Der junge David Martín fristet sein Leben als Autor von Schauergeschichten. Als ernsthafter Schriftsteller verkannt, von einer tödlichen Krankheit bedroht und um die Liebe seines Lebens betrogen, scheinen seine großen Erwartungen sich in nichts aufzulösen. Doch einer glaubt an sein Talent: Der mysteriöse Verleger Andreas Corelli macht ihm ein Angebot, das Verheißung und Versuchung zugleich ist... Carlos Ruiz Zafón entführt uns in ein unheimliches, fantastisches Barcelona vor dem Bürgerkrieg: ein Labyrinth voller Geheimnisse, in dessen Zentrum die Magie der Bücher und eine unerfüllte Liebe stehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2008Der Androidenkiller von Barcelona
Nichts ist erfolgreicher als das Unheimliche - das neue Buch des spanischen Bestsellerautors Carlos Ruiz Zafón
Natürlich gibt es hundert gute Gründe dafür, "Das Spiel des Engels" für ein miserables Buch zu halten. Die meisten von ihnen sind Zitate mit einem "wie" in der Mitte: "Das Laub zischte in der Dunkelheit wie Schlangen"; "Die Barackensiedlung des Somorrostro-Viertels erstreckte sich wie eine Schlackenschicht"; "Die Schatten wogten wie schwarzes Wasser"; "Sogleich zogen sich alle wie verängstigte Nager zurück"; "Sie führte ihn zu einem Stuhl, auf den er sich wie eine ausgediente Puppe fallen ließ" und dergleichen mehr - schiefe Bilder, wo immer man das Buch aufschlägt, und ginge es dabei nur um Fragen des Stils, täte man besser daran, diesen Roman zu ignorieren.
Nur geht es darum eben nicht. Das Buch, in jeder Hinsicht ein würdiger Nachfolger von Carlos Ruiz Zafóns Bestseller "Der Schatten des Windes", gibt sich gar nicht erst den Anschein, als käme es ihm auf eine geschliffene Sprache an, die sorgfältig und klar auf eine stimmige Psychologie zielte, auf haltbare Berichte von der Tagseite der Welt. Stattdessen schwelgt "Das Spiel des Engels" gut siebenhundert Seiten lang in ausgesprochen düsteren Visionen aus dem Barcelona der zwanziger Jahre. Es nebelt, stürmt und gewittert nach Herzenslust, der naive Nachwuchsjournalist David Martín, der im Zentrum steht und diese Geschichte aus der Rückschau erzählt, hat es schon rasch mit dem Leibhaftigen zu tun, und wer sonst noch in diesem Roman eine Rolle spielt, wird auf dem Weg zum Finale dahingerafft - aufgeschlitzt, erschossen, vergiftet, zu Tode gestürzt oder ertränkt. Zafón beweist dabei eine vielgestalte Phantasie.
Eigenartig nur, wie wenig einem dieses Massensterben nahegeht. Eine Erklärung dafür ist, dass dieses Buch sehr viel mehr aus der Architektur Barcelonas heraus lebt als aus seinen Figuren - das Interesse des Autors gilt den schäbigen Absteigen, den Jugendstilvillen oder den düsteren Parks, die er intensiv und äußerst lebendig schildert, während ihm die Menschen gern zu Pappkameraden verkümmern. Aber auch dies ist eher Programm als Unvermögen, denn das Referenzsystem, das Zafón zugrunde legt, ist die populäre Literatur des 19. Jahrhunderts, genauer: der Zeitungsfortsetzungsroman mit seinen Stereotypen und dem genretypischen Spannungsbogen bis zum Cliffhanger am Ende der jeweiligen Lieferung - wenn es den Leser zerreißt, weil er die Tage bis zur nächsten Ausgabe zählt, dann kann der Autor nicht gar so viel falsch gemacht haben.
Damit hält Zafón auch nicht hinter dem Berg: Eugène Sue, Victor Hugo, Charles Dickens und Alexandre Dumas sind neben vielen anderen durch Verweise, Zitate und Anspielungen überaus präsent in diesem Bücherkosmos, in dem sich der frühberufene Autor Martín seinen Weg zum Lesepublikum bahnt. Den beginnt er als Siebzehnjähriger keineswegs zufällig mit einem flott verfassten Fortsetzungsroman; er verdingt sich später unter Pseudonym als Kolportageschreiber für zwei windige Verleger (die dann noch etwas später den Flammentod erleiden müssen, damit Martín frei für andere Interessenten wird); für einen dubiosen Verleger namens Corelli (man ergänzt automatisch den Vornamen "Arcangelo" und ist ganz rasch beim - gefallenen - Erzengel, also bei Luzifer) schreibt Martín ein Pamphlet, das eine neue Religion begründen soll, und als er schließlich erkennt, mit wem er es zu tun hat, ist das auch schon gar nicht mehr so wichtig.
Von "Der Schatten des Windes" aber hat sich Zafón nicht nur die Szenerie geborgt, sondern auch ein paar der Figuren - so wird hier erzählt, wie die Eltern von Daniel Sempere, dem Erzähler von "Der Schatten des Windes", zusammengekommen sind. Auch die unerhört kitschige "Bibliothek der vergessenen Bücher", um die im Vorgängerroman so viel Wind gemacht wird, kommt hier ein weiteres Mal vor, jener Ort also, an den die Eingeweihten unter den wahren Bücherfreunden geführt werden, um im Wirrwarr der Bände ein einziges Werk gleichsam zu adoptieren - ein Buch, auf das sie in Zukunft aufpassen und das sie hüten werden wie ein leibliches Kind.
