1949 flüchtet Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, nach Argentinien, um dort ein neues Leben anzufangen. In Buenos Aires trifft er auf zahlreiche Unterstützer, unter ihnen Diktator Perón. Doch der Mossad und Nazi-Jäger Simon Wiesenthal heften sich an seine Fersen und er muss aufs Land fliehen. Zunehmend isoliert, rettet er sich von Versteck zu Versteck, bis er 1979 bei einem Badeunfall ums Leben kommt. Guez schildert Mengeles Flucht rasant und packend wie einen Thriller. Es ist das faszinierende Porträt eines überzeugten Täters und das erschüttende Abbild einer internationalen Gemeinschaft, die kläglich versagte.Ungekürzte Lesung mit Burghart Klaußner5 CDs ca. 6 h 29 min
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2018Allzeit gewissenlos
Ein Mann ohne Menschlichkeit: Olivier Guez' fesselnder Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele"
Ein lauer Abend in der Pampa nahe Buenos Aires, Anfang der fünfziger Jahre, ein Zusammentreffen deutscher Auswanderer, die im Garten eines mit Eukalyptus und Akazien gesäumten Landguts Spanferkel braten, Bier trinken und die Zeiten, über die sie reden, keineswegs als die alten ablegen wollen. Von den vielen beklemmenden Szenen des Tatsachenromans "Das Verschwinden des Josef Mengele" ist diese eine der bittersten: Wie die Nazis, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland geflohen sind, ausgelassen ihre Erinnerungen aufleben lassen; an die verkohlten Gesichter und zerfetzten Uniformen von Stalins sibirischen Divisionen etwa und an ihre Macht. Sie glauben, mit der in Deutschland von den Alliierten verordneten Demokratie sei bald wieder Schluss. Die "Rückeroberung" der Heimat halten sie, die sich in Juan Peróns Argentinien niedergelassen haben, für greifbar. Bereitwillig, auch bewundernd recycelt der Präsident die entkommenen Nazi-Verbrecher - Ärzte, Ingenieure und Techniker - in seinem System. Es geht ihnen gut, sie feiern, und das Gefühl der Überlegenheit flirrt mit ums Feuer, während über ihnen eine Hitler-Büste prangt und "ein bisschen Farbe in den Garten" bringt. Unter den Gästen: Josef Mengele. Die Flucht aus Deutschland ist ihm gelungen, obwohl sein Name auf der amerikanischen Kriegsverbrecherliste steht.
Olivier Guez' Buch ist eine Kombination aus Fakten und Fiktion. Der 1974 geborene französische Autor schildert das innere Erleben des SS-Untersturmführers und Lagerarztes von Auschwitz ab dem Moment der Flucht aus Deutschland und führt es in einer beeindruckenden Montage mit zeithistorischem Material zu mehreren Handlungssträngen zusammen. Er komponiert daraus eine Geschichte, die sich erschütternd und spannungsreich zugleich liest. Den Mengele, der im Konzentrationslager, Melodien aus "Tosca" pfeifend, Hunderttausende in den Tod schickte, der besessen von seiner barbarischen Forschung Versuche an Menschen durchführte - an "verwendungsfähigem Menschenmaterial", das er aus den in Auschwitz ankommenden Zügen selektierte -, nimmt Guez nur vereinzelt in Rückblenden in den Blick. Aber genug, um in kühler Sprache das Bild eines Mannes ohne Menschlichkeit zu zeichnen, dessen Affekte sich nur um ihn selbst drehen und der Auschwitz mit der Erinnerung verbindet, dort im Herbst 1944 "zweite Flitterwochen" mit seiner Ehefrau Irene erlebt zu haben, während die Augen seiner Versuchsopfer wie Schmetterlinge an die Wand seines Arbeitszimmers gepinnt waren, die "Gaskammern auf Hochtouren liefen" und die SS-Leute Männer, Frauen und Kinder bei lebendigem Leibe in einer Grube verbrannten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versteckt sich Mengele zunächst für einige Jahre nahe seiner Heimatstadt Günzburg und hilft auf einem Bauernhof bei der Heuernte. 1949 überquert er dann die Dolomiten und flieht von Italien nach Argentinien, mit Reisepapieren, die ihn als Helmut Gregor ausgeben. Als "der kostbarste Ertrag jahrelanger Forschung" gilt ihm bei der Einreise nach Argentinien ein Koffer, den er mit sich führt, gefüllt mit "Injektionsspritzen, Heften mit Notizen und anatomischen Zeichnungen, Blutproben und Zellplättchen".
