anmutende philosophische Überbau die Wahrheit der Gefühle zu schmälern vermag. Für jüngere, an die Explizitheit von Chatroom und sozialen Medien gewöhnte Leser mag das, was diese Briefabenteurer da miteinander treiben, allerdings mindestens so befremdlich sein wie die Form, in der sie es tun: diese altmodisch-manierlichen Episteln aus dem Bildungshaushalt, in denen man einander in wohlgesetzten Worten erklärt, wie es um einen steht. Dass das Wort „gnädige Frau“ Schauer bisher nicht erlebter Wollust auslösen kann, ist uns kaum weniger fern, als dass sich zwei weiterhin noch lange siezen, die sich doch längst offenbart haben – und mit welch kunstvollen Wendungen und Windungen sie nacheinander schreien. Und dass die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist zwischen den Briefen als Vor- und Nachlust zum Liebesspiel gehört. Sie reden sich mit Titeln und mit Namen an, nennen sich Freund und Freundin, mal ist sie die Vertraute, die zu sehr Abwesende, mal er der Anempfinderoder gar der Vorwurfsfreudige und Verratssüchtige. Immer neue Koseworte finden sie füreinander, und was für welche: sie, die Teilhaftige, Maestra, Gelieferte, Kapitulierende, er, der Ausgelieferte, der Belletrist, der Übermütige, Erschienener, von ihr Lebender, ihr ganz und gar Gehörender, vor Gemeinsamkeit Vibrierender, von Aussichtslosigkeit Geblendeter. Nur ein einziges Mal jedoch: Liebster und Liebste. Allein dieser verspielte Benennungszauber ist der schönste Beweis dafür, dass Gefühl und Verstand eben kein Gegensatz sind, dass das dumpf Empfundene sich erst in Sprache gefasst zum klaren Gefühl läutert, dass Herzensbildung kein verschmockter Backfischbegriff des 19. Jahrhunderts ist, sondern der Name für eine Poetik der Emotionen.
Was als leichtes Parlando beginnt, mündet bald in eine Innigkeit, mit der man sich für die Gefühls- und Gedankenwelt des anderen öffnet – so macht Maja, die Göttliche, ihren Basil mit der existenzphilosophisch grundierten Theologie ihres Vorbildes Karl Barth vertraut. Und man erzählt einander ganz ungeschützt von den jeweiligen „Ehe-Gehegen“. So ist Maja eben nicht nur in Basils Leben die starke Frau, sondern auch in dem ihres Mannes, den sie stützen und aufrichten muss. An diesem scheinbar so triumphalen Wissenschaftler und Unternehmer nagen Zweifel und Verunsicherung, und selbst noch die Demütigung, die ihm ein falscher Freund, ein Blender und „Ego-Midas“, zufügt, betrachtet er als gerechten Lohn. „Vernichtend tolerant“, so Majas Befund. Und auch Basil, dieser windschief ins Leben gebaute Universalhypochonder, wäre nichts ohne seine Iris, die stille Dulderin an seiner Seite, deren heimliche epigrammatische Notate, die den Arbeitstitel „Das 13. Kapitel“ tragen, er sich vampirisch aneignet und Maja zukommen lässt, als sehnte er sich geradezu nach einer stellvertretenden Bestrafung für seinen größeren Verrat. Durch diese Erzählungen kommt nicht nur viel Welt in die Herzensergießungen, sie vertiefen zugleich die Beziehung. Dass aber die Krise, ohne die auch diese Liebe keine große wäre, nicht aus einem tatsächlichen Vertrauensbruch erwächst, sondern aus einem Missverständnis, einer Nichtigkeit, darin zeigt sich die überragende Feinhörigkeit Martin Walsers für das kippelige Gleichgewicht im hochsensiblen Mikroklima der Gefühle.