Hier aber setzt "Das Spiel des Engels" einen eigenen, höchst erfreulichen Akzent. Denn David Martín, der mit denselben salbungsvollen Worten in diesen Tempel der fetischhaften Verehrung des Buches eingeführt wird, wählt zwar wie alle anderen Besucher auch einen Band, nur nimmt er es mit seinen Pflichten offensichtlich nicht so genau - irgendwann wirft er das Buch, für das er doch sorgen soll, im hohen Bogen ins Feuer.
Dieser Akt der Buchzerstörung aber, der schon durch den "Schatten des Windes" irrlichtert (dort stiehlt sich ein Autor alle Exemplare eines von ihm verfassten Romans zusammen, um sie zu vernichten), ist das eigentlich Interessante an dem jetzt auf Deutsch erscheinenden Roman, der sich anschickt, ein Bestseller zu werden. Denn der Schriftsteller Martín hasst, so scheint es, jede einzelne Zeile, die er schreibt und die von ihm gedruckt wird. Findet eines seiner Bücher Anklang bei den Lesern, so fragt er sich, was er falsch gemacht hat; und sein Ruhm, der sich auf Kolportage stützt, ekelt ihn so sehr an, dass er freudig das Angebot des Verführers annimmt, etwas dezidiert Arkanes zu schreiben. Tatsächlich wird sein krudes Religionsstifterbuch später neben vielen ähnlichen in der "Bibliothek der vergessenen Bücher" verschimmeln - es trifft, wie es scheint, keinen falschen.
Ist das bloß das kokette Spiel eines märchenhaft erfolgreichen Autors, der diesem Erfolg nicht traut? Zafón lässt keinen Zweifel daran, dass Verkaufszahlen für ihn durchaus ein Maßstab sind, der über das Gelingen eines Buches entscheidet. Und seine Gewährsleute aus dem 19. Jahrhundert, allen voran Dickens, stehen für eine Literatur, die zugleich Massenphänomen und zeitlos gültig ist. Dass Zafón hier anknüpft, ist verdienstvoll, und indem er sich besonders bei der damaligen Schauerliteratur abschaut, was sich anbietet, wird "Das Spiel des Engels" bei aller Spannung aus eigenem Recht eben auch zum erhellenden Kommentar einer ganzen literarischen Richtung.
Wer sich - wie offenbar Zafón - ausdauernd mit düsteren Großstadtromanen von Autoren wie Gaston Leroux, Villiers de l'Isle-Adam oder eben Sue beschäftigt, der wird darin auf zwei Tendenzen stoßen, die fast schon zur Regel gerinnen. Die erste: In der Architektur schlägt die Vertikale die Horizontale - man steigt auf Türme oder in den Untergrund und spart sich dafür den Gang ins Weite. Die zweite: Der wirkliche Schrecken des Schauerromans ist die Begegnung des Helden mit sich selbst. Zafón beherzigt beides. Das zentrale Gebäude des Buches heißt aus einleuchtenden Gründen "das Haus mit dem Turm"; die Seilbahn über den Hafen liefert den Hintergrund für zwei entscheidende Szenen, und selbst der Abschied von der Geliebten, die im Wahnsinn endet, ist für Martín eine Sache der Vertikalen: Er blickt auf eine Eisdecke über einem See, unter der die Sterbende liegt und zurückschaut. Und auch bei der Selbstbegegnung hält sich Zafón nicht übermäßig zurück - einmal trifft Martín auf ein dunkles Zimmer voller golemhafter Androiden, von denen einer seine eigenen Züge trägt, er sieht einen Grabstein, auf dem sein Name samt Sterbedatum steht, und dass er sich selbst und den eigenen Erinnerungen keineswegs trauen darf, merkt er leider erst recht spät.
Zafón ergänzt das noch um sprechende Namen (meist aus der religiösen Sphäre wie "Trias", "Sempere" und "Salvador"), blasse Liebesgeschichten mit genretypisch blassen Damen und ein paar reizvolle Szenen aus dem Alltag des Schriftstellers. Das grenzt nicht nur an Kolportage, sondern reizt geradezu aus, wie weit ein ästhetisches Programm trägt, das vom bewegten Bild her kommt und dem die Atmosphäre alles bedeutet, die logische Struktur des Handlungsbogens dagegen entschieden weniger. Der immensen Spannung des Romans tut das erstaunlicherweise keinen Abbruch, und irgendwann nimmt man auch die gesammelten Stilblüten als Orchideengarten hin, ohne den das Buch nicht wäre, was es ist.
Dass sich jedenfalls der Autor selbst nicht allzu ernst nimmt, zeigt der Rat, den sein Erzähler einer Möchtegern-Schriftstellerin gibt: "Eulalia fand einfach nicht den richtigen Einstieg für ihren Roman, und ich riet ihr, dem Ganzen einen leicht unheimlichen Ton zu verleihen und ihre Geschichte rund um ein geheimes Buch aufzubauen, das von einem gequälten Geist heimgesucht wurde, mit einer Nebenhandlung übernatürlichen Anstrichs." Warum auch nicht? Beim "Schatten des Windes" hat das schließlich auch geklappt.
