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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2002

Ich habe die Tränen im Auge des Sprach-Riesen gesehen
Glasglühende Leidenschaften des Geistes: Arno Schmidts Roman "Das steinerne Herz" zeigt Gefühle hinter fest zusammengepreßten Zähnen / Von Georg Klein

Im Lauf eines Leserlebens findet man nicht oft einen Schriftsteller, dessen Bücher sich zugleich innig lieben und herzlich verabscheuen lassen. Arno Schmidt ist einer dieser raren Autoren, die es schaffen, nicht nur die Gemeinschaft der Lesenden, sondern auch noch das Gemüt des einzelnen Lesers zu spalten. Und "Das steinerne Herz" ist unter Schmidts großen Prosatexten vielleicht die trefflichste Attacke auf die Einheit unseres Empfindens. Bis heute kann die Lektüre dieses historischen Romans aus dem Jahre 1954 nach Christi wie ein Keil wirken, der das Herz, das sich ihm aussetzt, aufsprengt - als gelte es nachzuprüfen, ob dieses Organ aus Fleisch und Blut besteht, ob es, wie der Titel nahelegt, aus Stein ist oder ob es vielleicht gar aus purem Gold gegossen wurde.

Der Königsweg des Erzählers, sein sicherster Schleichpfad ins Gemüt des Lesenden, war in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und ist noch heute das Angebot, sich mit dem Helden zu identifizieren. Walter Eggers, der Protagonist "Des steinernen Herzens", wird allen, die schon etwas von Arno Schmidt gelesen haben, schnell bekannt vorkommen. Da ist er wieder, der hellhörige und sprachgewaltige Besserwisser, jener sechs Fuß große, stark kurzsichtige Intelligenz- und Sexprotz, dem die Zeitläufe es so ärgerlich schwermachen, an die drei Dinge zu kommen, die er zum Leben braucht: Geld zum Erwerb von immer neuen Büchern, Muße zum Studium derselben und ein unkompliziertes Weib für zwischendurch.

Das Räsonnement, das er gegen die anderen Romangestalten und als Kommentator seiner Wahrnehmungen auch fast unablässig gegen den Lesenden führt, tut eigentlich alles, um jenen Widerwillen anschwellen zu lassen, der vielleicht jede tiefe Identifikation wie eine Gegenströmung begleiten muß. Die gleitende Überwindung dieses Widerstands macht dann ja oft den besonderen Reiz des Hineinschwimmens in den Raum einer literarischen Figur aus. Aber in diesem Fall haben wir es über die Maßen schwer. Selbst wenn einer ebenfalls alternder Mann, Atheist, Antimilitarist und philosophisch wasserdichter Pessimist sein sollte, könnte ihm die gnadenlose Rechthaberei dieses Erzählers irgendwann zuviel werden. Da wir ja lesend die Scheuklappen des Textes tragen, gibt es kein Entkommen aus Eggers' Schwarzsicht, und eigentlich müßte sein sinistres Schimpfen den Wunsch, ihn mit dem Zuklappen der Buchdeckel zum Schweigen zu bringen, unwiderstehlich anwachsen lassen. Aber mir und anderen Geschlechtsgenossen - ja sogar Leserinnen! - widerfährt etwas anderes: Noch ehe wir ein Dutzend Mal umgeblättert haben, sind wir in der Erzählhöhle des grimmigen Hünen Walter Eggers gefangen.

Das hat wohl auch damit zu tun, daß uns diese Gestalt trotz ihrer Omnipräsenz und Omnipotenz zugleich auf eine merkwürdige Weise in Ruhe zu lassen versteht. Zwar müssen wir fast alles durch Eggers' starke Brille sehen, zwar malt er uns den Mond immer wieder so sprachgewaltig an den Himmel, als gelte es, alle zukünftigen Mondgucker zum Schweigen zu bringen, mondsüchtig jedoch, wie verliebte Jünglinge und in Liebeshändel verstrickte reifere Semester in Romanen gern zu sein pflegen, ist er nie. Und selbst wenn wir Eggers nachts aufs Außenklo begleiten, wenn unsere Phantasie dort, von kräftiger Hand gelenkt, an allen Verrichtungen und Wahrnehmungen des Helden Anteil nehmen muß, erspart uns der Autor genau das, was eine durchwachte Nacht in der bürgerlichen Literatur, wie der Lampenschein die Motte, herbeizuziehen pflegt: eine bestimmte Rede vom inneren Erleben, den sentimentalen Diskurs.

