Auf einem Friedhof in der Altstadt von Delhi wird ein handgeknüpfter Teppich ausgerollt. Auf einem Bürgersteig taucht plötzlich ein Baby auf. In einem verschneiten Tal schreibt ein Vater einen Brief an seine 5-jährige Tochter über die vielen Menschen, die zu ihrer Beerdigung kamen. In einem Zimmer im 2. Stock liest eine einsame Frau die Notizbücher ihres Geliebten. Im Jannat Guest House umarmen sich im Schlaf zwei Menschen, als ob sie sich eben erst getroffen hätten - aber sie kennen sich schon ein Leben lang.
Voller Inspiration, Gefühl und Überraschungen beweist der Roman in jedem Moment Arundhati Roys Kunst. Ihre Helden werden von der Welt zerbrochen, aber durch die Liebe geheilt. Und so werden sie unbezwingbar.
Voller Inspiration, Gefühl und Überraschungen beweist der Roman in jedem Moment Arundhati Roys Kunst. Ihre Helden werden von der Welt zerbrochen, aber durch die Liebe geheilt. Und so werden sie unbezwingbar.
MP3 CD 1 | |||
1 | Wo sterben alte Vögel? | ||
2 | Khwabgah | ||
3 | Die Geburt | ||
4 | Dr Azad Bhartiya | ||
5 | Die langsame Verfolgungsjagd | ||
6 | Ein paar Fragen für später | ||
MP3 CD 2 | |||
1 | Der Hausbesitzer | ||
2 | Die Mieterin | ||
MP3 CD 3 | |||
1 | Der vorzeitige Tod von Miss Jeeben der Ersten | ||
2 | Das Ministerium des äußersten Glücks | ||
3 | Der Hausbesitzer | ||
4 | Guih Kyom |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2017Entzweit? Ach was, entdreit, entviert und mehr
Arundhati Roys "Das Ministerium des äußersten Glücks" ist eine kunstvolle Romanallegorie auf die Geschichte Indiens.
Sie wurde neben ihrer Mutter, Begum Arifa Yeswi, begraben. Mutter und Tochter starben durch dieselbe Kugel. Sie drang an Miss Jebeens linker Schläfe in ihren Kopf ein und blieb im Herzen ihrer Mutter stecken. Auf dem letzten Foto von ihr sah die Schusswunde wie eine schöne sommerliche Rose aus, arrangiert knapp oberhalb ihres linken Ohrs. Ein paar Blütenblätter waren auf ihr kaffin gefallen, das weiße Leintuch, in das sie gewickelt wurde, bevor man sie begrub. Miss Jebeen und ihre Mutter wurden zusammen mit fünfzehn anderen bestattet, die Gesamtzahl der Opfer des Massakers belief sich demnach auf siebzehn."
Das ist eine Passage, die sofort ihre Autorin verrät: Arundhati Roy. Nicht nur weil das Geschehen - an den Namen leicht zu erkennen - in Indien angesiedelt ist, sondern mehr noch des spezifischen Stils wegen: eines pathetisch-ästhetischen Erzählens, das wir schon aus "Der Gott der kleinen Dinge" kennen, dem mittlerweile zwanzig Jahre alten Debütroman der 1959 geborenen indischen Schriftstellerin und Aktivistin. Er war ein Welterfolg. In der Zwischenzeit hat Arundhati Roy viel Politisches geschrieben und noch mehr öffentlich gesprochen, aber für ihren zweiten Roman ließ sie sich Zeit. In dieser Woche ist er auf Deutsch erschienen, nur zwei Monate nach dem englischsprachigen Original, das in Indien sofort lebhaft diskutiert wurde (F.A.Z. vom 7. Juni). Er heißt "Das Ministerium des äußersten Glücks".
Dieser Titel verrät noch nichts über den Inhalt, und das Kapitel, das genauso heißt wie der Roman, enthält sogar die tragischste der vielen Lebensgeschichten, die auf 550 Seiten miteinander verwoben sind. Sie wiederum ist eingesponnen in die politische Geschichte Indiens, in den Kasten- und den Glaubenskampf, die das Land nach wie vor entzweien - man müsste sogar sagen: entdreien, entvieren oder noch viel mehr, denn die Konflikte in dem euphemistisch als "größte Demokratie der Welt" bezeichneten Indien sind schier unzählig. Das ist das große Trauma und Thema der Sozialaktivistin Arundhati Roy, und natürlich fehlt es auch in ihrem neuen Roman nicht.
Doch es ist kaschiert von einer Erzählstimme, die uns das Schreckliche mit dem Opulenten versüßt - wie die Schönheit der Eintrittswunde den tödlichen Schuss in den Kopf eines kleinen Mädchens im Eingangszitat. Arundhati Roy ist eine Märchenerzählerin, deren Fabeln unter der Oberfläche die Nachtseiten aber genauso deutlich erkennen lassen, wie es bei den Grimms der Fall ist. Für sie und für uns gilt, was sie eine ihrer Figuren über den von ihr geliebten Mann sagen lässt: "Tilo begriff, dass er vorsätzlich abschweifte, die Geschichte umkreiste, die zu erzählen ihm schwerfiele - schwerer als ihr, sie zu hören." Dieser Musa, das ist Arundhati Roy, diese Tilo, das sind wir.