TILMAN SPRECKELSEN
Carlos Ruiz Zafón: "Das Spiel des Engels". Übersetzt von Peter Schwaar, S.-Fischer-Verlag, 720 Seiten, 24,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nichts ist erfolgreicher als das Unheimliche - das neue Buch des spanischen Bestsellerautors Carlos Ruiz Zafón
Natürlich gibt es hundert gute Gründe dafür, "Das Spiel des Engels" für ein miserables Buch zu halten. Die meisten von ihnen sind Zitate mit einem "wie" in der Mitte: "Das Laub zischte in der Dunkelheit wie Schlangen"; "Die Barackensiedlung des Somorrostro-Viertels erstreckte sich wie eine Schlackenschicht"; "Die Schatten wogten wie schwarzes Wasser"; "Sogleich zogen sich alle wie verängstigte Nager zurück"; "Sie führte ihn zu einem Stuhl, auf den er sich wie eine ausgediente Puppe fallen ließ" und dergleichen mehr - schiefe Bilder, wo immer man das Buch aufschlägt, und ginge es dabei nur um Fragen des Stils, täte man besser daran, diesen Roman zu ignorieren.
Nur geht es darum eben nicht. Das Buch, in jeder Hinsicht ein würdiger Nachfolger von Carlos Ruiz Zafóns Bestseller "Der Schatten des Windes", gibt sich gar nicht erst den Anschein, als käme es ihm auf eine geschliffene Sprache an, die sorgfältig und klar auf eine stimmige Psychologie zielte, auf haltbare Berichte von der Tagseite der Welt. Stattdessen schwelgt "Das Spiel des Engels" gut siebenhundert Seiten lang in ausgesprochen düsteren Visionen aus dem Barcelona der zwanziger Jahre. Es nebelt, stürmt und gewittert nach Herzenslust, der naive Nachwuchsjournalist David Martín, der im Zentrum steht und diese Geschichte aus der Rückschau erzählt, hat es schon rasch mit dem Leibhaftigen zu tun, und wer sonst noch in diesem Roman eine Rolle spielt, wird auf dem Weg zum Finale dahingerafft - aufgeschlitzt, erschossen, vergiftet, zu Tode gestürzt oder ertränkt. Zafón beweist dabei eine vielgestalte Phantasie.
Eigenartig nur, wie wenig einem dieses Massensterben nahegeht. Eine Erklärung dafür ist, dass dieses Buch sehr viel mehr aus der Architektur Barcelonas heraus lebt als aus seinen Figuren - das Interesse des Autors gilt den schäbigen Absteigen, den Jugendstilvillen oder den düsteren Parks, die er intensiv und äußerst lebendig schildert, während ihm die Menschen gern zu Pappkameraden verkümmern. Aber auch dies ist eher Programm als Unvermögen, denn das Referenzsystem, das Zafón zugrunde legt, ist die populäre Literatur des 19. Jahrhunderts, genauer: der Zeitungsfortsetzungsroman mit seinen Stereotypen und dem genretypischen Spannungsbogen bis zum Cliffhanger am Ende der jeweiligen Lieferung - wenn es den Leser zerreißt, weil er die Tage bis zur nächsten Ausgabe zählt, dann kann der Autor nicht gar so viel falsch gemacht haben.
Damit hält Zafón auch nicht hinter dem Berg: Eugène Sue, Victor Hugo, Charles Dickens und Alexandre Dumas sind neben vielen anderen durch Verweise, Zitate und Anspielungen überaus präsent in diesem Bücherkosmos, in dem sich der frühberufene Autor Martín seinen Weg zum Lesepublikum bahnt. Den beginnt er als Siebzehnjähriger keineswegs zufällig mit einem flott verfassten Fortsetzungsroman; er verdingt sich später unter Pseudonym als Kolportageschreiber für zwei windige Verleger (die dann noch etwas später den Flammentod erleiden müssen, damit Martín frei für andere Interessenten wird); für einen dubiosen Verleger namens Corelli (man ergänzt automatisch den Vornamen "Arcangelo" und ist ganz rasch beim - gefallenen - Erzengel, also bei Luzifer) schreibt Martín ein Pamphlet, das eine neue Religion begründen soll, und als er schließlich erkennt, mit wem er es zu tun hat, ist das auch schon gar nicht mehr so wichtig.
Von "Der Schatten des Windes" aber hat sich Zafón nicht nur die Szenerie geborgt, sondern auch ein paar der Figuren - so wird hier erzählt, wie die Eltern von Daniel Sempere, dem Erzähler von "Der Schatten des Windes", zusammengekommen sind. Auch die unerhört kitschige "Bibliothek der vergessenen Bücher", um die im Vorgängerroman so viel Wind gemacht wird, kommt hier ein weiteres Mal vor, jener Ort also, an den die Eingeweihten unter den wahren Bücherfreunden geführt werden, um im Wirrwarr der Bände ein einziges Werk gleichsam zu adoptieren - ein Buch, auf das sie in Zukunft aufpassen und das sie hüten werden wie ein leibliches Kind.