Guez' Protagonist Mengele bleibt während der 38 Jahre seiner Flucht geprägt von seinem Hunger nach Anerkennung, der Angst, entdeckt zu werden, und dem Irrsinn der "Rassenreinheit". An letzterer, der Vorstellung von Überlegenheit, hält der Geflohene selbst dann noch fest, als es die glamourösen Treffen der Nazis in Argentinien längst nicht mehr gibt, nachdem Perón seine Macht verloren hat und Mengele erst zunehmend isoliert in Paraguay abtaucht und sich schließlich tief im Dschungel Brasiliens verstecken muss. Dort lebt der Flüchtige in Abhängigkeit von den aus Ungarn stammenden Eigentümern einer einsam gelegenen Farm. Der Ehefrau muss Mengele, wenn ihr Mann nicht da ist, sexuell zur Verfügung stehen. Er quält dafür die Arbeiter auf den Feldern. Über niemand sonst hat er Macht und ergeht sich in Selbstmitleid darüber, dass ihm für die in Auschwitz begangenen Greuel nicht applaudiert wird, dass sie ihn nicht zum Star gemacht haben; ihn, der schon als Zehnjähriger verstanden zu haben glaubte, dass "Ärzte und Forscher die wahren Priester und Stars des 20. Jahrhunderts werden würden".
Mengele kennt nur sich selbst als Opfer. Immer wieder bemitleidet er sich auch dafür, dass er nicht in Deutschland weiterleben kann, so wie andere der zwanzig SS-Ärzte von Auschwitz, die Männer kastrierten und Frauen Tierföten transplantierten oder sie mit Typhus infizierten und nach dem Krieg durch die Maschen der Justiz geschlüpft und wieder zurückgekehrt waren in die Zivilgesellschaft und in ihre Familien.
So abgestoßen man von Mengele ist - und in diesem Sinne ist Guez auch ein Risiko eingegangen, den Flüchtigen zum Protagonisten zu machen und seinem Denken und Fühlen so mikroskopisch nachzugehen -, so beeindruckend gelingt es dem Autor zugleich, eben nicht nur Mengeles Leben zu erzählen, sondern die universelle Geschichte, wie Ideologie zur Rechtfertigung jedes Zivilisationsbruchs werden kann. Guez fächert die inneren Prozesse auf, mit denen die Fragen nach Verantwortung und Schuld in Mengele bis zum Schluss nicht durchdringen. In seiner Logik kann jede Unmenschlichkeit für notwendig erklärt werden, und er stützt diese Logik nicht allein, auch deshalb funktioniert sie. "Er habe nur seine Pflicht getan", sagt Mengeles Vater Karl senior einmal zu ihm, "so einfach ist das." Jede andere Sichtweise als die eigene ist in den Augen des Flüchtigen eine verzerrte Darstellung der Realität, Verleumdung, Fake News.
Josef Mengeles Verschwinden ist auch die Geschichte seiner aktiven und passiven Helfer. Unbehelligt von juristischen Ermittlungen lebt der Flüchtige während der ersten Jahre in Buenos Aires. Die deutsche Botschaft vor Ort unternimmt nichts gegen ihn. Sie stellt ihm, als er sich von seiner ersten Frau Irene scheiden lässt, sogar die Urkunde aus - unter seinem echten Namen. Ein alter Freund von Mengeles Vater, Hans Sedlmeier, und diverse zwischengeschaltete Anwälte haben dabei ihre Hände im Spiel, um möglichst viele Schutzschilde zwischen der deutschen Justiz und dem Flüchtigen zu schaffen. 1956 reist Gregor/Mengele sogar noch zurück nach Europa, erst in die Schweiz und dann nach Günzburg.