". . . scheiß aufs Herz!" meint Walter Eggers, als wir am dritten Tag der Handlung, frühmorgens um zwei, das erste Mal eingeladen sind, eine Nacht mit ihm zu verbringen. Bündiger ließe sich wohl kaum sagen, daß da einer keinen Funken Lust hat, über Gefühle zu reden. Aber Eggers spielt an dieser Stelle gar nicht auf sein Gemüt an. Nein, mit materialistischer Grobheit flucht er auf sein fleischliches Herz. Obwohl er weiß, daß mit diesem Organ etwas nicht stimmt, pflegt er ihm jede Rücksichtnahme zu verweigern. Obschon ihn regelmäßig Herzbeschwerden plagen, kocht er wieder einmal übermäßig starken Kaffee, um das Schlafbedürfnis des Körpers zu unterdrücken. Nicht auf dem romantisch metaphorischen Umweg eines gebrochenen Herzens, sondern am selbstverschuldeten Versagen seines leibeigenen Hohlmuskels könnte dieser Mann frühzeitig sterben.

Es folgt ein Exzeß in Büchern. Mit zitternder Hand arbeitet sich der Erzähler durch zwei Kisten voller Folianten, durch einen Stapel bürokratischer Handbücher des 19. Jahrhunderts. Kann es Druckwerke geben, die noch offensichtlicher obsolet sind als diese traurig unverwüstlichen Schwarten? Walter Eggers weiß wohl, daß seine momentanen Gastgeber, das Ehepaar Thumann, an diesen Büchern allein interessiert, ob sie sich an ähnlich Verrückte wie ihn verscherbeln lassen. Aber weiß Walters Einflüsterer, der Autor Arno Schmidt, welchen Anschlag er auf seine Leser unternimmt, wenn er viele kostbare Minuten ihrer Konzentration und Phantasie auf diese Wälzer, auf deren statistische Tabellen und Namensverzeichnisse lenkt?

Es ist wohl ein Verführungsversuch. Und einen völlig unbewußten Verführer kann es auch auf dem Gebiet der Literatur nicht geben. Von einer Kette köstlicher Köder werden wir, seinem lupenscharfen Blick, seinen bibliophilen Beschreibungen und seinen sich schnell ekstatisch aufschwingenden Erläuterungen folgend, kunstvoll zu einer Teilhabe verleitet. Nie könnten wir seine Leidenschaft für hannoversche Staatshandbücher aus eigenem Antrieb spüren, nie würde es uns in Wirklichkeit hin zu den obskuren Objekten von Eggers' Begierde ziehen, aber dem Glanz seines Begehrens, der schimmernden Schlangenhaut dieser Rede von den Büchern, erliegen wir doch. Und weil so verteufelt gut davon erzählt wird, sind wir schließlich sogar bereit, dem Glücksversprechen dieser bizarren Dinglust, ja sogar an deren Unschuld zu glauben.

Dabei wissen wir doch längst, daß unser nobler Verführer-zum-Buche als handelnde Romanfigur ein übler Herumkrieger ist, daß er keinen schäbigen Trick scheut, um seine Vermieterin Frieda Thumann aufs Kreuz zu legen. Es handelt sich gewissermaßen um eine Parallelaktion: Während der Lesende zur Identifikation mit Walter Eggers und dessen fetischistischen Begierden verleitet wird, geht es im Jahre 1954 darum, eine Ahldener Hausfrau, eine gestandene Vierzigerin, in ihrem Gemüt zu erschüttern. Schon beim ersten Zusammentreffen von Walter und Frieda auf der Schwelle des Thumannschen Häuschens sind feine Tücke und Geld im Spiel.

Wie Zahnräder scheinen zwei Ökonomien des Mangels ineinanderzugreifen. Frieda Thumann lebt in unglücklicher Ehe, sie hat längst keine Freude mehr an ihrem Mann, der seinerseits alles, was er an Kräften und Säften aufbieten kann, bei seiner jungen Geliebten Line in Berlin läßt. Nie läßt der Erzähler, aus dessen Perspektive wir Friedas Verführung miterleben, einen Zweifel daran, daß er taktisch vorgeht, daß er die emotionalen Mittel, die er einsetzt, intellektuell kontrolliert und nicht zuletzt wegen dieser Beherrschbarkeit geringschätzt.