Hier aber setzt "Das Spiel des Engels" einen eigenen, höchst erfreulichen Akzent. Denn David Martín, der mit denselben salbungsvollen Worten in diesen Tempel der fetischhaften Verehrung des Buches eingeführt wird, wählt zwar wie alle anderen Besucher auch einen Band, nur nimmt er es mit seinen Pflichten offensichtlich nicht so genau - irgendwann wirft er das Buch, für das er doch sorgen soll, im hohen Bogen ins Feuer.
Dieser Akt der Buchzerstörung aber, der schon durch den "Schatten des Windes" irrlichtert (dort stiehlt sich ein Autor alle Exemplare eines von ihm verfassten Romans zusammen, um sie zu vernichten), ist das eigentlich Interessante an dem jetzt auf Deutsch erscheinenden Roman, der sich anschickt, ein Bestseller zu werden. Denn der Schriftsteller Martín hasst, so scheint es, jede einzelne Zeile, die er schreibt und die von ihm gedruckt wird. Findet eines seiner Bücher Anklang bei den Lesern, so fragt er sich, was er falsch gemacht hat; und sein Ruhm, der sich auf Kolportage stützt, ekelt ihn so sehr an, dass er freudig das Angebot des Verführers annimmt, etwas dezidiert Arkanes zu schreiben. Tatsächlich wird sein krudes Religionsstifterbuch später neben vielen ähnlichen in der "Bibliothek der vergessenen Bücher" verschimmeln - es trifft, wie es scheint, keinen falschen.
Ist das bloß das kokette Spiel eines märchenhaft erfolgreichen Autors, der diesem Erfolg nicht traut? Zafón lässt keinen Zweifel daran, dass Verkaufszahlen für ihn durchaus ein Maßstab sind, der über das Gelingen eines Buches entscheidet. Und seine Gewährsleute aus dem 19. Jahrhundert, allen voran Dickens, stehen für eine Literatur, die zugleich Massenphänomen und zeitlos gültig ist. Dass Zafón hier anknüpft, ist verdienstvoll, und indem er sich besonders bei der damaligen Schauerliteratur abschaut, was sich anbietet, wird "Das Spiel des Engels" bei aller Spannung aus eigenem Recht eben auch zum erhellenden Kommentar einer ganzen literarischen Richtung.
Wer sich - wie offenbar Zafón - ausdauernd mit düsteren Großstadtromanen von Autoren wie Gaston Leroux, Villiers de l'Isle-Adam oder eben Sue beschäftigt, der wird darin auf zwei Tendenzen stoßen, die fast schon zur Regel gerinnen. Die erste: In der Architektur schlägt die Vertikale die Horizontale - man steigt auf Türme oder in den Untergrund und spart sich dafür den Gang ins Weite. Die zweite: Der wirkliche Schrecken des Schauerromans ist die Begegnung des Helden mit sich selbst. Zafón beherzigt beides. Das zentrale Gebäude des Buches heißt aus einleuchtenden Gründen "das Haus mit dem Turm"; die Seilbahn über den Hafen liefert den Hintergrund für zwei entscheidende Szenen, und selbst der Abschied von der Geliebten, die im Wahnsinn endet, ist für Martín eine Sache der Vertikalen: Er blickt auf eine Eisdecke über einem See, unter der die Sterbende liegt und zurückschaut. Und auch bei der Selbstbegegnung hält sich Zafón nicht übermäßig zurück - einmal trifft Martín auf ein dunkles Zimmer voller golemhafter Androiden, von denen einer seine eigenen Züge trägt, er sieht einen Grabstein, auf dem sein Name samt Sterbedatum steht, und dass er sich selbst und den eigenen Erinnerungen keineswegs trauen darf, merkt er leider erst recht spät.
Zafón ergänzt das noch um sprechende Namen (meist aus der religiösen Sphäre wie "Trias", "Sempere" und "Salvador"), blasse Liebesgeschichten mit genretypisch blassen Damen und ein paar reizvolle Szenen aus dem Alltag des Schriftstellers. Das grenzt nicht nur an Kolportage, sondern reizt geradezu aus, wie weit ein ästhetisches Programm trägt, das vom bewegten Bild her kommt und dem die Atmosphäre alles bedeutet, die logische Struktur des Handlungsbogens dagegen entschieden weniger. Der immensen Spannung des Romans tut das erstaunlicherweise keinen Abbruch, und irgendwann nimmt man auch die gesammelten Stilblüten als Orchideengarten hin, ohne den das Buch nicht wäre, was es ist.
Dass sich jedenfalls der Autor selbst nicht allzu ernst nimmt, zeigt der Rat, den sein Erzähler einer Möchtegern-Schriftstellerin gibt: "Eulalia fand einfach nicht den richtigen Einstieg für ihren Roman, und ich riet ihr, dem Ganzen einen leicht unheimlichen Ton zu verleihen und ihre Geschichte rund um ein geheimes Buch aufzubauen, das von einem gequälten Geist heimgesucht wurde, mit einer Nebenhandlung übernatürlichen Anstrichs." Warum auch nicht? Beim "Schatten des Windes" hat das schließlich auch geklappt.