Bezeichnend ist die Szene, in der sein Vater ihm die Nerven stärkt, dass er sich hier zu Hause fühlen und keine Angst haben müsse, aufzufliegen. Keiner werde es wagen, den Sohn vom Chef anzuzeigen. Er sei der wichtigste Arbeitgeber der Region, kein Unternehmen größer als das der Mengeles, das Landwirtschaftsmaschinen herstellt. Und als die Polizei doch zufällig auf Gregor/Mengele aufmerksam wird, regeln Mengele senior und Sedlmeier die Angelegenheit mit Bier und Bestechungsgeld. Beide verbindet das fehlende Gewissen und letztlich die Weigerung, die neue Zeit, die Verpflichtung der Bürger gegenüber ihrem Rechtsstaat, zur Kenntnis zu nehmen. Die Erträge des Wirtschaftswunders, die ihnen so willkommen sind, werden auch zur Finanzierung des Flüchtigen verwendet. Die deutsche Justiz interessiert sich erst 1959 für den Lagerarzt von Auschwitz und erlässt einen Haftbefehl gegen ihn.
Gegen Ende der fünfziger Jahre kommt der Mossad dem flüchtigen Mengele auf die Spur. Zunächst gilt die Aufmerksamkeit des israelischen Geheimdienstes Adolf Eichmann, dem bürokratischen Kopf der SS für die Verfolgung und Deportation von sechs Millionen Menschen. Im Juli 1950 war er in Argentinien unter dem Decknamen Ricardo Klement eingetroffen. 1957 war Eichmann in Buenos Aires von einem nach Argentinien geflohenen deutschen Juden erkannt worden, der den hessischen Generalstaatsanwalt Fitz Bauer informierte. Der leitet den Hinweis diskret an den Mossad weiter. 1960 wird Eichmann schließlich von Agenten entführt, nach Israel gebracht und im Dezember 1961 zum Tode verurteilt. In demselben Flugzeug, in dem Eichmann von den Agenten nach Israel gebracht wurde, sollte eigentlich auch Mengele sitzen; auch er sollte entführt werden. Mengele aber ist zu dem Zeitpunkt schon nach Paraguay geflohen. Von dort flieht er schließlich nach Brasilien. Einer seiner Sympathisanten hat ihm eine Pistole und einen Pass auf den Namen Peter Hochbichler besorgt. Im Frühjahr 1962 spüren Mossad-Agenten Mengele dann in Brasilien auf. Im nächsten Schritt soll - wie im Falle Eichmanns - seine Entführung geplant werden, doch plötzlich erhalten die Agenten keine Freigabe für den Zugriff, weil sie für einen anderen Fall abgezogen werden. Erst Jahre später geht die Suche weiter.
Immer wieder ist es das Geld der Mengele-Familie aus Deutschland, das dem Geflohenen hilft, seine Haut zu retten und von Versteck zu Versteck zu kommen. Sie - vor allem Karl Mengele senior zu Lebzeiten - agiert dabei ebenso kalt wie Josef Mengele: Gäbe es in der Öffentlichkeit Aufsehen um den Nazi-Verwandten, gar einen Prozess gegen ihn, nähme das Familienunternehmen Schaden. Deshalb versiegt der Geldstrom nach Südamerika nicht, deshalb wird Sedlmeier regelmäßig vorgeschickt, damit Mengele nicht die Nerven verliert.
Mengeles Angst vor dem israelischen Geheimdienst steigert sich über die Jahre immer weiter ebenso wie die, von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer aufgespürt zu werden.
Olivier Guez, der in Frankreich letztes Jahr für "Das Verschwinden des Josef Mengele" den Prix Renaudot erhielt und mit Lars Kraume das Drehbuch zu dem vielfach ausgezeichneten Film "Der Staat gegen Fritz Bauer" schrieb, erzählt fesselnd nicht nur von dem immer paranoider werdenden Mengele und dessen aktiven Unterstützern, sondern auch von den vielen anderen, die sich nicht um das größere Bild kümmerten, nicht um den Zustand der Gesellschaft, in der sie lebten. Zum Beispiel, weil sie für den Vater eines flüchtigen Nazis arbeiteten. Oder weil das eigene Leben in ihren Augen gerade dringendere Probleme bereithielt, als zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Gespenstisch lesen sich diese Passagen, weil dieses Desinteresse nicht vollends vergangen scheint.
