Eben noch kämpfte Alois Pokora im Weltkrieg. Dann erwacht er im Krankenhaus in Berlin - und die Welt ist eine andere: das Jahr 1918, der Kaiser geflohen, die alte Ordnung zerbricht. Der Bergmannssohn Alois, der Erste in der Familie mit Schulbildung, sehnt sich nach seiner Liebe Agnes - lässt sich aber bald von der soghaften neuen Freiheit erfassen, geistig, revolutionär, auch erotisch. Er gerät in die Berliner Halbwelt, schult für die dubiose «Baronin» eine Kampftruppe, trifft Rosa Luxemburg. Nach einer Schießerei mit Kaisertreuen rund ums Berliner Schloss kann er gerade noch heim ins verwunschene Schlesien flüchten. Wo sich ebenfalls alles verändert hat. Unerwartet muss Alois sich der eigenen Herkunft stellen - und steht endlich Agnes gegenüber. Doch Alois ist zwischen alle Fronten geraten.Mit weltmalerischer Wucht erzählt Szczepan Twardoch vom Weltkrieg und vom umstürzlerischen Berlin mit seinen Kaputten, Geschlagenen und den feierwütigen Überlebenden, den Umbrüchen, die bald ganz Europa erfassen. «Demut» ist ein gewaltiger Roman über einen Mann im Strudel der Zeit, der zwischen Emanzipation und Selbstzweifel steht und in einer explosiven, ungeheuer freien Epoche seinen Weg sucht.
Twardochs Stil ist expressiv, ja ekstatisch, aber zugleich auch kühl, kontrolliert und präzise ... Das Tolle am Roman ist, dass man diesem Autor alles zutraut. Süddeutsche Zeitung 20220531
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Christoph Bartmann gefällt die Unentschiedenheit von Szczepan Twardochs neuem Roman zwischen actionreichem Fantasiekino, freier Interpretation von Theweleits "Männerfantasien" und Gesellschaftskritik. Anregend scheint ihm, wie der Autor historische und soziale Realität mit Gedanken zu Klasse und Nation und brutaler Schützengrabenaction verschneidet. Dabei ist der Held, ein oberschlesischer Leutnant an der Front, bis zur Selbsterniedrigung verliebt! Wie der Autor all das unter einen Hut bringt und in einen expressiven wie präzisen Stil verpackt, findet Bartmann lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2022"Hier gehöre ich - leider - hin"
Der Schriftsteller Szczepan Twardoch ist schwer zu greifen, auch für sich selbst. Jetzt ist sein neuer Roman erschienen.
Es ist Sonntagmorgen, also Primetime für die Religion. Ein Gespräch mit dem polnischen Bestsellerautor Szczepan Twardoch passt dazu eigentlich nicht. Erstens ist er Atheist. Zweitens ist ein Treffen mit ihm keine Verabredung zum Glauben, sondern zum Zweifeln.
"Ich weiß es nicht": Wenn er diese Antwort gibt, klingt er am überzeugtesten. Dahinter steckt keine Ignoranz oder Lustlosigkeit, im Gegenteil. Fragt man Twardoch, wie eine Romanidee zu ihm kommt oder was seine Herkunft für ihn bedeutet, dann denkt er nach, seufzt und antwortet mit diesem Satz. Und holt dann doch weiter aus, um dieses Nichtwissen mit so vielen Ideen anzufüllen wie möglich. "Ich schreibe nur über Dinge, die ich nicht weiß", sagt er. "Der Roman ist eine Art, nach Antworten zu suchen. Ich finde sie meistens nicht, aber steige immer tiefer in die Frage ein."
Aus diesen Versuchen werden dicke Romane, bisher sind es neun, fünf davon ins Deutsche übersetzt. Der 1979 beim schlesischen Gliwice geborene Twardoch gehört zu den bekanntesten polnischsprachigen Schriftstellern. Die meisten seiner Protagonisten stolpern über die Kipppunkte der Geschichte: Der Boxer Jakub Shapiro ("Der Boxer", "Das schwarze Königreich") und der Leutnant Konstanty Willemann ("Morphin") taumeln durch das Warschau vor und nach Kriegsbeginn, immer geht es ums große Ganze. Wer bin ich? Wo ist mein Platz, gerade jetzt? Fragen, deren Antworten sich in einem Rausch von Drogen, Sex und Gewalt ins Unkenntliche verzerren.