TILMAN SPRECKELSEN
Carlos Ruiz Zafón: "Das Spiel des Engels". Übersetzt von Peter Schwaar, S.-Fischer-Verlag, 720 Seiten, 24,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2008Gott gibt dem Brot, der keine Zähne hat
Die Mittel der halsbrecherischen Kolportage, angewandt auf eine schwerblütige Konstruktion, überstiegen auf der Suche nach etwas Höherem: Carlos Ruiz Zafón hat mit dem „Spiel der Engel” einen vergnüglichen Schauerroman geschrieben. Von Burkhard Müller
Das Barcelona dieses Buchs ist nicht die heiter-verschrobene Metropole des mittelmeerischen Jugendstils, wie sie sich dem Touristen so gern für ein verlängertes Wochenende empfiehlt. Die Kathedrale Sagrada Família, die eigenwilligen Gebäude Gaudís erscheinen auch hier, doch kippt ihr Charme sehr ins Sinistre. David Martín, der Held in Carlos Ruiz Zafóns Roman „Das Spiel des Engels”, erlebt die Stadt im Jahre 1917 so:
„Ich war siebzehn und arbeitete bei der ,Stimme der Industrie’, einer heruntergewirtschafteten Zeitung, die in einer Art Höhle vor sich hinsiechte; das Gebäude hatte einst eine Schwefelsäurefabrik beherbergt, und seine Mauern schwitzten noch immer den beißenden Dunst aus, der Möbel, Kleider, Seelen und sogar die Schuhsohlen zerfraß. Der Sitz der Zeitung erhob sich hinter einem Wald aus Engeln und Kruzifixen des Friedhofs von Pueblo Nuevo, und aus der Ferne verschmolz der Schattenriss des Hauses mit der Silhouette der Gräberwelt vor einem Horizont aus Hunderten von Schloten und Fabriken, welche eine dauernde Dämmerung aus Scharlach und Schwarz über Barcelona legten.”
Scharlach und Schwarz, das sind die Königsfarben dieses Romans im gotischen Stil, farblich kaum gehöht durch das karmesinrote Siegel des Engels, welches als Leitmotiv dem Buch den Titel gibt. Immer wieder hinterlässt der geheimnisvolle Verleger Corelli seine so gezeichnete Visitenkarte; „Èditions de la Lumière” heißt sein Verlag, aber dieses Licht gleißt luziferisch, um den jungen Martín in Versuchung zu führen.
Martín kämpft gegen das Schicksal seiner Herkunft, dessen leicht sentimentale Düsternis Anleihen bei Charles Dickens macht: Die Mutter ist davongelaufen, als er noch ganz klein war, der Vater, Veteran des unglücklichen spanischen Kriegs gegen die USA 1898, ist verbittert und prügelt den Sohn, wenn er ihn nachts beim Lesen erwischt. Da hilft es auch nichts, schnell die Glühbirne zu löschen; der Vater langt hin, fühlt, dass sie noch warm ist, und schlägt sie in tausend Stücke. Der Vater stirbt irgendwann blutüberströmt in den Armen des erst Achtjährigen, Opfer eines tragischen Eifersuchts-Missverständnisses; die Mutter sieht der Sohn, schon erwachsen, aus der Ferne, er lässt ihr durch einen Boten sein erstes richtiges Buch übergeben, und während er verstohlen zuschaut, was sie wohl damit machen wird, wirft sie es in den Papierkorb – es ist die beklemmendste Szene des Romans, schlimmer als alle theatralische Gewalttat.
In den Büchern, daran besteht von Anfang an kein Zweifel, liegt die Zukunft des kleinen David. Obdach findet er in der Buchhandlung des alten Sempere, und Beschäftigung schließlich in besagtem miesem Blatt, der „Stimme der Industrie”. Sein Talent wird entdeckt, unter Pseudonym verfasst er in atemberaubendem Tempo den Fortsetzungsroman „Die Stadt der Verdammten”, dessen jeweils neueste Folgen ihm von seinen zwei Verlegern, aalglatten Schurken, wie sie nur der Erfahrung des Stummfilms entspringen konnten, unter der Feder weggerissen werden. (Poetische Gerechtigkeit widerfährt ihnen später, indem sie lebendigen Leibs verbrennen.)
Wie man sich diese Heftchen vorstellen muss, davon erhält der Leser Kostproben: „,Ein Gedicht wird mit Tränen geschrieben, ein Roman mit Blut und die Geschichte mit Lappalien’, sagte der Kardinal, während er die Messerschneide im Licht des Kandelabers mit Gift bestrich.” Das segelt unter der Flagge der Parodie und ist doch voller Zärtlichkeit ausgedacht. Die halsbrecherische Kolportage hat es Zafón sichtlich angetan; er will ihre verwegenen Lizenzen, ihre schamlose Übertreibung und Unfolgerichtigkeit zugleich verspotten und genießen und sie außerdem noch in Richtung auf etwas Höheres hin übersteigen. Das stellt ein durchaus widersprüchliches Unternehmen dar. Wenn es dem Leser dennoch zum Besten zweier Welten verhilft und ihm, wiewohl ironisch gebrochen, Vergnügen bereitet, dann deswegen, weil Zafón nicht nur rasant, sondern auch mit einer gewissen großspurigen Eleganz schreibt.