Aber nicht nur Frieda rutscht über das steile Gefälle des Mangels ins ehebrecherische Bett. Walter Eggers, der scheinbar souverän über seinen männlichen Charme und seine sonstigen affektiven Ressourcen gebietet, ist selbst arm dran. Ihm fehlen, als die Handlung anhebt, ein paar Bände Staatshandbücher, und der Autor hat bereits seine ganze sprachliche Kunst aufgeboten, um den Leser davon zu überzeugen, daß dieses Manko nicht nur den läppischen Spleen eines Sonderlings, sondern ein respektables existentielles Defizit darstellt.

So könnte alles seinen Gang gehen, wären sich die beiden, die da so zweckgerichtet mit dem Mangel und mit den Ressourcen des anderen umgehen, wirklich restlos über das Maß der Größen, mit denen sie rechnen, im klaren. Aber das sind sie zu ihrer eigenen Überraschung und zur Verblüffung des Lesers nicht. Denn beide, Frieda Thumann und Walter Eggers, sollen, so will es der Autor, noch emotionale Gewichte ins Spiel bringen, die die Balance der anfänglich aufgemachten Gleichung stören. Als Eggers mit Karl Thumann aus Berlin zurückkehrt, empfängt ihn eine Frieda, die ganz entgegen ihrer bisherigen Resolutheit schwer mit der Fassung ringt. Diese emotionale Wende hatte sich schon bei Eggers' Abfahrt angedeutet. Frieda, die allein in Ahlden zurückbleiben muß, kommt der Gedanke, daß Eggers in der bedrohlichen Fremdheit der Ostzone etwas zustoßen könnte. Und die Angstphantasie, den frischgewonnenen Liebhaber schon wieder zu verlieren, ergreift so von ihrem Gemüt Besitz, daß dort alle bisherigen Regulierungen aufgehoben scheinen.

Aber auch für den kühlen Strategen, für seinen siamesischen Zwillingsbruder Eggers, hält der Autor eine Überraschung parat, die dessen steinernes Gemüt erschüttern soll. In gekonnt trivialer Manier, auf dem soliden, platten Boden des Plots, wird die emotionale Lage weiter verschärft. Eggers hat sich bei der Enkelin seines hochverehrten Forschungsobjekts Jansen scheinbar alles unter dem Nagel gerissen, was es zu ergattern galt, und bereitet eine Flucht bei Nacht und Nebel vor. Da stellt sich heraus, daß die zu verlassende Frieda nicht nur Erbin der erbeuteten Staatshandbücher, sondern auch eines Goldschatzes ist. Eine klatschende Backpfeife in das blasierte Gesicht dieses Feldherrn der Gefühle. Eine wunderbare Selbstzüchtigung und Selbstverblüffung, wenn man Autor und Figur als siamesisch verbunden sehen darf.

Eggers, der souveräne Stratege in Sachen Gefühl, der damit prahlt, den eigenen affektiven Output apparativ steuern zu können, hat Angst. Und der Leser kann im Gegensatz zu Frieda wissen, wovor sich dieser Mann fürchtet. Seine Geliebte und zukünftige Lebensgefährtin hat ihn als gutverdienenden Einkäufer von Immobilien kennengelernt, sie wird ihn bis ans Romanende, ja theoretisch über dessen Geschehen hinaus, für einen halten, der im gesellschaftlichen Leben seinen Mann steht. Wir aber wissen, daß Eggers auf unsicheren Beinen durch die Welt geht. Drei Jahre glaubt er zu Beginn der Handlung mit der gewohnten Sparsamkeit von den 5000 Mark, die er besitzt, noch leben zu können. Aber sein hochstaplerischer Auftritt in Ahlden zwingt ihn, doppelt soviel wie normal zu verbrauchen. Eggers zehrt von einer knappen Substanz. Wahrlich Grund genug, ins knausrige Eigenbrötlerdasein zurückzukehren, sobald er die ersehnten Bücher bei Frieda abgearbeitet hat.