So ähnlich ist es bei Alois Pokora, dem Protagonisten und Icherzähler in Twardochs neuem Roman "Demut". Pokora wird 1891 als Sohn eines Bergmanns geboren. Der Lebensweg der Söhne scheint Anfang des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet: erst der Krieg, mit Glück die Rückkehr nach Hause. Dann das Bergwerk, mit noch mehr Glück ein bescheidener Aufstieg in der Steigerhierarchie. Die Töchter sind kaum der Rede wert.
Für Alois kommt es anders. Der Dorfpfarrer sieht sein Potential, holt ihn aus dem Elternhaus, finanziert ihm das Gymnasium, bringt ihm Deutsch bei, bringt ihm Bücher. Eine Aufstiegsgeschichte? Keineswegs. Reiche Mitschüler schikanieren ihn, Teile seiner Familie sehen ihren "Lojzik" mit Stolz. Vor allem aber begegnet ihm Argwohn. Pokora passt nirgends mehr hinein und gerät nach seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg zwischen alle Fronten. Er wacht verwundet im Berliner Nachkriegschaos auf, findet zunächst Unterschlupf beim Spartakusbund, landet später bei Deutschnationalisten. Polnische Unabhängigkeitsbewegungen formieren sich, Schlesier pochen auf ihre Sprache. Und Pokora? Der ist verliebt, nein, besessen von einer reichen, mysteriösen Agnes. Nach deren Wunschvorstellung von ihm - oder was Alois dafür hält - richtet er seine Identität aus, egal ob auf Deutsch, Polnisch oder Schlesisch. Dass Agnes mit ihm spielt, ist ihm egal. Ihr schreibt er Briefe, für sie erniedrigt er sich. In diesen Passagen kommt man nicht nur Pokora nah, sondern auch der Idee, die für Twardoch das ganze Buch prägt: Würde und die Frage, was mit ihr passiert, wenn man sozial aufsteigt. "Ich frage mich, ob das geht", sagt er, "vor allem innerhalb einer Generation. Kann man die Bürde seines Arbeiterhintergrunds ablegen? Mein eigener Großvater war Bergmann, ich bin Autor. Mein Leben ist viel angenehmer, als seins es je war."
"Demut" reiht sich ein in einen Trend der Gegenwartsliteratur, in dem Milieuwechsel kritisch verarbeitet werden. Die Erzählung um Alois Pokora ist weder wütende Anklage im Stil von Édouard Louis' "Wer hat meinen Vater umgebracht?" noch distanzierte Beobachtung wie in Deniz Ohdes "Streulicht". Stattdessen begleiten Leser einen jungen Mann, der zwischen Travestielokal, Straßenkampf und Schützengraben herausfinden will, wer er ist.
Wem das Setting in "Babylon Berlin" zu dick aufgetragen ist, wird mit "Demut" eher keine Freude haben. Auch die politischen Umwälzungen verdrängen Pokoras Identitätskonflikt nicht, sind vielmehr Folie für seine gesellschaftliche und ethnische Heimatlosigkeit. Ein Glück, dass die Figur des Alois Pokora konfliktreich und durchdacht genug ist, dass sich knapp 460 Seiten anfühlen wie das Binge-Watching einer Serie mit perfektem Timing. "Demut" ist schnell erzählt, sprachlich überbordend und hervorragend übersetzt von Olaf Kühl.
Pokora und Twardoch teilen Eigenschaften. Sie kommen aus traditionellen Bergbaufamilien. Beide sitzen nach ihrem Schulabschluss nicht im Stollen, sondern brüten am Schreibtisch über philosophischen Texten. Beide sind Schlesier. Twardoch sagt dazu: "Ich bin kein Deutscher, auch wenn meine Großeltern oft Deutsch sprachen. Ich bin kein Pole, aber ich bin ein polnischer Autor. Ich kann keinen Roman auf Schlesisch schreiben."