Es waltet darin ein Vorwitz, wie man ihn dem ehrgeizigen, eindeutig begabten, aber seiner Mittel noch nicht zu hundert Prozent sicheren Jungschriftsteller Martín gern zutraut. „Auf einer Untertasse lagen zwei herrlich duftende Zigarren. Macanudos, eine der karibischen Wonnen, die ein Vertreter der Tabaksgesellschaft Isabellas Vater heimlich zusteckte. Ich zündete mir eine an. In ihrem lauwarmen Rauch mischten sich sämtliche Düfte und Gifte, die sich ein Mann nur wünschen konnte, um in Frieden zu sterben.” Eine solch weltläufige Geste hat für dieses Hemd von einem Jüngling deutlich die falsche Kragenweite; und doch, man muss lachen und lässt es sich gefallen.
Darum stellt die Wahl eines schreibenden Protagonisten hier ausnahmsweise mal einen inspirierten Streich dar, so sehr man sonst auch im Zeichen der Postmoderne eine gewisse Übersättigung mit Plots von Büchern in Büchern erlebt hat. Und Zafón weiß, wie man Dialoge baut, was immer der heikelste Punkt der Romankunst ist. Wenn der alte Buchhändler mit einem Freund darüber spricht, wie man seinen allzu schüchternen Sohn und Nachfolger dazu bringen könnte, endlich in den Hafen der Ehe einzulaufen, klingt das so: „,Es wird ihm ja nicht an Freundinnen mangeln bei all den Täubchen, die sich vorm Schaufenster drängeln, um ihn zu bestaunen.’ ,Ich meine eine wirkliche Frau, eine, die einen dazu bringt, das zu sein, was man sein muss.’ ,Er ist doch noch jung. Lassen Sie ihn sich noch ein paar Jahre amüsieren.’ ,Das wäre ja wunderbar – wenn er sich wenigstens amüsieren würde. Hätte ich in seinem Alter einen solchen Ansturm junger Mädchen erlebt, ich hätte gesündigt wie ein Kardinal!’ ,Gott gibt dem Brot, der keine Zähne hat.’”
Das alles macht dem Autor und seinem jugendlichen Alter Ego so unverkennbaren Spaß, dass der schauerliche Gesamtzweck stellenweise etwas in den Hintergrund tritt. Ein Unglück bedeutet das kaum, die Leichtigkeit im Einzelnen entschädigt für die etwas verworrene Schwerblütigkeit der Anlage im großen Ganzen. Denn dies jedenfalls übernimmt Zafón von der geliebten und geneckten Kolportage, dass er Knoten viel lieber schürzt als löst und manchen Faden unvernäht aus dem Gewebe hängen lässt. Darüber, wie es sich mit dem Luxusbordell, das sich einen Tag später als uralte Brandruine erweist, oder mit dem diabolischen Corelli, der eine neue, auf einen kriegerischen Messias setzende Religion stiften will und dazu Martín als Verfasser einer entsprechenden heiligen Schrift für unglaubliche Summen anheuert, jetzt detailliert verhält, darf man nicht zu genau nachdenken, sonst ist einem der Spaß versalzen. Besser, man konzentriert seine Neugier darauf, ob Martín die unnahbare femme fragile Cristina (Melodrama!) oder die praktisch zupackende Isabella (Komödie!) abbekommt. Mit Isabella, die partout Martíns Assistentin werden will, um das schriftstellerische Metier zu erlernen, aber alsbald den Part der energischen Haushälterin übernimmt, gibt es wunderbare Rededuelle, zeilenweise abwechselnd wie in der griechischen Tragödie.
Beim übrigen Personal gebe man sich damit zufrieden, dass es sich um ausdrucksvolle Masken handelt; denn die Kennzeichnung der Charaktere über die scharf akzentuierende Rollenzuweisung hinaus – jovialer Chef mit Löwenmähne, schuftig-salbungsvoller Anwalt, spleenig-melancholischer Mäzen, vergrämte Opferwitwe im Rollstuhl – ist Zafóns Sache nicht. Loben sollte man auch den deutschen Übersetzer Peter Schwaar, der den hier erforderlichen Ton getroffen hat und fraglichen Chef zum Beispiel dadurch markiert, dass er ihn rufen lässt: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!” Das ist von Schiller und schwerlich von Zafón, aber es passt haargenau auf die gutgelaunte, raumgreifende Banalität des gemeinten Typus.
Am wenigsten bereitwillig nimmt man es hin, dass sich der verträumte Jungschriftsteller gegen das rasend beschleunigte Ende des Buchs hin in einen Action-Helden verwandelt, der Polizisten austrickst und erledigt und mit Eisenstangen um sich haut, als hätte er nie etwas anderes betrieben. Da gibt Zafón dessen Träumen nach, statt ihn beim Träumen zu zeigen. Doch insgesamt muss man sagen: Gutes Genre ist immer besser als schlechte Literatur; und Zafón hat mindestens das Erste hingekriegt, eigentlich aber einen höchst schnittigen Bastard aus beidem.
Carlos Ruiz Zafón
Das Spiel des Engels
Roman. Deutsch von Peter Schwaar.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 711 Seiten, 24,95 Euro.
