"Ach, ich sterbe vor Verlangen nach Umarmung mit dem Geliebten!" Damals studierte Sanda Kunstgeschichte in Wien und Venedig. Sie verliebte, nein, entzündete sich für Ferraghani, den orientalischen Prinzen , schön, dunkel und geheimnisvoll. Auf eine Zeit heftiger Leidenschaft und rauschhafter Verschmelzung folgt die melancholisch-traurige Zeit des Auseinandergehens, weil die Fremdheit zwischen ihnen zu groß, ihre Zukunftspläne zu verschieden sind. Selbst das Orakel des großen Hafis gibt diesmal keine brauchbare Antwort - die Erhellung bleibt aus. Eine abgelegte Freundin Ferraghanis drängt sich zwischen sie, Mißverständnis und Streit besiegeln das Ende der Beziehung. Erst im Rückblick erkennt Sanda, welchen Sinn ihre Liebesgeschichte hatte, und warum sie so enden mußte. Es ging nicht, weil wir beide herrschen wollten. Sibylle Mulot trägt ihre Erzählung vor wie einen Spruch Hafis : sanft und schlicht, sinnlich und rätselhaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2001Du kommst auch darin vor
Mit Kitschtropfen: Sibylle Mulots deutsch-iranische Liebesgeschichte
Mit ihrem fünften Buch ist Sibylle Mulot ein literarisches Meisterwerk gelungen: Ein Werk, an dem jedes Wort stimmt, an dem alles wie aus einem Guß ist und von dem alles, was über seinen Gegenstand zu sagen ist, so gesagt wird, daß es am Ende abgeschlossen ist und weiterwirkend zugleich. Man behält es, wenn man den letzten Satz gelesen hat, noch lange in der Hand und läßt das Gelesene noch einmal an sich vorübergleiten.
Dieses Glücksbuch, das nach Art und Umfang als Erzählung zu bezeichnen ist, umfaßt hundertdreißig Seiten (zuzüglich fünfundvierzig Seiten Anhang) und rekapituliert, eingebettet in eine Rahmenhandlung, die Geschichte der Liebe einer jungen Frau zu einem Iraner. Sanda studiert in Wien und in Venedig Kunstgeschichte, ihr Geliebter Ferraghani - noch zu Schahs Zeiten - ebenfalls in Wien Architektur. Das soll und muß hier nicht weiter ausgeführt werden: soll nicht, damit die Leser dieser Rezension nicht um das Vergnügen einer spannenden Lektüre gebracht werden; muß nicht, weil sich auf dem Gebiet der Liebe seit Menschengedenken nichts wesentlich Neues mehr ergeben hat. Aber wie das geschrieben ist, darüber darf hier ein Wort gesagt werden. Zuvörderst: Meisterhaft!
Das "Glück", das Sibylle Mulot uns miterleben läßt, entfaltet sich in vierzehn Kapiteln, die kaum mehr als Skizzen von Situationen und Ereignissen sind. Aber Skizzen, die völlig ausreichen, um uns ahnen oder wissen zu lassen, welche Erfahrungen von Glück und Schmerz sich zwischen dem ersten Anblick und dem letzten Telefonat aufeinanderhäufen. Mythologie und Literatur dienen als Spiegel. Mehr aber als ein Spiegel ist das "Orakel" des von Goethe so sehr bewunderten und nachgeahmten Hafis (um 1326 bis 1390): eine Folge von 41 Tafeln, auf denen je hundertfünfzig oder mehr Buchstaben in Zeilen und Reihen so angeordnet sind, daß man aus jeder der zunächst völlig sinnlos scheinenden Tafeln mit Hilfe eines kleinen Schlüssels vier Sprüche des berühmtesten persischen Dichters herauslesen kann.
Ferraghani hat dieses Tafelwerk mitgebracht und erklärt es Sanda, nachdem sie unter seiner wilden Felldecke zusammengefunden haben; und er vergißt nicht, zu bemerken, daß die Sprüche des Orakels oft dunkel und interpretationsbedürftig sind. Dann wird die erste Befragung vorgenommen, und der Spruch, der sich aus den von Sanda gewählten Buchstabenreihe ergibt, lautet: "Ach, ich sterbe vor Verlangen nach Umarmung mit dem Geliebten!" Das ist zwar sehr gut verständlich, aber dennoch sehr auslegungsfähig: "Sie ließen das Buch fallen. Das Orakel hatte recht. Sie interpretierten es, und die Felldecke glänzte und lebte wie ein Tier."
Ist das nicht ein bißchen kitschig? Ja, gewiß, aber das spricht nicht gegen dieses Buch. Seit Hermann Brochs Reflexionen über "Kitsch und Literatur" wissen wir, "daß es ohne einen Tropfen Effekt, also ohne einen Tropfen Kitsch, in keiner Kunst abgeht". Und seit Gottfried Benns Ausführungen über den "Stil der Zukunft" ist uns bekannt, daß es den Menschen längst nur noch "in Anführungsstrichen" gibt - als Zitat sozusagen, als Wiederholung eines Musters oder eben als Klischee.
Die Geschichte von Sanda und Ferraghani ist eine Erfindung von Sibylle Mulot - wenn sie denn erfunden und nicht vielmehr vom Leben geschrieben wurde. Das Hafis-Orakel aber gibt es seit längerer Zeit, bisher allerdings wohl nur in persischer Sprache. Daß es nun auch eine deutsche Version gibt, verdanken wir Sibylle Mulot, die unter Verwendung der schönen Hafis-Übersetzungen, die im 19. und 20. Jahrhundert erschienen sind, ein deutschsprachiges Hafis-Orakel geschaffen hat: 41 Tafeln, aus denen man sich je vier Sprüche zusammenlesen kann. Dies zu tun ist unterhaltsam und spannend, doch sehe man sich vor; denn unversehens kann ein Spruch kommen, der so wirkt, als sei er just auf die eigene Lebenslage gemünzt.