Wobei Roy uns den Nachvollzug der einzelnen Fäden ihres Gewebes keinesfalls leichtmacht. Nehmen wir nur Anjum, die erste wichtige Protagonistin des Buchs, die im Körper eines Mannes geboren wurde, sich aber als Frau versteht und gibt - hijra nennt man das in Indien -, sich eine Geschlechtsumwandlung leistet und mit weiteren Hijras in ein gemeinsames Haus, eine Exklave in der festgefügten indischen Gesellschaft, zieht, ehe sie sich schließlich auf einem Friedhof häuslich einrichtet und diesen zu einer nun allen Friedliebenden offenstehenden Oase der Toleranz mitten in Delhi macht. Jene Anjum steht im Mittelpunkt des Romanbeginns, der in der unmitelbaren Gegenwart angesiedelt ist. Um sie wird eine große Gruppe weiterer Figuren versammelt, darunter ein gewisser Saddam Hussain, ein junger Inder, der sich entschlossen hat, Muslim zu werden und dazu den nur minimal veränderten Namen des hingerichteten irakischen Diktators anzunehmen. "Diese Art Dreckskerl will ich sein", erklärt er Anjum: "Ich will tun, was ich tun muss, und dann, wenn ich einen Preis dafür zahlen muss, will ich ihn so zahlen." Da ist wieder das Pathos, nun jedoch nicht mehr literarisch, sondern existentiell, als Lebensentwurf. Und ausgerechnet dieser Saddam Hussain erweist sich als wahrer Held: nämlich als braver Mann. Als Arundhati Roys Ideal.
Doch bis es dazu kommt, dauert es, denn auf Seite 123 steht: "Anjum wartete darauf zu sterben. Saddam wartete darauf zu töten. Und Meilen entfernt wartete in einem unruhigen Wald ein Baby darauf, geboren zu werden." Dann hebt ein neues Kapitel an, mit der Auffindung eines in der Nacht ausgesetzten Babys. Doch das ist nur ein Anlauf zur Anknüpfung an den Cliffhanger, der sofort wieder unterbrochen und erst 25 Seiten später fortgesetzt wird. Dazwischen steht die Geschichte von Massenprotesten in der Hauptstadt Delhi. Es gibt dabei bitterböse, für Roy typische Passagen wie diese: "Doktoranden von ausländischen Universitäten, die über soziale Bewegungen arbeiteten (ein extrem begehrtes Thema), führten lange Interviews mit Bauern und waren dankbar, dass ihre Feldstudie in die Stadt gekommen war, so dass sie nicht den ganzen Weg hinaus aufs Land auf sich nehmen mussten, wo es keine Toiletten gab und gefiltertes Wasser schwer aufzutreiben war." Anette Grube hat als Übersetzerin sowohl für solchen Zynismus wie für die tiefempfundenen Liebeserklärungen an Menschen, Stadt und Land jeweils den richtigen deutschen Tonfall gefunden.
Und dann ist das Baby plötzlich wieder da, aber ein weiteres Mal nur kurz, denn dessen vollständige Geschichte wird erst zum Schluss erzählt (sie gehört zur schlimmen Episode des Kapitels, das so heißt wie das Buch). Stattdessen tritt nun erst einmal jene Frau in den Fokus, die das Baby aufnimmt: Tilotamma, genannt Tilo. Ihr und den drei Männern, die in sie verliebt sind, gehört der Mittel- und größte Teil des Romans, und dessen Handlungsort verlagert sich von Delhi in die Provinz Kaschmir, mitten in die dortigen Konflikte zwischen Hindus und Muslimen, zwischen indischer Zentralgewalt und regionalen Separatisten, zwischen Versöhnung und Hass.
Mit Kaschmir ist das Hauptthema von Arundhati Roy angesprochen: die Spaltung in ihrer Heimat und dieser Heimat selbst. Das, was 1947 bei der Unabhängigkeit von Großbritannien geschah, die Entzweiung in die beiden Staaten Indien und Pakistan, das durchzieht als Muster und Metapher das ganze Buch. Das ist keine Besonderheit: Salman Rushdie hat es in den "Mitternachtskindern" auch gemacht. Mit Anjum hat Roy aber auch ein Gegenmodell geschaffen: einen Menschen jenseits der Geschlechtfestschreibung, aus eigenem Entschluss. Und mit Tilo, deren Bewunderer sich sowohl auf der Seite der Unabhängigkeitskämpfer als auch auf der der Zentralregierung finden, auch eine unfreiwillige Wanderin zwischen den Welten.
So erweist sich "Das Geheimnis des äußersten Glücks" als große Romanallegorie auf Indiens Geschichte seit der Unabhängigkeit, bis hin zur Weiteraufspaltung Pakistans in das heute noch so heißende Land und Bangladesch. Wie kunstvoll die entsprechenden Motive in die fiktive Gesellschaft der Hijras und Tilos Bemühungen um die Bewahrung desjenigen der drei Männer, den sie tatsächlich liebt, eingearbeitet sind, das kommt gegenüber der Handlungsoberfläche bewusst gar nicht zur Geltung, weil sie schon denkbar politisch ist. Und Arundhati Roy erzählt auch gleich noch den ganzen Kaschmir-Konflikt seit Mitte der neunziger Jahre mit, beginnend mit einem gewaltsam aufgelösten Protestzug in der Stadt Srinagar im äußersten Nordwesten Indiens, der jene Bluttat provoziert, der neben fünfzehn Demonstranten als Unbeteiligte Mutter und Tochter zum Opfer fallen. Wie auf individueller Ebene Verwandtschaft und Freundschaft, Liebe und Interessengemeinschaft, Engagement und Egoismus inszeniert werden, das lässt sich stets auch auf das große Bild im Hintergrund übertragen: das Panoptikum des ganzen indischen Subkontinents.