Gedichte werden mit Tränen geschrieben, Romane mit Blut, die Geschichte mit Lappalien
Carlos Ruiz Zafón Foto: AP
Sie wirft ihren Schatten in jeden neueren Barcelona-Roman: Antoni Gaudís ewig unvollendete Kathedrale Sagrada Família. Foto: Patrick Ward / Corbis
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Die Mittel der halsbrecherischen Kolportage, angewandt auf eine schwerblütige Konstruktion, überstiegen auf der Suche nach etwas Höherem: Carlos Ruiz Zafón hat mit dem „Spiel der Engel” einen vergnüglichen Schauerroman geschrieben. Von Burkhard Müller
Das Barcelona dieses Buchs ist nicht die heiter-verschrobene Metropole des mittelmeerischen Jugendstils, wie sie sich dem Touristen so gern für ein verlängertes Wochenende empfiehlt. Die Kathedrale Sagrada Família, die eigenwilligen Gebäude Gaudís erscheinen auch hier, doch kippt ihr Charme sehr ins Sinistre. David Martín, der Held in Carlos Ruiz Zafóns Roman „Das Spiel des Engels”, erlebt die Stadt im Jahre 1917 so:
„Ich war siebzehn und arbeitete bei der ,Stimme der Industrie’, einer heruntergewirtschafteten Zeitung, die in einer Art Höhle vor sich hinsiechte; das Gebäude hatte einst eine Schwefelsäurefabrik beherbergt, und seine Mauern schwitzten noch immer den beißenden Dunst aus, der Möbel, Kleider, Seelen und sogar die Schuhsohlen zerfraß. Der Sitz der Zeitung erhob sich hinter einem Wald aus Engeln und Kruzifixen des Friedhofs von Pueblo Nuevo, und aus der Ferne verschmolz der Schattenriss des Hauses mit der Silhouette der Gräberwelt vor einem Horizont aus Hunderten von Schloten und Fabriken, welche eine dauernde Dämmerung aus Scharlach und Schwarz über Barcelona legten.”
Scharlach und Schwarz, das sind die Königsfarben dieses Romans im gotischen Stil, farblich kaum gehöht durch das karmesinrote Siegel des Engels, welches als Leitmotiv dem Buch den Titel gibt. Immer wieder hinterlässt der geheimnisvolle Verleger Corelli seine so gezeichnete Visitenkarte; „Èditions de la Lumière” heißt sein Verlag, aber dieses Licht gleißt luziferisch, um den jungen Martín in Versuchung zu führen.
Martín kämpft gegen das Schicksal seiner Herkunft, dessen leicht sentimentale Düsternis Anleihen bei Charles Dickens macht: Die Mutter ist davongelaufen, als er noch ganz klein war, der Vater, Veteran des unglücklichen spanischen Kriegs gegen die USA 1898, ist verbittert und prügelt den Sohn, wenn er ihn nachts beim Lesen erwischt. Da hilft es auch nichts, schnell die Glühbirne zu löschen; der Vater langt hin, fühlt, dass sie noch warm ist, und schlägt sie in tausend Stücke. Der Vater stirbt irgendwann blutüberströmt in den Armen des erst Achtjährigen, Opfer eines tragischen Eifersuchts-Missverständnisses; die Mutter sieht der Sohn, schon erwachsen, aus der Ferne, er lässt ihr durch einen Boten sein erstes richtiges Buch übergeben, und während er verstohlen zuschaut, was sie wohl damit machen wird, wirft sie es in den Papierkorb – es ist die beklemmendste Szene des Romans, schlimmer als alle theatralische Gewalttat.
In den Büchern, daran besteht von Anfang an kein Zweifel, liegt die Zukunft des kleinen David. Obdach findet er in der Buchhandlung des alten Sempere, und Beschäftigung schließlich in besagtem miesem Blatt, der „Stimme der Industrie”. Sein Talent wird entdeckt, unter Pseudonym verfasst er in atemberaubendem Tempo den Fortsetzungsroman „Die Stadt der Verdammten”, dessen jeweils neueste Folgen ihm von seinen zwei Verlegern, aalglatten Schurken, wie sie nur der Erfahrung des Stummfilms entspringen konnten, unter der Feder weggerissen werden. (Poetische Gerechtigkeit widerfährt ihnen später, indem sie lebendigen Leibs verbrennen.)
Wie man sich diese Heftchen vorstellen muss, davon erhält der Leser Kostproben: „,Ein Gedicht wird mit Tränen geschrieben, ein Roman mit Blut und die Geschichte mit Lappalien’, sagte der Kardinal, während er die Messerschneide im Licht des Kandelabers mit Gift bestrich.” Das segelt unter der Flagge der Parodie und ist doch voller Zärtlichkeit ausgedacht. Die halsbrecherische Kolportage hat es Zafón sichtlich angetan; er will ihre verwegenen Lizenzen, ihre schamlose Übertreibung und Unfolgerichtigkeit zugleich verspotten und genießen und sie außerdem noch in Richtung auf etwas Höheres hin übersteigen. Das stellt ein durchaus widersprüchliches Unternehmen dar. Wenn es dem Leser dennoch zum Besten zweier Welten verhilft und ihm, wiewohl ironisch gebrochen, Vergnügen bereitet, dann deswegen, weil Zafón nicht nur rasant, sondern auch mit einer gewissen großspurigen Eleganz schreibt.