Wäre dies alles, was sich über das Gemüt unseres Helden sagen ließe, er stünde im Zwielicht des Happy-End endgültig schäbig vor uns, er wäre die Empathie des Lesers kaum wert. Und Frieda Thumann, auf die Eggers im dritten Teil des Buches fast nur noch mit generöser Herablassung blickt, wüchse in unserer Achtung, allein schon, weil sie diesem Eggers durch die Empfindungsfähigkeit, die sie ihm gegenüber entfaltet, durch ihre Anteilnahme an seinem Tun und ihren naiven Stolz auf ihn unendlich überlegen scheint. Sollte der Angst Friedas, den Geliebten zu verlieren, der Mutter ihrer großen Gefühle, auf Eggers' Seite nichts weiter gegenüberstehen als der Horror vacui kommender Geldnöte? Ist kleinbürgerliche Zukunftsangst die stärkste Empfindung, die der Zwillingsbruder unseres Autors ins zwischenmenschliche, ins zwischengeschlechtliche Feld führen kann?

Zum Glück, zu unserem Leseglück, ist es nicht so. Aber Arno Schmidt muß den Ort, den Zeitraum und die Figurenkonstellation des Romans aufsprengen, um Eggers' Herz zu erweichen. Es braucht eine Reise dazu, eine magische ,sentimental journey', um uns vollends und dauerhaft für diesen widrigen Kerl zu erwärmen. Im zweiten, im mittleren Buch des Romans geht es nach Osten, in die Ostzone, in ein Reich, das für den heutigen Leser, vor allem für den jungen, noch erheblich an Fiktionalität und Magie gewonnen hat. Walter Eggers' Aufenthalt in Ostberlin ist das Herzstück des Buches. Dort stößt ihm vor unseren Augen das zu, was seiner Geliebten und zukünftigen Lebensgefährtin Frieda zeitgleich, quasi im Rücken der Handlung, allein zu Hause widerfährt: die tiefe Erschütterung des Gemüts.

"Eine sachte Stimme wohnte in ihr . . ." heißt es über Line Hübner, die Ostberliner Geliebte des Fernfahrers Karl Thumann, als der Erzähler sie an einem Autobahnabzweig vor Berlin kennenlernt. An den zwei folgenden Tagen berichtet Line ihrem Gast von ihren Erlebnissen bei Kriegsende. Sie war fünfzehn, als ihr schlesischer Heimatort im Frühjahr 1945 von der Roten Armee erobert und dann von zwangsumgesiedelten Polen in Besitz genommen wurde. Die Leidensgeschichte des fünfzehnjährigen Mädchens wird uns in der Ich-Form erzählt. Eggers, der als Schmidtscher Protagonist mit nie nachlassendem Sprachfuror ein wahrhaft wuchtiges Ich vor uns aufgefahren hat, tritt zum ersten und zum einzigen Mal in den Hintergrund, um "die feine zerschrammte Stimme" Lines sprechen zu lassen.

Die Greuel, die Line gesehen und am eigenen Leib erfahren hat, liegen zehn Jahre zurück. Ihr Bericht ist knapp und unspektakulär. Und obwohl der Held des Romans kaum etwas dazu sagt, steht er, als der fiktive Vermittler ihrer Geschichte an den Leser, doch wie eine dünne mitschwingende Membran zwischen dem Schrecken der Vergangenheit und jeder folgenden Gegenwart. ". . . ich überlegte, ob es jetzt noch Zweck hätte, die Faust als Zeichen der Anteilnahme auf den Tisch zu legen, daß sich die Ecke bog", denkt Eggers, als Line von einer besonders demütigenden Leibesvisitation durch polnische Milizionäre berichtet.

Hier ist es, das Gefühl, das den kleinbürgerlich feigen und schlau berechnenden Eggers vor uns groß macht, das ihn für eine Weile auch emotional auf Augenhöhe mit seiner Wahrnehmung und auf die Höhe der Sprache bringt, die ihm der Autor leiht. Angst um den Geliebten, das war die Mutter von Frieda Thumanns stärksten Gefühlen. Der Schrecken der Anteilnahme ist der Vater der stärksten Affekte, zu der ihr Geliebter Walter Eggers fähig ist. Das Mitleid mit Line ist nicht billig zu haben. Es bedeutet zugleich die Erfahrung unerträglicher Ohnmacht und tiefer geschlechtlicher Beschämung: ". . . ich war ja auch n Mann!" Die Tischplatte, auf der die Faust des anteilnehmenden Eggers liegt, sie wird sich nicht mitfühlend biegen, allenfalls brechen könnte sie. Und Eggers' Herz? Wie sieht es mit dessen Elastizität aus?