Arundhati Roy lebt nach wie vor in Indien - im Gegensatz zu den meisten prominenten indischen Autoren. Die Unmittelbarkeit ihrer Eindrücke kommt dem Buch zugute, es ist ein Fest der Momentaufnahmen und Details. Die Erzählperspektiven wechseln, doch immer dann, wenn man fürchtet, das Buch verliere sich im Wirbel der Geschehnisse, führt seine Verfasserin uns zurück ins Vertraute, zu lange vorher eingeführten Figuren, Gefühlen, Ereignissen. Es ist eine Erzählweise, die weder dem gängigen westlich-realistischen Literaturverständnis noch dem immer mehr zu Pose und Ideologie degenerierenden postkolonialen Diskurs entspricht, was Arundhati Roy zuverlässig Kritik wahlweise wegen angeblicher Formlosigkeit oder Verwestlichung einbringen wird. Doch formvollendeter und überkultureller kann kaum erzählt werden. Zu dieser Einsicht gehört allerdings die Bereitschaft, sich selbst über bequeme Dichotomien hinwegzusetzen: die von West und Ost, Roman und Parabel, Pathos und Kühle, Individual- und Kollektivbiographie. All das steckt in diesem Buch. Und mehr.
ANDREAS PLATTHAUS
Arundhati Roy: "Das Ministerium des äußersten Glücks". Roman.
Aus dem Englischen von Anette Grube. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2017. 556 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arundhati Roys "Das Ministerium des äußersten Glücks" ist eine kunstvolle Romanallegorie auf die Geschichte Indiens.
Sie wurde neben ihrer Mutter, Begum Arifa Yeswi, begraben. Mutter und Tochter starben durch dieselbe Kugel. Sie drang an Miss Jebeens linker Schläfe in ihren Kopf ein und blieb im Herzen ihrer Mutter stecken. Auf dem letzten Foto von ihr sah die Schusswunde wie eine schöne sommerliche Rose aus, arrangiert knapp oberhalb ihres linken Ohrs. Ein paar Blütenblätter waren auf ihr kaffin gefallen, das weiße Leintuch, in das sie gewickelt wurde, bevor man sie begrub. Miss Jebeen und ihre Mutter wurden zusammen mit fünfzehn anderen bestattet, die Gesamtzahl der Opfer des Massakers belief sich demnach auf siebzehn."
Das ist eine Passage, die sofort ihre Autorin verrät: Arundhati Roy. Nicht nur weil das Geschehen - an den Namen leicht zu erkennen - in Indien angesiedelt ist, sondern mehr noch des spezifischen Stils wegen: eines pathetisch-ästhetischen Erzählens, das wir schon aus "Der Gott der kleinen Dinge" kennen, dem mittlerweile zwanzig Jahre alten Debütroman der 1959 geborenen indischen Schriftstellerin und Aktivistin. Er war ein Welterfolg. In der Zwischenzeit hat Arundhati Roy viel Politisches geschrieben und noch mehr öffentlich gesprochen, aber für ihren zweiten Roman ließ sie sich Zeit. In dieser Woche ist er auf Deutsch erschienen, nur zwei Monate nach dem englischsprachigen Original, das in Indien sofort lebhaft diskutiert wurde (F.A.Z. vom 7. Juni). Er heißt "Das Ministerium des äußersten Glücks".
Dieser Titel verrät noch nichts über den Inhalt, und das Kapitel, das genauso heißt wie der Roman, enthält sogar die tragischste der vielen Lebensgeschichten, die auf 550 Seiten miteinander verwoben sind. Sie wiederum ist eingesponnen in die politische Geschichte Indiens, in den Kasten- und den Glaubenskampf, die das Land nach wie vor entzweien - man müsste sogar sagen: entdreien, entvieren oder noch viel mehr, denn die Konflikte in dem euphemistisch als "größte Demokratie der Welt" bezeichneten Indien sind schier unzählig. Das ist das große Trauma und Thema der Sozialaktivistin Arundhati Roy, und natürlich fehlt es auch in ihrem neuen Roman nicht.
Doch es ist kaschiert von einer Erzählstimme, die uns das Schreckliche mit dem Opulenten versüßt - wie die Schönheit der Eintrittswunde den tödlichen Schuss in den Kopf eines kleinen Mädchens im Eingangszitat. Arundhati Roy ist eine Märchenerzählerin, deren Fabeln unter der Oberfläche die Nachtseiten aber genauso deutlich erkennen lassen, wie es bei den Grimms der Fall ist. Für sie und für uns gilt, was sie eine ihrer Figuren über den von ihr geliebten Mann sagen lässt: "Tilo begriff, dass er vorsätzlich abschweifte, die Geschichte umkreiste, die zu erzählen ihm schwerfiele - schwerer als ihr, sie zu hören." Dieser Musa, das ist Arundhati Roy, diese Tilo, das sind wir.