Es waltet darin ein Vorwitz, wie man ihn dem ehrgeizigen, eindeutig begabten, aber seiner Mittel noch nicht zu hundert Prozent sicheren Jungschriftsteller Martín gern zutraut. „Auf einer Untertasse lagen zwei herrlich duftende Zigarren. Macanudos, eine der karibischen Wonnen, die ein Vertreter der Tabaksgesellschaft Isabellas Vater heimlich zusteckte. Ich zündete mir eine an. In ihrem lauwarmen Rauch mischten sich sämtliche Düfte und Gifte, die sich ein Mann nur wünschen konnte, um in Frieden zu sterben.” Eine solch weltläufige Geste hat für dieses Hemd von einem Jüngling deutlich die falsche Kragenweite; und doch, man muss lachen und lässt es sich gefallen.
Darum stellt die Wahl eines schreibenden Protagonisten hier ausnahmsweise mal einen inspirierten Streich dar, so sehr man sonst auch im Zeichen der Postmoderne eine gewisse Übersättigung mit Plots von Büchern in Büchern erlebt hat. Und Zafón weiß, wie man Dialoge baut, was immer der heikelste Punkt der Romankunst ist. Wenn der alte Buchhändler mit einem Freund darüber spricht, wie man seinen allzu schüchternen Sohn und Nachfolger dazu bringen könnte, endlich in den Hafen der Ehe einzulaufen, klingt das so: „,Es wird ihm ja nicht an Freundinnen mangeln bei all den Täubchen, die sich vorm Schaufenster drängeln, um ihn zu bestaunen.’ ,Ich meine eine wirkliche Frau, eine, die einen dazu bringt, das zu sein, was man sein muss.’ ,Er ist doch noch jung. Lassen Sie ihn sich noch ein paar Jahre amüsieren.’ ,Das wäre ja wunderbar – wenn er sich wenigstens amüsieren würde. Hätte ich in seinem Alter einen solchen Ansturm junger Mädchen erlebt, ich hätte gesündigt wie ein Kardinal!’ ,Gott gibt dem Brot, der keine Zähne hat.’”
Das alles macht dem Autor und seinem jugendlichen Alter Ego so unverkennbaren Spaß, dass der schauerliche Gesamtzweck stellenweise etwas in den Hintergrund tritt. Ein Unglück bedeutet das kaum, die Leichtigkeit im Einzelnen entschädigt für die etwas verworrene Schwerblütigkeit der Anlage im großen Ganzen. Denn dies jedenfalls übernimmt Zafón von der geliebten und geneckten Kolportage, dass er Knoten viel lieber schürzt als löst und manchen Faden unvernäht aus dem Gewebe hängen lässt. Darüber, wie es sich mit dem Luxusbordell, das sich einen Tag später als uralte Brandruine erweist, oder mit dem diabolischen Corelli, der eine neue, auf einen kriegerischen Messias setzende Religion stiften will und dazu Martín als Verfasser einer entsprechenden heiligen Schrift für unglaubliche Summen anheuert, jetzt detailliert verhält, darf man nicht zu genau nachdenken, sonst ist einem der Spaß versalzen. Besser, man konzentriert seine Neugier darauf, ob Martín die unnahbare femme fragile Cristina (Melodrama!) oder die praktisch zupackende Isabella (Komödie!) abbekommt. Mit Isabella, die partout Martíns Assistentin werden will, um das schriftstellerische Metier zu erlernen, aber alsbald den Part der energischen Haushälterin übernimmt, gibt es wunderbare Rededuelle, zeilenweise abwechselnd wie in der griechischen Tragödie.
Beim übrigen Personal gebe man sich damit zufrieden, dass es sich um ausdrucksvolle Masken handelt; denn die Kennzeichnung der Charaktere über die scharf akzentuierende Rollenzuweisung hinaus – jovialer Chef mit Löwenmähne, schuftig-salbungsvoller Anwalt, spleenig-melancholischer Mäzen, vergrämte Opferwitwe im Rollstuhl – ist Zafóns Sache nicht. Loben sollte man auch den deutschen Übersetzer Peter Schwaar, der den hier erforderlichen Ton getroffen hat und fraglichen Chef zum Beispiel dadurch markiert, dass er ihn rufen lässt: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!” Das ist von Schiller und schwerlich von Zafón, aber es passt haargenau auf die gutgelaunte, raumgreifende Banalität des gemeinten Typus.
Am wenigsten bereitwillig nimmt man es hin, dass sich der verträumte Jungschriftsteller gegen das rasend beschleunigte Ende des Buchs hin in einen Action-Helden verwandelt, der Polizisten austrickst und erledigt und mit Eisenstangen um sich haut, als hätte er nie etwas anderes betrieben. Da gibt Zafón dessen Träumen nach, statt ihn beim Träumen zu zeigen. Doch insgesamt muss man sagen: Gutes Genre ist immer besser als schlechte Literatur; und Zafón hat mindestens das Erste hingekriegt, eigentlich aber einen höchst schnittigen Bastard aus beidem.
Carlos Ruiz Zafón
Das Spiel des Engels
Roman. Deutsch von Peter Schwaar.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 711 Seiten, 24,95 Euro.
Gedichte werden mit Tränen geschrieben, Romane mit Blut, die Geschichte mit Lappalien
Carlos Ruiz Zafón Foto: AP
Sie wirft ihren Schatten in jeden neueren Barcelona-Roman: Antoni Gaudís ewig unvollendete Kathedrale Sagrada Família. Foto: Patrick Ward / Corbis
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