Aber Walser begnügt sich nicht damit, ein präzises Seismogramm des Herzflimmerns aufzuzeichnen – und eine der bewegendsten Liebesgeschichten auf der Richter-Skala der Literatur, er geht noch einen Schritt weiter, indem er im zweiten Teil des Buches seinen Schriftsteller verstummen lässt, und zwar auf Majas Geheiß. Nachdem ihr Mann eine Krebsoperation überstanden hat, ist sie mit ihm nach Kanada gereist. Die „crazy germans“ unternehmen eine mehrwöchige Fahrradtour im schweren Gelände am Klondike. Von unterwegs sendet Maja Berichte nach Berlin von ihrem iPhone, verbunden mit der Bitte, ihr nicht zu antworten. Also schweigt Basil, aber das heißt nicht, dass er nicht da wäre. Er ist es als Empfänger ihrer Nachrichten, als Zuhörer und stiller Zeuge. Man liest ihre Berichte mit den besorgten, sehnenden Augen von Basil, der sich, von Phantomschmerzen getrieben, auf ziellosen Stadtwanderungen mit ihrem Geist im Café Einstein verabredet. Die immense Einfühlungskunst Martin Walsers vermag es, ihn als Abwesenden stets anwesend sein zu lassen. Maja und ihrem Mann Korbinian begegnen auf ihrer strapaziösen Tour immer wieder andere, denen die Liebe Wunden geschlagen hat, Besiegte und Verlorene. Walser gelingt das Wunderwerk, mit der profanen Sprache des Biker-Lateins den Extremurlaub zweier Alpha-Senioren als Stationendrama zu erzählen, begleitet von Vorboten des Abschieds und Endes. Und wenn Korbinian sich einmal unmöglich aufführt in einem Restaurant, so legt Walser in diese Szene die ganze Tragödie eines Mannes hinein, der ein einziges Mal ungerecht sein darf, weil ihn ein ungleich größeres Unrecht erwartet. Und der natürlich insgeheim weiß, wie es um seine Maja steht, wie auch Iris weiß, dass Basil in Gedanken nicht bei ihr ist.
In seinem Essay „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ hatte Walser in Auseinandersetzung mit seinen Hausgöttern Kafka und dem Schweizer Theologen Karl Barth seine negative Theologie entwickelt, sein credo quia absurdum est: Dass man an den unbekannten Gott nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben könne. „Das dreizehnte Kapitel“ liefert die Fortschreibung dazu, eine Apotheose auf das Paradoxon der Liebe, die immer größer ist als die Liebenden und deren Unerfüllbarkeit zu ihrem Wesen gehört, weil wir ohne Unerfüllbarkeit nicht sein können. „Umgeben von nichts als Möglichem erlischt das Leben selbst“, so Basil. Am Ende dieses unendlich tiefsinnigen Buches verbrennt Iris ihr 13. Kapitel. Es ist wie in Kafkas Türhüter-Parade. Die Notizen mit der Teufelszahl können vernichtet werden, denn sie waren nur dafür bestimmt, die Verbindung nicht abreißen zu lassen zu ihrem einzigen Leser. Dann ist der Bann gebrochen, und Basil fragt, ob Iris ihm den Titel ihrer Aufzeichnungen schenkt, und wenn er nicht eine Figur in einem Buch wäre, dann hätte er dieses furiose Buch gleichen Titels geschrieben, mit dem Martin Walser der Literatur über die Liebe eines ihrer schönsten, wahrsten und schmerzlichsten Kapitel geschenkt hat. Ein Meisterwerk der Schreib- und Empfindungskunst, ein Roman, der „ein Sachbuch der Seele“ ist, wie Basil einmal sagt.
Wo der Schriftsteller tändelt und
sülzt, ist die Theologin
klar und bestimmt
Die Liebe ist immer größer
als die Liebenden, Unerfüllbarkeit
gehört zu ihrem Wesen
Ein Schriftsteller und eine Theologin, beide glücklich verheiratet, stürzen sich in ein Briefabenteuer: „Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit“, heißt es in Martin Walsers neuem Roman.