Schlesien nennt Twardoch ein "nicht gerade interessantes Stück Europa", das heute im Südwesten Polens liegt und an die Tschechische Republik und die Oberlausitz grenzt. Es gehörte anteilig zu Österreich, der Tschechoslowakei, dem Deutschen Reich. Eine mit dem Ruhrgebiet vergleichbare Industrieregion, die jetzt vor einer Transformation steht und dem kohlefreundlichen Polen Kopfschmerzen bereitet. So wie manchen auch die regionalpatriotischen Schlesier selbst. Bei der polnischen Volkszählung 2011 kreuzten unter dem Feld "Nationalität" rund 840 000 Personen auch "Andere" an - und trugen "Schlesisch" ein. Das sind rund zwei Prozent der polnischen Gesamtbevölkerung.
Fragt man Twardoch, was diesen Teil seiner Identität ausmacht, antwortet er, sichtlich geplagt: "Ich weiß es nicht." Er reist viel, war in Asien, in den USA, hat eine Wohnung in Warschau, liebt Berlin. Doch bis heute lebt er im schlesischen Dorf Pilchowice und wird, wie er behauptet, vermutlich dort sterben.
"Alle meine Reisen handeln vom Zurückkehren. Nach ein paar Wochen verspüre ich eine Sehnsucht nach diesem, nun, hässlichen Ort. Schlesien ist hässlich. Und doch gehöre ich - leider - hierhin. Intellektuell bedeutet es nichts, aber emotional schon." Er denkt viel über diese Region nach, aus der seine Vorfahren seit mindestens 350 Jahren stammen. Damit kennt er sich aus, er ist "besessen" von seiner eigenen Familiengeschichte.
Was das Schlesische für ihn nicht bedeutet, kann er eher sagen: Schlesien ist kein Katalonien. Die Ansprüche der regionalen Aktivisten sind bescheiden. Sie wollen keine Unabhängigkeit von Polen, sondern die Anerkennung als ethnische Minderheit. In der Volkszählung das Kreuzchen bei "schlesisch" machen zu können würde bedeuten, dass Kinder Anspruch auf Unterricht in ihrer Erstsprache hätten. 2013 wurde das Anliegen zuletzt gerichtlich abgelehnt. So ausdrücklich wie diese Anerkennung unterstützt Twardoch kaum eine gesellschaftliche Angelegenheit. Gleichzeitig will er ihre Bedeutung nicht überschätzen: "Wir werden nicht unterdrückt. Die Generation meiner Eltern wurde in der Schule dafür geschlagen, als sie unsere Sprache sprach, aber die Zeiten sind vorbei."
Twardoch politisch zu verorten ist schwierig - und das nicht, weil er um deutliche Worte verlegen wäre. Scharf greift er Politiker und ihre Vorhaben auf seiner Facebook-Seite und in seinen Kolumnen an. Er flucht, er nennt Kaczynski einen "Opi mit zu viel Luft zwischen den Ohren", die oppositionelle "Bürgerplattform" kommt kaum besser weg. Einen anderen Parteivorsitzenden nennt er schlicht einen "Idioten".
Twardoch solidarisiert sich mit queeren Menschen und den Protesten gegen das Abtreibungsverbot, sieht in den polnischen Linken aber abgehobene Städter. Er verachtet den Nationalismus von Jaroslaw Kaczynski und seiner PiS - und weigert sich, die Anhänger dieser Partei pauschal zu verurteilen. Auch mit ihren Ansichten, findet Twardoch, sollten PiS-Wähler einen Platz in der polnischen Gesellschaft haben. Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, warum eine seiner früheren Kolumnen "bezpanski pisarz" hieß: der "herrenlose Schriftsteller".
Bei allen Gemeinsamkeiten ist das ein wichtiger Unterschied zwischen Twardoch und seinem Protagonisten Pokora: Beide sitzen von Geburt an zwischen den Stühlen, aber Pokora fällt permanent zwischen die Sitze. Twardoch balanciert und hat großen Spaß dabei. Dass ihm viele Menschen dabei zusehen und seine Standpunkte hitzig diskutieren: umso besser.