Gregor/Mengele stirbt 1979, er ertrinkt. Für seine Verbrechen wird der berüchtigte KZ-Arzt nie vor Gericht gestellt.
ANNE AMERI-SIEMENS
Olivier Guez: "Das Verschwinden des Josef Mengele". Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau-Verlag, 224 Seiten, 20 Euro
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Ein Mann ohne Menschlichkeit: Olivier Guez' fesselnder Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele"
Ein lauer Abend in der Pampa nahe Buenos Aires, Anfang der fünfziger Jahre, ein Zusammentreffen deutscher Auswanderer, die im Garten eines mit Eukalyptus und Akazien gesäumten Landguts Spanferkel braten, Bier trinken und die Zeiten, über die sie reden, keineswegs als die alten ablegen wollen. Von den vielen beklemmenden Szenen des Tatsachenromans "Das Verschwinden des Josef Mengele" ist diese eine der bittersten: Wie die Nazis, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland geflohen sind, ausgelassen ihre Erinnerungen aufleben lassen; an die verkohlten Gesichter und zerfetzten Uniformen von Stalins sibirischen Divisionen etwa und an ihre Macht. Sie glauben, mit der in Deutschland von den Alliierten verordneten Demokratie sei bald wieder Schluss. Die "Rückeroberung" der Heimat halten sie, die sich in Juan Peróns Argentinien niedergelassen haben, für greifbar. Bereitwillig, auch bewundernd recycelt der Präsident die entkommenen Nazi-Verbrecher - Ärzte, Ingenieure und Techniker - in seinem System. Es geht ihnen gut, sie feiern, und das Gefühl der Überlegenheit flirrt mit ums Feuer, während über ihnen eine Hitler-Büste prangt und "ein bisschen Farbe in den Garten" bringt. Unter den Gästen: Josef Mengele. Die Flucht aus Deutschland ist ihm gelungen, obwohl sein Name auf der amerikanischen Kriegsverbrecherliste steht.
Olivier Guez' Buch ist eine Kombination aus Fakten und Fiktion. Der 1974 geborene französische Autor schildert das innere Erleben des SS-Untersturmführers und Lagerarztes von Auschwitz ab dem Moment der Flucht aus Deutschland und führt es in einer beeindruckenden Montage mit zeithistorischem Material zu mehreren Handlungssträngen zusammen. Er komponiert daraus eine Geschichte, die sich erschütternd und spannungsreich zugleich liest. Den Mengele, der im Konzentrationslager, Melodien aus "Tosca" pfeifend, Hunderttausende in den Tod schickte, der besessen von seiner barbarischen Forschung Versuche an Menschen durchführte - an "verwendungsfähigem Menschenmaterial", das er aus den in Auschwitz ankommenden Zügen selektierte -, nimmt Guez nur vereinzelt in Rückblenden in den Blick. Aber genug, um in kühler Sprache das Bild eines Mannes ohne Menschlichkeit zu zeichnen, dessen Affekte sich nur um ihn selbst drehen und der Auschwitz mit der Erinnerung verbindet, dort im Herbst 1944 "zweite Flitterwochen" mit seiner Ehefrau Irene erlebt zu haben, während die Augen seiner Versuchsopfer wie Schmetterlinge an die Wand seines Arbeitszimmers gepinnt waren, die "Gaskammern auf Hochtouren liefen" und die SS-Leute Männer, Frauen und Kinder bei lebendigem Leibe in einer Grube verbrannten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versteckt sich Mengele zunächst für einige Jahre nahe seiner Heimatstadt Günzburg und hilft auf einem Bauernhof bei der Heuernte. 1949 überquert er dann die Dolomiten und flieht von Italien nach Argentinien, mit Reisepapieren, die ihn als Helmut Gregor ausgeben. Als "der kostbarste Ertrag jahrelanger Forschung" gilt ihm bei der Einreise nach Argentinien ein Koffer, den er mit sich führt, gefüllt mit "Injektionsspritzen, Heften mit Notizen und anatomischen Zeichnungen, Blutproben und Zellplättchen".