FOTO: DANIEL BISKUP/LAIF
Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012. 272 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Martin Walsers neues Buch „Das dreizehnte Kapitel“ erzählt von einem Paar, das keines sein kann –
ein grandioser Briefroman, der von der Liebe nicht nur spricht, sondern selbst ein großes Werk der Liebe ist
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Am 20. September 1912 begann Franz Kafkas Korrespondenz mit seiner Verlobten Felice Bauer. Wann genau hingegen die Korrespondenz des Schriftstellers Basil Schlupp mit der Theologieprofessorin Maja Schneilin begann, wissen wir nicht, denn in den ersten Monaten ist ihr Briefwechsel nicht datiert. Dass aber Martin Walsers neuer Roman, der aus ebendiesem fiktiven Briefwechsel besteht und den Titel „Das dreizehnte Kapitel“ trägt, fast auf den Tag genau einhundert Jahre erscheint, nachdem Kafka und Felice Bauer anfingen, einander zu schreiben, ist natürlich kein Zufall. Als bloße Koinzidenz könnte diese Übereinstimmung nur durchgehen, wenn Martin Walser nicht der Kafka-Kenner wäre, der er ist. 1951 promovierte er über ihn, der so etwas darstellt wie die Portalfigur seines Weges als Schriftsteller und dessen Werk, ausweislich des jüngsten, im vergangenen Jahr erschienenen großen Essays „Über Rechtfertigung“, bis heute Walsers wichtigste Bezugsgröße ist.
Waren Kafkas „Briefe an Felice“ der Versuch, sich eine Wirklichkeit herbeizuphantasieren, so ist Walsers Briefroman eine verwirklichte Phantasie. Beide Bücher handeln von einer unmöglichen Liebe, dem Seelen-Experiment, so nennt es Kafka, einen Menschen allein „mit der Schrift binden“ und „halten“ zu können. Doch bei Kafka bedeutete diese Unmöglichkeit eine nichtgelebte Möglichkeit, bei Walser wendet sie sich ins Positive und wird zu einer gelebten Unmöglichkeit, „die unmögliche Möglichkeit“, um es mit Majas Worten zu sagen. Kafka wollte sein Verhältnis zu Felice in der unverbindlichen Schwebe belassen, die Geliebte auf Abstand halten, und bekennt, als Briefeschreiber ein Betrüger gewesen zu sein, der vor allem sich selbst betrog. Walsers Schriftsteller jedoch kann seine Liebe nicht anders als in Briefen ausleben, da er und seine Angebetete gebunden sind und keiner von beiden daran denkt, seinen Partner zu verlassen. So wird die Schrift zum einzigen Ort ihrer Zweisamkeit, „unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit“, wie es einmal heißt, und zwar „in die Luft gebaut“. Lauter Lippenbekenntnisse im emphatischsten Sinne, die einen Zustand beschwören, „für den es keine Wirklichkeit gibt“. Auch als sie sich ein einziges Mal zufällig über den Weg laufen, kommen sie nicht zueinander. Beide leben sie in Berlin, sind irgendwann am Flughafen Tegel unterwegs, er eben angekommen, sie kurz vor dem Abflug. Rufweite ist hier das Äußerste an körperlicher Nähe, gerade so nahe, dass er ihr seine E-Mail-Adressen zurufen kann, womit der Briefkontakt dann auch das Medium wechselt, von Bütten zu Bytes sozusagen. Diese Szene am Gate bringt die Vergeblichkeit berückend ins Bild, zwei Menschen, getrennt-vereint im Drehkreuz des Lebens. Zwei Lieben, die nicht eine werden können.