Wobei Roy uns den Nachvollzug der einzelnen Fäden ihres Gewebes keinesfalls leichtmacht. Nehmen wir nur Anjum, die erste wichtige Protagonistin des Buchs, die im Körper eines Mannes geboren wurde, sich aber als Frau versteht und gibt - hijra nennt man das in Indien -, sich eine Geschlechtsumwandlung leistet und mit weiteren Hijras in ein gemeinsames Haus, eine Exklave in der festgefügten indischen Gesellschaft, zieht, ehe sie sich schließlich auf einem Friedhof häuslich einrichtet und diesen zu einer nun allen Friedliebenden offenstehenden Oase der Toleranz mitten in Delhi macht. Jene Anjum steht im Mittelpunkt des Romanbeginns, der in der unmitelbaren Gegenwart angesiedelt ist. Um sie wird eine große Gruppe weiterer Figuren versammelt, darunter ein gewisser Saddam Hussain, ein junger Inder, der sich entschlossen hat, Muslim zu werden und dazu den nur minimal veränderten Namen des hingerichteten irakischen Diktators anzunehmen. "Diese Art Dreckskerl will ich sein", erklärt er Anjum: "Ich will tun, was ich tun muss, und dann, wenn ich einen Preis dafür zahlen muss, will ich ihn so zahlen." Da ist wieder das Pathos, nun jedoch nicht mehr literarisch, sondern existentiell, als Lebensentwurf. Und ausgerechnet dieser Saddam Hussain erweist sich als wahrer Held: nämlich als braver Mann. Als Arundhati Roys Ideal.
Doch bis es dazu kommt, dauert es, denn auf Seite 123 steht: "Anjum wartete darauf zu sterben. Saddam wartete darauf zu töten. Und Meilen entfernt wartete in einem unruhigen Wald ein Baby darauf, geboren zu werden." Dann hebt ein neues Kapitel an, mit der Auffindung eines in der Nacht ausgesetzten Babys. Doch das ist nur ein Anlauf zur Anknüpfung an den Cliffhanger, der sofort wieder unterbrochen und erst 25 Seiten später fortgesetzt wird. Dazwischen steht die Geschichte von Massenprotesten in der Hauptstadt Delhi. Es gibt dabei bitterböse, für Roy typische Passagen wie diese: "Doktoranden von ausländischen Universitäten, die über soziale Bewegungen arbeiteten (ein extrem begehrtes Thema), führten lange Interviews mit Bauern und waren dankbar, dass ihre Feldstudie in die Stadt gekommen war, so dass sie nicht den ganzen Weg hinaus aufs Land auf sich nehmen mussten, wo es keine Toiletten gab und gefiltertes Wasser schwer aufzutreiben war." Anette Grube hat als Übersetzerin sowohl für solchen Zynismus wie für die tiefempfundenen Liebeserklärungen an Menschen, Stadt und Land jeweils den richtigen deutschen Tonfall gefunden.
Und dann ist das Baby plötzlich wieder da, aber ein weiteres Mal nur kurz, denn dessen vollständige Geschichte wird erst zum Schluss erzählt (sie gehört zur schlimmen Episode des Kapitels, das so heißt wie das Buch). Stattdessen tritt nun erst einmal jene Frau in den Fokus, die das Baby aufnimmt: Tilotamma, genannt Tilo. Ihr und den drei Männern, die in sie verliebt sind, gehört der Mittel- und größte Teil des Romans, und dessen Handlungsort verlagert sich von Delhi in die Provinz Kaschmir, mitten in die dortigen Konflikte zwischen Hindus und Muslimen, zwischen indischer Zentralgewalt und regionalen Separatisten, zwischen Versöhnung und Hass.
Mit Kaschmir ist das Hauptthema von Arundhati Roy angesprochen: die Spaltung in ihrer Heimat und dieser Heimat selbst. Das, was 1947 bei der Unabhängigkeit von Großbritannien geschah, die Entzweiung in die beiden Staaten Indien und Pakistan, das durchzieht als Muster und Metapher das ganze Buch. Das ist keine Besonderheit: Salman Rushdie hat es in den "Mitternachtskindern" auch gemacht. Mit Anjum hat Roy aber auch ein Gegenmodell geschaffen: einen Menschen jenseits der Geschlechtfestschreibung, aus eigenem Entschluss. Und mit Tilo, deren Bewunderer sich sowohl auf der Seite der Unabhängigkeitskämpfer als auch auf der der Zentralregierung finden, auch eine unfreiwillige Wanderin zwischen den Welten.
So erweist sich "Das Geheimnis des äußersten Glücks" als große Romanallegorie auf Indiens Geschichte seit der Unabhängigkeit, bis hin zur Weiteraufspaltung Pakistans in das heute noch so heißende Land und Bangladesch. Wie kunstvoll die entsprechenden Motive in die fiktive Gesellschaft der Hijras und Tilos Bemühungen um die Bewahrung desjenigen der drei Männer, den sie tatsächlich liebt, eingearbeitet sind, das kommt gegenüber der Handlungsoberfläche bewusst gar nicht zur Geltung, weil sie schon denkbar politisch ist. Und Arundhati Roy erzählt auch gleich noch den ganzen Kaschmir-Konflikt seit Mitte der neunziger Jahre mit, beginnend mit einem gewaltsam aufgelösten Protestzug in der Stadt Srinagar im äußersten Nordwesten Indiens, der jene Bluttat provoziert, der neben fünfzehn Demonstranten als Unbeteiligte Mutter und Tochter zum Opfer fallen. Wie auf individueller Ebene Verwandtschaft und Freundschaft, Liebe und Interessengemeinschaft, Engagement und Egoismus inszeniert werden, das lässt sich stets auch auf das große Bild im Hintergrund übertragen: das Panoptikum des ganzen indischen Subkontinents.