HELMUTH KIESEL.
Sibylle Mulot: "Das ganze Glück". Eine Liebesgeschichte. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 175 S., geb., 34,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Kitschtropfen: Sibylle Mulots deutsch-iranische Liebesgeschichte
Mit ihrem fünften Buch ist Sibylle Mulot ein literarisches Meisterwerk gelungen: Ein Werk, an dem jedes Wort stimmt, an dem alles wie aus einem Guß ist und von dem alles, was über seinen Gegenstand zu sagen ist, so gesagt wird, daß es am Ende abgeschlossen ist und weiterwirkend zugleich. Man behält es, wenn man den letzten Satz gelesen hat, noch lange in der Hand und läßt das Gelesene noch einmal an sich vorübergleiten.
Dieses Glücksbuch, das nach Art und Umfang als Erzählung zu bezeichnen ist, umfaßt hundertdreißig Seiten (zuzüglich fünfundvierzig Seiten Anhang) und rekapituliert, eingebettet in eine Rahmenhandlung, die Geschichte der Liebe einer jungen Frau zu einem Iraner. Sanda studiert in Wien und in Venedig Kunstgeschichte, ihr Geliebter Ferraghani - noch zu Schahs Zeiten - ebenfalls in Wien Architektur. Das soll und muß hier nicht weiter ausgeführt werden: soll nicht, damit die Leser dieser Rezension nicht um das Vergnügen einer spannenden Lektüre gebracht werden; muß nicht, weil sich auf dem Gebiet der Liebe seit Menschengedenken nichts wesentlich Neues mehr ergeben hat. Aber wie das geschrieben ist, darüber darf hier ein Wort gesagt werden. Zuvörderst: Meisterhaft!
Das "Glück", das Sibylle Mulot uns miterleben läßt, entfaltet sich in vierzehn Kapiteln, die kaum mehr als Skizzen von Situationen und Ereignissen sind. Aber Skizzen, die völlig ausreichen, um uns ahnen oder wissen zu lassen, welche Erfahrungen von Glück und Schmerz sich zwischen dem ersten Anblick und dem letzten Telefonat aufeinanderhäufen. Mythologie und Literatur dienen als Spiegel. Mehr aber als ein Spiegel ist das "Orakel" des von Goethe so sehr bewunderten und nachgeahmten Hafis (um 1326 bis 1390): eine Folge von 41 Tafeln, auf denen je hundertfünfzig oder mehr Buchstaben in Zeilen und Reihen so angeordnet sind, daß man aus jeder der zunächst völlig sinnlos scheinenden Tafeln mit Hilfe eines kleinen Schlüssels vier Sprüche des berühmtesten persischen Dichters herauslesen kann.
Ferraghani hat dieses Tafelwerk mitgebracht und erklärt es Sanda, nachdem sie unter seiner wilden Felldecke zusammengefunden haben; und er vergißt nicht, zu bemerken, daß die Sprüche des Orakels oft dunkel und interpretationsbedürftig sind. Dann wird die erste Befragung vorgenommen, und der Spruch, der sich aus den von Sanda gewählten Buchstabenreihe ergibt, lautet: "Ach, ich sterbe vor Verlangen nach Umarmung mit dem Geliebten!" Das ist zwar sehr gut verständlich, aber dennoch sehr auslegungsfähig: "Sie ließen das Buch fallen. Das Orakel hatte recht. Sie interpretierten es, und die Felldecke glänzte und lebte wie ein Tier."
Ist das nicht ein bißchen kitschig? Ja, gewiß, aber das spricht nicht gegen dieses Buch. Seit Hermann Brochs Reflexionen über "Kitsch und Literatur" wissen wir, "daß es ohne einen Tropfen Effekt, also ohne einen Tropfen Kitsch, in keiner Kunst abgeht". Und seit Gottfried Benns Ausführungen über den "Stil der Zukunft" ist uns bekannt, daß es den Menschen längst nur noch "in Anführungsstrichen" gibt - als Zitat sozusagen, als Wiederholung eines Musters oder eben als Klischee.
Die Geschichte von Sanda und Ferraghani ist eine Erfindung von Sibylle Mulot - wenn sie denn erfunden und nicht vielmehr vom Leben geschrieben wurde. Das Hafis-Orakel aber gibt es seit längerer Zeit, bisher allerdings wohl nur in persischer Sprache. Daß es nun auch eine deutsche Version gibt, verdanken wir Sibylle Mulot, die unter Verwendung der schönen Hafis-Übersetzungen, die im 19. und 20. Jahrhundert erschienen sind, ein deutschsprachiges Hafis-Orakel geschaffen hat: 41 Tafeln, aus denen man sich je vier Sprüche zusammenlesen kann. Dies zu tun ist unterhaltsam und spannend, doch sehe man sich vor; denn unversehens kann ein Spruch kommen, der so wirkt, als sei er just auf die eigene Lebenslage gemünzt.
HELMUTH KIESEL.
Sibylle Mulot: "Das ganze Glück". Eine Liebesgeschichte. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 175 S., geb., 34,90 DM.
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»Die Autorin erzählt in einer Sprache, die glänzt und glitzert wie das Meer zur Hochsommerzeit.« Nicole Hess / Tages-Anzeiger Tages-Anzeiger