Dabei beginnt der Roman alles andere als elegisch, eher wie eine auftoupierte Boulevard-Satire. Händchenhaltend sind Basil und seine Frau Iris auf dem Weg zu einem Empfang im Schloss Bellevue zu Ehren von Majas Mann, einem Biologen und Mastermind der Wissenschaft. Basil gibt reflexhaft den Gesellschaftskasper und das Enfant terrible, als ihm Maja ins Auge fällt und ihn gleichsam auf den ersten Blick niederstreckt, seine Existenz aus den Angeln gebt und ihr eine neue Richtung gibt, ein „Mandat“, eine „Tendenz“. Er fühlt sich „nominiert“. Denn über diese Frau kann man nur sagen, was Kafka über seine Felice schrieb: „Sie gefällt mir zum Seufzen.“ Mit über sechzig Jahren hat Walsers Alter Ego die Liebe noch einmal voll erwischt. Wie ein Vorzeichen erscheint es ihm, dass beide gleichermaßen von der Sonne gebräunt sind, als stammten sie von derselben Insel. Zwei Wochen braucht Basil, bis er sein Herz in die Hand nimmt und den ersten Brief an die „sehr verehrte Frau Professor“ sich abzuschicken getraut: Und damit das beginnt, was sie so nennt: „Sie ritzen meine theologische Rüstung mit literarischen Pfeilen.“
Was nun folgt, ist Verbalerotik der sublimsten Art, ein versilberter Minnesang, ein Pas de deux der Betörung mit schon leicht rheumatischer Intonation. Doch mit welch wunderwitziger Delikatesse schildert Walser im Wechsel der Perspektiven das schüchtern-forsche Sichumgarnen zweier nicht mehr junger Menschen, mit wie viel Zartheit und graziler Komik entspinnt er die süße Pein dieser amourösen Nachblüte: hier der nicht uneitle Schriftsteller, mit katholisch barocker Prunkrhetorik offensiv balzend, Süßholz raspelnd und drechselnd, eine Brachialmimose, fast noch mehr betört vom eigenen Hormonsturm als von der Adressatin, die diesen in ihm entfacht, und die verbotene Frucht der Verstohlenheit sichtlich genießend. Dort die zunächst spröde evangelische Theologin, eine Art ins Idealische entrückte Margot Käßmann, halb geschmeichelt, halb spöttisch den Stürmer und Dränger an ihrem Herzen zappeln lassend. Sogleich entlarvt sie seine Doktrin, die wahre Liebe zeige sich erst, wenn das körperliche Begehren nachlasse, als kokette Unterwerfungsgeste eines eifersüchtig Entflammten, der doch keinen Zweifel daran lässt, dass er noch weit entfernt ist von der Geschlechtsverrentung. Wo er tändelt und sülzt, ist sie klar und bestimmt, nimmt der Anbahnung alles Frivole, indem sie das, was den beiden widerfährt, ins Metaphysische hochschraubt. Bei aller kühlen Distanz zeigt sie sich viel entschiedener in ihren Gefühlen als der egomanisch verschmierte, gefühlsschlampig flatterhafte, romantische Liebesnarr. Sie erkennt ihren Amour fou als schicksalhaft – „wir sind die Extreme, die einander berühren“ –, weiß das, was sie verbindet, jenseits von Betrug und Verrat, jenseits auch des schnöden Gegensatzes von Wahrheit und Lüge. Diesem stellt sie die Tiefe der alle Dichotomien aufhebenden Aletheia, der Unverborgenheit entgegen, „das allumfassend Weibliche als das welterhaltende Sowohl-als-auch“.
So antiquiert dieses mystifizierende Frauenbild auch wirken mag, der Gültigkeit dieser ergreifenden Liebesgeschichte tut das genauso wenig Abbruch, wie der zunächst forciert anmutende philosophische Überbau die Wahrheit der Gefühle zu schmälern vermag. Für jüngere, an die Explizitheit von Chatroom und sozialen Medien gewöhnte Leser mag das, was diese Briefabenteurer da miteinander treiben, allerdings mindestens so befremdlich sein wie die Form, in der sie es tun: diese altmodisch-manierlichen Episteln aus dem Bildungshaushalt, in denen man einander in wohlgesetzten Worten erklärt, wie es um einen steht. Dass das Wort „gnädige Frau“ Schauer bisher nicht erlebter Wollust auslösen kann, ist uns kaum weniger fern, als dass sich zwei weiterhin noch lange siezen, die sich doch längst offenbart haben – und mit welch kunstvollen Wendungen und Windungen sie nacheinander schreien. Und dass die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist zwischen den Briefen als Vor- und Nachlust zum Liebesspiel gehört. Sie reden sich mit Titeln und mit Namen an, nennen sich Freund und Freundin, mal ist sie die Vertraute, die zu sehr Abwesende, mal er der Anempfinderoder gar der Vorwurfsfreudige und Verratssüchtige. Immer neue Koseworte finden sie füreinander, und was für welche: sie, die Teilhaftige, Maestra, Gelieferte, Kapitulierende, er, der Ausgelieferte, der Belletrist, der Übermütige, Erschienener, von ihr Lebender, ihr ganz und gar Gehörender, vor Gemeinsamkeit Vibrierender, von Aussichtslosigkeit Geblendeter. Nur ein einziges Mal jedoch: Liebster und Liebste. Allein dieser verspielte Benennungszauber ist der schönste Beweis dafür, dass Gefühl und Verstand eben kein Gegensatz sind, dass das dumpf Empfundene sich erst in Sprache gefasst zum klaren Gefühl läutert, dass Herzensbildung kein verschmockter Backfischbegriff des 19. Jahrhunderts ist, sondern der Name für eine Poetik der Emotionen.