Arundhati Roy lebt nach wie vor in Indien - im Gegensatz zu den meisten prominenten indischen Autoren. Die Unmittelbarkeit ihrer Eindrücke kommt dem Buch zugute, es ist ein Fest der Momentaufnahmen und Details. Die Erzählperspektiven wechseln, doch immer dann, wenn man fürchtet, das Buch verliere sich im Wirbel der Geschehnisse, führt seine Verfasserin uns zurück ins Vertraute, zu lange vorher eingeführten Figuren, Gefühlen, Ereignissen. Es ist eine Erzählweise, die weder dem gängigen westlich-realistischen Literaturverständnis noch dem immer mehr zu Pose und Ideologie degenerierenden postkolonialen Diskurs entspricht, was Arundhati Roy zuverlässig Kritik wahlweise wegen angeblicher Formlosigkeit oder Verwestlichung einbringen wird. Doch formvollendeter und überkultureller kann kaum erzählt werden. Zu dieser Einsicht gehört allerdings die Bereitschaft, sich selbst über bequeme Dichotomien hinwegzusetzen: die von West und Ost, Roman und Parabel, Pathos und Kühle, Individual- und Kollektivbiographie. All das steckt in diesem Buch. Und mehr.
ANDREAS PLATTHAUS
Arundhati Roy: "Das Ministerium des äußersten Glücks". Roman.
Aus dem Englischen von Anette Grube. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2017. 556 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2017Geschrieben, um
zu überfordern
Arundhati Roy schaut in ihrem lang erwarteten
Roman der Realität des Kaschmir-Konflikts ins Auge
VON JÖRG HÄNTZSCHEL
Als auf Seite 451 von Arundhati Roys neuem Roman Tilo und Musa zusammen schlafen, geht es dem Leser, als sähe er nach 100 Kilometern in einem Tunnel endlich Tageslicht. So dankbar war man selten für eine intime Szene wie diese, die erste des Buchs. Ihr voraus gingen Dutzende, Hunderte Geschichten von Erschießungen und Misshandlungen, Beschreibungen eingeschlagener Schädel, entstellter Gesichter, verdrehter Gliedmaßen, dampfender Blutlachen im Schnee, Fahrten in Militärjeeps zu „Folterzentren“, verpissten Kerkern, in einsame Wälder, zu weiteren Grausamkeiten und Tötungen.
Irgendwann geht es einfach nicht mehr. Man verwünscht nicht nur den seit Jahrzehnten währenden Kaschmir-Konflikt, der im Mittelpunkt des Buchs steht, sondern auch Arundhati Roy, die diesen in „Das Ministerium des äußersten Glücks“ mit einer aggressiven Insistenz vor dem Leser ausbreitet, bis der sich darin verheddert wie in Stacheldraht. Genau in diesem Moment führt sie endlich Tilo, die ehemalige Architekturstudentin und Musa, den Untergrundkämpfer, zusammen und erlaubt dem Leser wie den Figuren einmal, wenn auch nur kurz, durchzuatmen.
Roy gelang vor mehr als 20 Jahren mit ihrem Erstling „Der Gott der kleinen Dinge“ eine literarische Sensation. Die Kritik rühmte das Buch, sechs Millionen Leser verschlangen es. Roy wurde über Nacht zum Star. Sie hätte sich wie andere in New York, Paris oder London niederlassen und alle paar Jahre ein neues Erfolgsbuch schreiben können. Doch sie blieb in Indien und kämpfte als Aktivistin und Essayistin gegen Hindu-Nationalismus und Staudämme, gegen den Irakkrieg und die Globalisierung.
Wie kehrt man von dort zurück zu einem neuen Roman? Ein neues, lebenspralles Buch hätte, so befürchtete sie wohl, ihren Aktivismus wie ein Hobby aussehen lassen. Ein süffiger engagierter Roman wiederum hätte sie dem Vorwurf ausgesetzt, den linken Widerstand zugunsten eines Bestsellers auszuschlachten. Und wie würde es ihr gelingen, sich der Umarmung ihrer Fans im Westen zu entwinden, die sie als „Stimme“ Indiens verehren, die aber eben auch mitgemeint sind, wenn Roy den globalen Kapitalismus mit seiner Gefräßigkeit geißelt, seine Gleichgültigkeit für Unrecht jenseits von Europa und Nordamerika?
Roy entschied sich für den radikalsten Weg: Sie macht ihr Anliegen nicht nur zum Thema ihres Romans und benützt diesen als noch lauteres Megafon, sie kämpft dort auch mit literarischen Mitteln, selbst gegen die eigenen Leser. Ihr Buch ist geschrieben, um zu überfordern, zu beschämen, zu irritieren, und einen möglichst gnadenlosen Eindruck davon geben, was es heißt, in Indien Muslim zu sein oder in Kaschmir für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Dass viele ihrer Fans aufgeben werden, weil sie verloren gehen in den Schilderungen des seit Jahrzehnten wuchernden Konflikts oder weil ihnen schlecht wird vom vielen Blut, nimmt Roy in Kauf. Wer nicht denn Mumm hat, der Realität ins Auge zu sehen, nicht die Ausdauer, sich darin zu orientieren, soll „50 Shades of Grey“ lesen.
Das Buch beginnt pittoresk mit einer Lebensfeier auf dem Friedhof. Dorthin ist Anjum gezogen, die als der Junge Aftab geboren wurde und auch nach einer Operation zeit ihres Lebens mit dem Mann in ihr Krieg führt. Anjum lebte in einem jener Häuser, in denen Hijras, Transgender-Personen wie sie, in Indien seit Jahrhunderten drittes Geschlecht sein dürfen.