Guez' Protagonist Mengele bleibt während der 38 Jahre seiner Flucht geprägt von seinem Hunger nach Anerkennung, der Angst, entdeckt zu werden, und dem Irrsinn der "Rassenreinheit". An letzterer, der Vorstellung von Überlegenheit, hält der Geflohene selbst dann noch fest, als es die glamourösen Treffen der Nazis in Argentinien längst nicht mehr gibt, nachdem Perón seine Macht verloren hat und Mengele erst zunehmend isoliert in Paraguay abtaucht und sich schließlich tief im Dschungel Brasiliens verstecken muss. Dort lebt der Flüchtige in Abhängigkeit von den aus Ungarn stammenden Eigentümern einer einsam gelegenen Farm. Der Ehefrau muss Mengele, wenn ihr Mann nicht da ist, sexuell zur Verfügung stehen. Er quält dafür die Arbeiter auf den Feldern. Über niemand sonst hat er Macht und ergeht sich in Selbstmitleid darüber, dass ihm für die in Auschwitz begangenen Greuel nicht applaudiert wird, dass sie ihn nicht zum Star gemacht haben; ihn, der schon als Zehnjähriger verstanden zu haben glaubte, dass "Ärzte und Forscher die wahren Priester und Stars des 20. Jahrhunderts werden würden".
Mengele kennt nur sich selbst als Opfer. Immer wieder bemitleidet er sich auch dafür, dass er nicht in Deutschland weiterleben kann, so wie andere der zwanzig SS-Ärzte von Auschwitz, die Männer kastrierten und Frauen Tierföten transplantierten oder sie mit Typhus infizierten und nach dem Krieg durch die Maschen der Justiz geschlüpft und wieder zurückgekehrt waren in die Zivilgesellschaft und in ihre Familien.
So abgestoßen man von Mengele ist - und in diesem Sinne ist Guez auch ein Risiko eingegangen, den Flüchtigen zum Protagonisten zu machen und seinem Denken und Fühlen so mikroskopisch nachzugehen -, so beeindruckend gelingt es dem Autor zugleich, eben nicht nur Mengeles Leben zu erzählen, sondern die universelle Geschichte, wie Ideologie zur Rechtfertigung jedes Zivilisationsbruchs werden kann. Guez fächert die inneren Prozesse auf, mit denen die Fragen nach Verantwortung und Schuld in Mengele bis zum Schluss nicht durchdringen. In seiner Logik kann jede Unmenschlichkeit für notwendig erklärt werden, und er stützt diese Logik nicht allein, auch deshalb funktioniert sie. "Er habe nur seine Pflicht getan", sagt Mengeles Vater Karl senior einmal zu ihm, "so einfach ist das." Jede andere Sichtweise als die eigene ist in den Augen des Flüchtigen eine verzerrte Darstellung der Realität, Verleumdung, Fake News.
Josef Mengeles Verschwinden ist auch die Geschichte seiner aktiven und passiven Helfer. Unbehelligt von juristischen Ermittlungen lebt der Flüchtige während der ersten Jahre in Buenos Aires. Die deutsche Botschaft vor Ort unternimmt nichts gegen ihn. Sie stellt ihm, als er sich von seiner ersten Frau Irene scheiden lässt, sogar die Urkunde aus - unter seinem echten Namen. Ein alter Freund von Mengeles Vater, Hans Sedlmeier, und diverse zwischengeschaltete Anwälte haben dabei ihre Hände im Spiel, um möglichst viele Schutzschilde zwischen der deutschen Justiz und dem Flüchtigen zu schaffen. 1956 reist Gregor/Mengele sogar noch zurück nach Europa, erst in die Schweiz und dann nach Günzburg.
Bezeichnend ist die Szene, in der sein Vater ihm die Nerven stärkt, dass er sich hier zu Hause fühlen und keine Angst haben müsse, aufzufliegen. Keiner werde es wagen, den Sohn vom Chef anzuzeigen. Er sei der wichtigste Arbeitgeber der Region, kein Unternehmen größer als das der Mengeles, das Landwirtschaftsmaschinen herstellt. Und als die Polizei doch zufällig auf Gregor/Mengele aufmerksam wird, regeln Mengele senior und Sedlmeier die Angelegenheit mit Bier und Bestechungsgeld. Beide verbindet das fehlende Gewissen und letztlich die Weigerung, die neue Zeit, die Verpflichtung der Bürger gegenüber ihrem Rechtsstaat, zur Kenntnis zu nehmen. Die Erträge des Wirtschaftswunders, die ihnen so willkommen sind, werden auch zur Finanzierung des Flüchtigen verwendet. Die deutsche Justiz interessiert sich erst 1959 für den Lagerarzt von Auschwitz und erlässt einen Haftbefehl gegen ihn.