Was als leichtes Parlando beginnt, mündet bald in eine Innigkeit, mit der man sich für die Gefühls- und Gedankenwelt des anderen öffnet – so macht Maja, die Göttliche, ihren Basil mit der existenzphilosophisch grundierten Theologie ihres Vorbildes Karl Barth vertraut. Und man erzählt einander ganz ungeschützt von den jeweiligen „Ehe-Gehegen“. So ist Maja eben nicht nur in Basils Leben die starke Frau, sondern auch in dem ihres Mannes, den sie stützen und aufrichten muss. An diesem scheinbar so triumphalen Wissenschaftler und Unternehmer nagen Zweifel und Verunsicherung, und selbst noch die Demütigung, die ihm ein falscher Freund, ein Blender und „Ego-Midas“, zufügt, betrachtet er als gerechten Lohn. „Vernichtend tolerant“, so Majas Befund. Und auch Basil, dieser windschief ins Leben gebaute Universalhypochonder, wäre nichts ohne seine Iris, die stille Dulderin an seiner Seite, deren heimliche epigrammatische Notate, die den Arbeitstitel „Das 13. Kapitel“ tragen, er sich vampirisch aneignet und Maja zukommen lässt, als sehnte er sich geradezu nach einer stellvertretenden Bestrafung für seinen größeren Verrat. Durch diese Erzählungen kommt nicht nur viel Welt in die Herzensergießungen, sie vertiefen zugleich die Beziehung. Dass aber die Krise, ohne die auch diese Liebe keine große wäre, nicht aus einem tatsächlichen Vertrauensbruch erwächst, sondern aus einem Missverständnis, einer Nichtigkeit, darin zeigt sich die überragende Feinhörigkeit Martin Walsers für das kippelige Gleichgewicht im hochsensiblen Mikroklima der Gefühle.
Aber Walser begnügt sich nicht damit, ein präzises Seismogramm des Herzflimmerns aufzuzeichnen – und eine der bewegendsten Liebesgeschichten auf der Richter-Skala der Literatur, er geht noch einen Schritt weiter, indem er im zweiten Teil des Buches seinen Schriftsteller verstummen lässt, und zwar auf Majas Geheiß. Nachdem ihr Mann eine Krebsoperation überstanden hat, ist sie mit ihm nach Kanada gereist. Die „crazy germans“ unternehmen eine mehrwöchige Fahrradtour im schweren Gelände am Klondike. Von unterwegs sendet Maja Berichte nach Berlin von ihrem iPhone, verbunden mit der Bitte, ihr nicht zu antworten. Also schweigt Basil, aber das heißt nicht, dass er nicht da wäre. Er ist es als Empfänger ihrer Nachrichten, als Zuhörer und stiller Zeuge. Man liest ihre Berichte mit den besorgten, sehnenden Augen von Basil, der sich, von Phantomschmerzen getrieben, auf ziellosen Stadtwanderungen mit ihrem Geist im Café Einstein verabredet. Die immense Einfühlungskunst Martin Walsers vermag es, ihn als Abwesenden stets anwesend sein zu lassen. Maja und ihrem Mann Korbinian begegnen auf ihrer strapaziösen Tour immer wieder andere, denen die Liebe Wunden geschlagen hat, Besiegte und Verlorene. Walser gelingt das Wunderwerk, mit der profanen Sprache des Biker-Lateins den Extremurlaub zweier Alpha-Senioren als Stationendrama zu erzählen, begleitet von Vorboten des Abschieds und Endes. Und wenn Korbinian sich einmal unmöglich aufführt in einem Restaurant, so legt Walser in diese Szene die ganze Tragödie eines Mannes hinein, der ein einziges Mal ungerecht sein darf, weil ihn ein ungleich größeres Unrecht erwartet. Und der natürlich insgeheim weiß, wie es um seine Maja steht, wie auch Iris weiß, dass Basil in Gedanken nicht bei ihr ist.