Doch die Nähe bekommt ihr nicht. Erst auf dem Friedhof, wo sie nachts mit aus dem Leichenschauhaus gezapftem Strom alte Vampirfilme anschaut, findet sie ihren Frieden. Erst schläft sie auf Gräbern, dann baut sie sich eine Hütte, schließlich kommt ein Gästehaus hinzu. Ihr Biotop wird bald zum Hafen für Randexistenzen aller Art, darunter ein Mann aus der alleruntersten Kaste, der sich Saddam Hussain nennt, aus Bewunderung für die Tapferkeit, die der Diktator bei seiner Exekution bewiesen habe. Mit ihm, einem ehemaligen Leichenwäscher, Kleinkriminellen und Wachmann, der den Mitgliedern höherer Kasten ihre Kuhkadaver abtransportiert, steigt sie ins Bestattungsbusiness ein.
Vom Friedhof führt die Erzählung unvermittelt in eine andere Welt, mit anderen Outcasts: die Gegend um das Observatorium Jantar Mantar, wo Roy uns in das schwindelerregende Wimmelbild einer Antikorruptions-Demo taucht, samt Hungerstreikenden, Müllfahrern, Opfern der Chemiekatastrophe von Bhopal und Verwirrten, aus deren Pamphleten sie seitenlang zitiert. Doch erst beim dritten Anlauf findet der Roman auf die Füße. Vier Studenten lernen sich 1984 an der Universität kennen. Die drei Männer der Clique verlieben sich in Tilo, der einzigen Frau, die wir von nun bei ihren wechselnden Beziehungen zu den dreien verfolgen und die zu einer Art Auge des Romans wird. Sie ist unschwer als Alter Ego von Roy zu identifizieren. Nicht nur die Liebe zu Tilo haben die drei jungen Männer gemeinsam: Alle drei sind Jahre später in den Kampf um Kaschmirs Unabhängigkeit verwickelt. Einer ist Journalist und berichtet von dort, einer ist beim Geheimdienst, der dritte ist Musa, der Untergrundkämpfer.
Erst im letzten Viertel des Romans läuft Roy zur alten Form auf. Die Passagen, in denen Tilo und Musa durch die grandiose, wegen der Unruhen menschenleere Bergwelt Kaschmirs streifen, haben eine berückend filmische Qualität, von der Roy bis dahin nur sehr sporadische Proben gab. Auch weiter vorne blitzen immer wieder große literarische Momente auf, doch deren Stärke liegt eher in ihrer bitter-absurden Lakonik. So in der Geschichte von dem toten Steinbruch-Arbeiter, von dessen Körper beim Verbrennen ein lungenförmiger Klotz übrig bleibt, der sich aus dem Steinstaub gebildet hatte. Sein Bruder zerschlägt ihn mit einer Brechstange, um seine Seele freizulassen, „obwohl er Kommunist war und nicht an Seelen glaubte“. Oder die von den Bauarbeitern, die sich an einer Schnellstraße schlafen legen, weil sie der Abgase wegen dort vor den Dengue-Mücken sicher sind, nur um dann von Lastwagen überrollt zu werden.
Davor jedoch, im ausufernden Mittelteil des Buchs, scheint es streckenweise, als lasse Roy den Autopilot schreiben. Da stürzen erst die Twin Towers ein, dann springen die Leute aus den Fenstern. Da gefällt ihr eine Metapher – der „internationale Supermarkt des Leids“ – so gut dass sie sie nach 300 Seiten ein zweites Mal verwendet. Da „zwinkern“ Blechsärge „die Frühjahrssonne an“, da haben Straßenköter einen „felsenfesten“ Herzschlag, und da fabriziert sie abstruse Sätze wie diesen: „Normalität in unserem Teil der Welt ist so etwas wie ein weichgekochtes Ei: Seine langweilige Oberfläche verbirgt zuinnerst einen Dotter von ungeheuerlicher Gewalttätigkeit.“
Was aber vor allem auffällt, ist die Inkonsistenz ihres Tons und ihres Engagements als Erzählerin. Wieder und wieder verstört sie den Leser mit Szenen von fast pornografisch ausgestellter Gewalt – lässt Menschen bei lebendigem Leib verbrennen, in Gullis steckend ertrinken, zeigt Leichen, denen Geier die Gesichter zerhacken oder von denen nur noch „Fleischstücke, Haare, ein paar Zähne“ in einer Tüte übrig sind.
Dann zieht sie sich plötzlich lakonisch zurück: „Das Leben ging weiter. Es wurde weiter gestorben. Es wurde weiter Krieg geführt.“ Nur um sich kurz darauf mit Pathossirene zurückzumelden: „Der Tod war überall. Der Tod war alles. Karriere. Begehren. Traum. Poesie. Liebe. Jugend. Sterben wurde zu einer neuen Lebensweise.“ Oder: „Mit seinen Begleitern … war ihm die Liebe der heißblütigen Männer gemein, die leichten Herzens ihr Leben füreinander gaben.“
Roy ist wie eine Kartografin, die Kaschmirs Geschichte im Maßstab 1:1 darstellen will, scheitert und es dann widerwillig mit 1:10 versucht. Sie häuft Charaktere und Orte an, historische und erfundene Ereignisse, Nachrichten und Halluzinationen, je mehr, desto besser. Doch ihr mimetischer Versuch geht nicht auf. Chaos lässt sich nicht durch literarisches Chaos wiedergeben – und Gewalt nicht durch literarische Aggression anprangern.