Gegen Ende der fünfziger Jahre kommt der Mossad dem flüchtigen Mengele auf die Spur. Zunächst gilt die Aufmerksamkeit des israelischen Geheimdienstes Adolf Eichmann, dem bürokratischen Kopf der SS für die Verfolgung und Deportation von sechs Millionen Menschen. Im Juli 1950 war er in Argentinien unter dem Decknamen Ricardo Klement eingetroffen. 1957 war Eichmann in Buenos Aires von einem nach Argentinien geflohenen deutschen Juden erkannt worden, der den hessischen Generalstaatsanwalt Fitz Bauer informierte. Der leitet den Hinweis diskret an den Mossad weiter. 1960 wird Eichmann schließlich von Agenten entführt, nach Israel gebracht und im Dezember 1961 zum Tode verurteilt. In demselben Flugzeug, in dem Eichmann von den Agenten nach Israel gebracht wurde, sollte eigentlich auch Mengele sitzen; auch er sollte entführt werden. Mengele aber ist zu dem Zeitpunkt schon nach Paraguay geflohen. Von dort flieht er schließlich nach Brasilien. Einer seiner Sympathisanten hat ihm eine Pistole und einen Pass auf den Namen Peter Hochbichler besorgt. Im Frühjahr 1962 spüren Mossad-Agenten Mengele dann in Brasilien auf. Im nächsten Schritt soll - wie im Falle Eichmanns - seine Entführung geplant werden, doch plötzlich erhalten die Agenten keine Freigabe für den Zugriff, weil sie für einen anderen Fall abgezogen werden. Erst Jahre später geht die Suche weiter.
Immer wieder ist es das Geld der Mengele-Familie aus Deutschland, das dem Geflohenen hilft, seine Haut zu retten und von Versteck zu Versteck zu kommen. Sie - vor allem Karl Mengele senior zu Lebzeiten - agiert dabei ebenso kalt wie Josef Mengele: Gäbe es in der Öffentlichkeit Aufsehen um den Nazi-Verwandten, gar einen Prozess gegen ihn, nähme das Familienunternehmen Schaden. Deshalb versiegt der Geldstrom nach Südamerika nicht, deshalb wird Sedlmeier regelmäßig vorgeschickt, damit Mengele nicht die Nerven verliert.
Mengeles Angst vor dem israelischen Geheimdienst steigert sich über die Jahre immer weiter ebenso wie die, von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer aufgespürt zu werden.
Olivier Guez, der in Frankreich letztes Jahr für "Das Verschwinden des Josef Mengele" den Prix Renaudot erhielt und mit Lars Kraume das Drehbuch zu dem vielfach ausgezeichneten Film "Der Staat gegen Fritz Bauer" schrieb, erzählt fesselnd nicht nur von dem immer paranoider werdenden Mengele und dessen aktiven Unterstützern, sondern auch von den vielen anderen, die sich nicht um das größere Bild kümmerten, nicht um den Zustand der Gesellschaft, in der sie lebten. Zum Beispiel, weil sie für den Vater eines flüchtigen Nazis arbeiteten. Oder weil das eigene Leben in ihren Augen gerade dringendere Probleme bereithielt, als zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Gespenstisch lesen sich diese Passagen, weil dieses Desinteresse nicht vollends vergangen scheint.
Gregor/Mengele stirbt 1979, er ertrinkt. Für seine Verbrechen wird der berüchtigte KZ-Arzt nie vor Gericht gestellt.
ANNE AMERI-SIEMENS
Olivier Guez: "Das Verschwinden des Josef Mengele". Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau-Verlag, 224 Seiten, 20 Euro
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»Ohne Schnörkel, ohne Sensationalismus, als hartnäckiger, unerbittlicher Fahnder auf den Spuren des Schlächters.« Transfuge »Olivier Guez meistert die herausragende Biographie einer Inkarnation des Bösen.« L'Humanité Dimanche