"Haben Sie's auch mit n Herzen?" fragt Line am Ende ihres ersten Schreckensberichts und meint damit, leiblich konkret, die Herzschmerzen, an denen sie leidet und die sie auch Eggers ansieht. Über diese Spontandiagnose hinaus ist sie wohl die einzige Figur des Romans, die den Helden ein Stück weit durchschaut. Seine Fähigkeit zur mitleidenden Zeitgenossenschaft treibt unseren Helden zu den hart gebundenen statistischen Jahrbüchern eines untergegangenen Staates. Aber das soll nach Möglichkeit keiner wissen. Frieda nicht und auch Line nicht. Ja, selbst vor den zeitgenössischen und den zukünftigen Lesern scheint es klüger, ein steinernes Herz vorzutäuschen, als ein goldenes preiszugeben.

Ganz sicher kann einer wie Eggers allerdings nicht einmal bei seinen Büchern sein. Auch in den sachlichsten Texten ist wie ein getrockneter Extrakt, wie jener Nescafé, der Eggers' Herz allmählich ruiniert, menschliches Dasein und damit erzähltes Leid zu finden. Wer groß im Lesen ist, liest den Schmerz der Menschen sogar aus einer Statistik, und Walter Eggers ist ein Riese unter den Lesern. Eine der vielen anrührenden Stellen der Ostzonen-Reise faßt Eggers' Gefühl für Line in ein Buch-Bild: "Lines broschierte Lieblichkeit . . ." Und der Autor? Wo ist der siamesische Zwilling des Helden hingekommen, als dieser mit Linie im seltsamen Zwischenreich der Ostzone ein paar Worte lang glücklich ist?

Diesem Autor, dem sonst mit fast jedem Satz auftrumpfenden Wortspieler, gelingt hier das subtile Kunststück, sich mit Worten unsichtbar zu machen. Danach, im dritten Teil des Romans, wird er erneut riesenhaft sprachstark neben seinem Erzähler stehen. Ganz zuletzt, wieder in Ahlden, beim ersten gemeinsamen Spaziergang, den die nun endgültig neuformierten Paare Walter/Frieda und Karl/Line "in kalter Erotik" unternehmen, gibt Eggers im Tonfall blasierten Bescheidwissen einen Abriß des Lebens, das die Prinzessin von Ahlden als Staatsgefangene 32 Jahre lang im nahe gelegenen Schloß geführt hat. Auch dies ist eine Leidensgeschichte. Eggers schnurrt sie historisch versiert und kalt räsonierend herunter und wirft abschließend einen Blick auf Line, die ihm aufmerksam zugehört hat: ". . . das helle Mitleid rann ihr über die Backen herunter: war mirs so lacrymos geraten?"

Das ist mehr als zynisch, das ist hämisch gegen Line, grausam gegen den Leser und durch den Lesenden hindurch hartherzig gegen jenen Eggers, den wir in der Ostzone kennenlernen durften. Das sentimentale Attentat ist ja gelungen. Was uns als historischer Roman ans Herz gelegt wurde, hat uns als empfindsamer Roman erschüttert. Ausgerechnet über einem Buch aus dem Jahre 1954 sind wir gleich Line "gegenwartsdankbar" geworden.

"Achduliebergott! Kennen die Leute denn nicht die glasglühenden Leidenschaften des Geistes??: wenn ich dem Bruder Jansen, dem statistischen Zahlenriesen nachspüre? noch halte ich seine Arbeit von 1924 in der klapprigen Hand!" So hatte der Held eingangs gefragt. Nein, müssen wir ihm zuletzt leider Gottes antworten, nein, diese Leidenschaften kennen wir nicht. Und doch haben wir, wenn wir "Das Steinerne Herz" aus der Hand legen, über ein halbes Jahrhundert hinweg etwas Vergleichbares gespürt. Denn wir haben einen Riesen unserer Sprache - ach, ohne daß er unsere Anteilnahme hätte bemerken können! - weinen gesehen.

Georg Kleins Essay, der hier in gekürzter Form publiziert wird, erscheint Ende März in der Neuausgabe von "Das steinerne Herz" (Bibliothek Suhrkamp).

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