Dass ihren Fans schlecht
wird von dem vielen Blut,
nimmt Roy in Kauf
Roy schildert die Geschichte Kaschmirs wie eine Kartografin: Opfer des endlosen Konflikts, August 1998.
Foto: REUTERS
Arundhati Roy:
Das Ministerium des äußersten Glücks. Aus dem Englischen von Anette Grube. 560 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Arundhati Roy schaut in ihrem lang erwarteten
Roman der Realität des Kaschmir-Konflikts ins Auge
VON JÖRG HÄNTZSCHEL
Als auf Seite 451 von Arundhati Roys neuem Roman Tilo und Musa zusammen schlafen, geht es dem Leser, als sähe er nach 100 Kilometern in einem Tunnel endlich Tageslicht. So dankbar war man selten für eine intime Szene wie diese, die erste des Buchs. Ihr voraus gingen Dutzende, Hunderte Geschichten von Erschießungen und Misshandlungen, Beschreibungen eingeschlagener Schädel, entstellter Gesichter, verdrehter Gliedmaßen, dampfender Blutlachen im Schnee, Fahrten in Militärjeeps zu „Folterzentren“, verpissten Kerkern, in einsame Wälder, zu weiteren Grausamkeiten und Tötungen.
Irgendwann geht es einfach nicht mehr. Man verwünscht nicht nur den seit Jahrzehnten währenden Kaschmir-Konflikt, der im Mittelpunkt des Buchs steht, sondern auch Arundhati Roy, die diesen in „Das Ministerium des äußersten Glücks“ mit einer aggressiven Insistenz vor dem Leser ausbreitet, bis der sich darin verheddert wie in Stacheldraht. Genau in diesem Moment führt sie endlich Tilo, die ehemalige Architekturstudentin und Musa, den Untergrundkämpfer, zusammen und erlaubt dem Leser wie den Figuren einmal, wenn auch nur kurz, durchzuatmen.
Roy gelang vor mehr als 20 Jahren mit ihrem Erstling „Der Gott der kleinen Dinge“ eine literarische Sensation. Die Kritik rühmte das Buch, sechs Millionen Leser verschlangen es. Roy wurde über Nacht zum Star. Sie hätte sich wie andere in New York, Paris oder London niederlassen und alle paar Jahre ein neues Erfolgsbuch schreiben können. Doch sie blieb in Indien und kämpfte als Aktivistin und Essayistin gegen Hindu-Nationalismus und Staudämme, gegen den Irakkrieg und die Globalisierung.
Wie kehrt man von dort zurück zu einem neuen Roman? Ein neues, lebenspralles Buch hätte, so befürchtete sie wohl, ihren Aktivismus wie ein Hobby aussehen lassen. Ein süffiger engagierter Roman wiederum hätte sie dem Vorwurf ausgesetzt, den linken Widerstand zugunsten eines Bestsellers auszuschlachten. Und wie würde es ihr gelingen, sich der Umarmung ihrer Fans im Westen zu entwinden, die sie als „Stimme“ Indiens verehren, die aber eben auch mitgemeint sind, wenn Roy den globalen Kapitalismus mit seiner Gefräßigkeit geißelt, seine Gleichgültigkeit für Unrecht jenseits von Europa und Nordamerika?
Roy entschied sich für den radikalsten Weg: Sie macht ihr Anliegen nicht nur zum Thema ihres Romans und benützt diesen als noch lauteres Megafon, sie kämpft dort auch mit literarischen Mitteln, selbst gegen die eigenen Leser. Ihr Buch ist geschrieben, um zu überfordern, zu beschämen, zu irritieren, und einen möglichst gnadenlosen Eindruck davon geben, was es heißt, in Indien Muslim zu sein oder in Kaschmir für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Dass viele ihrer Fans aufgeben werden, weil sie verloren gehen in den Schilderungen des seit Jahrzehnten wuchernden Konflikts oder weil ihnen schlecht wird vom vielen Blut, nimmt Roy in Kauf. Wer nicht denn Mumm hat, der Realität ins Auge zu sehen, nicht die Ausdauer, sich darin zu orientieren, soll „50 Shades of Grey“ lesen.
Das Buch beginnt pittoresk mit einer Lebensfeier auf dem Friedhof. Dorthin ist Anjum gezogen, die als der Junge Aftab geboren wurde und auch nach einer Operation zeit ihres Lebens mit dem Mann in ihr Krieg führt. Anjum lebte in einem jener Häuser, in denen Hijras, Transgender-Personen wie sie, in Indien seit Jahrhunderten drittes Geschlecht sein dürfen.
Doch die Nähe bekommt ihr nicht. Erst auf dem Friedhof, wo sie nachts mit aus dem Leichenschauhaus gezapftem Strom alte Vampirfilme anschaut, findet sie ihren Frieden. Erst schläft sie auf Gräbern, dann baut sie sich eine Hütte, schließlich kommt ein Gästehaus hinzu. Ihr Biotop wird bald zum Hafen für Randexistenzen aller Art, darunter ein Mann aus der alleruntersten Kaste, der sich Saddam Hussain nennt, aus Bewunderung für die Tapferkeit, die der Diktator bei seiner Exekution bewiesen habe. Mit ihm, einem ehemaligen Leichenwäscher, Kleinkriminellen und Wachmann, der den Mitgliedern höherer Kasten ihre Kuhkadaver abtransportiert, steigt sie ins Bestattungsbusiness ein.