In seinem Essay „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ hatte Walser in Auseinandersetzung mit seinen Hausgöttern Kafka und dem Schweizer Theologen Karl Barth seine negative Theologie entwickelt, sein credo quia absurdum est: Dass man an den unbekannten Gott nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben könne. „Das dreizehnte Kapitel“ liefert die Fortschreibung dazu, eine Apotheose auf das Paradoxon der Liebe, die immer größer ist als die Liebenden und deren Unerfüllbarkeit zu ihrem Wesen gehört, weil wir ohne Unerfüllbarkeit nicht sein können. „Umgeben von nichts als Möglichem erlischt das Leben selbst“, so Basil. Am Ende dieses unendlich tiefsinnigen Buches verbrennt Iris ihr 13. Kapitel. Es ist wie in Kafkas Türhüter-Parade. Die Notizen mit der Teufelszahl können vernichtet werden, denn sie waren nur dafür bestimmt, die Verbindung nicht abreißen zu lassen zu ihrem einzigen Leser. Dann ist der Bann gebrochen, und Basil fragt, ob Iris ihm den Titel ihrer Aufzeichnungen schenkt, und wenn er nicht eine Figur in einem Buch wäre, dann hätte er dieses furiose Buch gleichen Titels geschrieben, mit dem Martin Walser der Literatur über die Liebe eines ihrer schönsten, wahrsten und schmerzlichsten Kapitel geschenkt hat. Ein Meisterwerk der Schreib- und Empfindungskunst, ein Roman, der „ein Sachbuch der Seele“ ist, wie Basil einmal sagt.
Wo der Schriftsteller tändelt und
sülzt, ist die Theologin
klar und bestimmt
Die Liebe ist immer größer
als die Liebenden, Unerfüllbarkeit
gehört zu ihrem Wesen
Ein Schriftsteller und eine Theologin, beide glücklich verheiratet, stürzen sich in ein Briefabenteuer: „Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit“, heißt es in Martin Walsers neuem Roman.
FOTO: DANIEL BISKUP/LAIF
Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012. 272 Seiten, 19,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Christoph Schröder führt ausgiebig durch Walsers neuen Roman, einen Briefroman zwischen einem Schriftsteller und einer Theologieprofessorin, die, beide verheiratet, einander persönlich kaum kennen, sich aber im Schreiben füreinander entflammen. Schon in der Umschlaggestaltung zeigt sich Schröder dabei, woher der Wind weht: aus den 50ern - dem entsprechen die Umgangsformen und das Höflichkeitsgebaren der Korrespondenz, beobachtet der Rezensent, der im "Dreizehnten Kapitel" ein Buch über den Verrat und über den Theologen Karl Barth (in dessen Werk Walser sich zuletzt eingearbeitet hatte, wie Schröder weiß) erkennt. "Luftig gedruckt" sei der Roman, mit Geschick in Szene gesetzt und in manchen Sätzen durchaus in Walsers Sache geschrieben, sagt Schröder, nur wie ihm das Buch schlussendlich gefallen hat, erfährt man kaum.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Was hat ein Martin Walser der Generation Twitter noch zu sagen? Die Antwort: sehr viel. FAZ.NET