Vom Friedhof führt die Erzählung unvermittelt in eine andere Welt, mit anderen Outcasts: die Gegend um das Observatorium Jantar Mantar, wo Roy uns in das schwindelerregende Wimmelbild einer Antikorruptions-Demo taucht, samt Hungerstreikenden, Müllfahrern, Opfern der Chemiekatastrophe von Bhopal und Verwirrten, aus deren Pamphleten sie seitenlang zitiert. Doch erst beim dritten Anlauf findet der Roman auf die Füße. Vier Studenten lernen sich 1984 an der Universität kennen. Die drei Männer der Clique verlieben sich in Tilo, der einzigen Frau, die wir von nun bei ihren wechselnden Beziehungen zu den dreien verfolgen und die zu einer Art Auge des Romans wird. Sie ist unschwer als Alter Ego von Roy zu identifizieren. Nicht nur die Liebe zu Tilo haben die drei jungen Männer gemeinsam: Alle drei sind Jahre später in den Kampf um Kaschmirs Unabhängigkeit verwickelt. Einer ist Journalist und berichtet von dort, einer ist beim Geheimdienst, der dritte ist Musa, der Untergrundkämpfer.
Erst im letzten Viertel des Romans läuft Roy zur alten Form auf. Die Passagen, in denen Tilo und Musa durch die grandiose, wegen der Unruhen menschenleere Bergwelt Kaschmirs streifen, haben eine berückend filmische Qualität, von der Roy bis dahin nur sehr sporadische Proben gab. Auch weiter vorne blitzen immer wieder große literarische Momente auf, doch deren Stärke liegt eher in ihrer bitter-absurden Lakonik. So in der Geschichte von dem toten Steinbruch-Arbeiter, von dessen Körper beim Verbrennen ein lungenförmiger Klotz übrig bleibt, der sich aus dem Steinstaub gebildet hatte. Sein Bruder zerschlägt ihn mit einer Brechstange, um seine Seele freizulassen, „obwohl er Kommunist war und nicht an Seelen glaubte“. Oder die von den Bauarbeitern, die sich an einer Schnellstraße schlafen legen, weil sie der Abgase wegen dort vor den Dengue-Mücken sicher sind, nur um dann von Lastwagen überrollt zu werden.
Davor jedoch, im ausufernden Mittelteil des Buchs, scheint es streckenweise, als lasse Roy den Autopilot schreiben. Da stürzen erst die Twin Towers ein, dann springen die Leute aus den Fenstern. Da gefällt ihr eine Metapher – der „internationale Supermarkt des Leids“ – so gut dass sie sie nach 300 Seiten ein zweites Mal verwendet. Da „zwinkern“ Blechsärge „die Frühjahrssonne an“, da haben Straßenköter einen „felsenfesten“ Herzschlag, und da fabriziert sie abstruse Sätze wie diesen: „Normalität in unserem Teil der Welt ist so etwas wie ein weichgekochtes Ei: Seine langweilige Oberfläche verbirgt zuinnerst einen Dotter von ungeheuerlicher Gewalttätigkeit.“
Was aber vor allem auffällt, ist die Inkonsistenz ihres Tons und ihres Engagements als Erzählerin. Wieder und wieder verstört sie den Leser mit Szenen von fast pornografisch ausgestellter Gewalt – lässt Menschen bei lebendigem Leib verbrennen, in Gullis steckend ertrinken, zeigt Leichen, denen Geier die Gesichter zerhacken oder von denen nur noch „Fleischstücke, Haare, ein paar Zähne“ in einer Tüte übrig sind.
Dann zieht sie sich plötzlich lakonisch zurück: „Das Leben ging weiter. Es wurde weiter gestorben. Es wurde weiter Krieg geführt.“ Nur um sich kurz darauf mit Pathossirene zurückzumelden: „Der Tod war überall. Der Tod war alles. Karriere. Begehren. Traum. Poesie. Liebe. Jugend. Sterben wurde zu einer neuen Lebensweise.“ Oder: „Mit seinen Begleitern … war ihm die Liebe der heißblütigen Männer gemein, die leichten Herzens ihr Leben füreinander gaben.“
Roy ist wie eine Kartografin, die Kaschmirs Geschichte im Maßstab 1:1 darstellen will, scheitert und es dann widerwillig mit 1:10 versucht. Sie häuft Charaktere und Orte an, historische und erfundene Ereignisse, Nachrichten und Halluzinationen, je mehr, desto besser. Doch ihr mimetischer Versuch geht nicht auf. Chaos lässt sich nicht durch literarisches Chaos wiedergeben – und Gewalt nicht durch literarische Aggression anprangern.
Dass ihren Fans schlecht
wird von dem vielen Blut,
nimmt Roy in Kauf
Roy schildert die Geschichte Kaschmirs wie eine Kartografin: Opfer des endlosen Konflikts, August 1998.
Foto: REUTERS
Arundhati Roy:
Das Ministerium des äußersten Glücks. Aus dem Englischen von Anette Grube. 560 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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Roy ist eine der besten Schreiberinnen auf dem Subkontinent. Eine geniale Beobachterin Indiens, ironisch im Ton, herzhaft in der Sache. Laura Höflinger Der Spiegel 20170722