"Pokora" ist nicht nur der polnische Originaltitel und ein schlesischer Nachname, es ist auch das polnische Wort für Demut. Ob Alois Pokora wirklich ein demütiger oder einfach ein hilfloser Mensch ist, müssen Leser selbst entscheiden. Demut ist aber eine Eigenschaft, die Twardoch schätzt, weil er sie nicht hat: "Meine literarische Karriere basiert auf meinen schlechtesten Eigenschaften: Arroganz, Angeberei, Stolz. Ich bin eitel, wie jeder Künstler. Man muss es sein, um zu glauben, dass Menschen das lesen sollen, was du schreibst." In der polnischen Öffentlichkeit stimmen viele zu: Es gefällt ihnen nicht, dass Twardoch schnelle Autos fährt und im eleganten Dreiteiler vor ihnen posiert. Dass ein Schriftsteller, auch noch einer mit einer so barocken Sprache, sich für etwas derart Banales interessiert, befremdet viele. Auch die Idee, dass er - ganz das Landlust-Klischee - in friedlicher Kulisse seine epochalen Romane schreibt, zerstört er mit Begeisterung.
"Ich hasse es, zu schreiben", sagt er im Gespräch und wiederholt es noch zweimal. "Ich liebe es, mir Geschichten auszudenken, ich liebe es, ein fertiges Buch in der Hand zu halten. Alles dazwischen ist langweilig und furchtbar." Wer nur den Twardoch von den Promofotos kennt, könnte diese Aussagen für Koketterie halten. Aber an diesem Sonntagmorgen, an dem er statt eines Dreiteilers ein knallblaues T-Shirt trägt, wirkt er nahbar, offen. Er mag eitel sein, aber er hat schon recht damit: Neugierig macht er allemal.
In der aktuellen Weltlage haben Eitelkeiten für ihn allerdings keinen Platz. Vor einem Monat schrieb er hier in der F.A.S.: "Wir wissen nicht, wo die russischen Panzer anhalten werden, sobald sie sich einmal in Bewegung gesetzt haben. In Mariupol? In Kiew? In Lemberg? In Przemysl?" Damals hatte Deutschland das Genehmigungsverfahren für die Erdgaspipeline Nord Stream 2 noch nicht gestoppt, ein solcher Krieg schien vielen unvorstellbar. Keine zwei Wochen später fallen die ersten Bomben in Mariupol und Kiew. Hunderttausende stranden in Lemberg. Twardoch ist stark involviert in der Flüchtlingshilfe, will aber nicht ins Detail gehen. Er betont stattdessen die Bedeutung der Zivilgesellschaft: "Sie trägt eine schwere Last. Die Regierung beginnt erst, systematisch zu helfen. Alles, was bis jetzt geschah, geschah durch die Zeit, das Geld und den Willen normaler Bürger."
Seiner Meinung nach hat der Westen Putin zu lange hofiert, für militärische Investitionen sei es nun höchste Zeit. Mit dieser Haltung steht Twardoch nicht allein da. Der Ruf nach höheren Wehrausgaben, die in Deutschland eilig beschlossen wurden, stößt nicht nur im Baltikum, sondern auch in Polen auf breite Unterstützung.
Twardoch ist kein Nonkonformist aus Prinzip, kein Anti-Pokora. Wer von ihm liest, hört spitze Aussagen, sieht elegante Kleidung. Wer mit ihm spricht, hört einem Zweifler beim Denken zu, nie beim Predigen. Am Ende steht nicht immer eine Lösung, aber ein etwas weniger fremdes Problem. Dieser Prozess ist zwar anstrengend, aber immer noch besser als Schreiben.
SUSANNE ROMANOWSKI
Szczepan Twardoch: "Demut". Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 464 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schriftsteller Szczepan Twardoch ist schwer zu greifen, auch für sich selbst. Jetzt ist sein neuer Roman erschienen.
Es ist Sonntagmorgen, also Primetime für die Religion. Ein Gespräch mit dem polnischen Bestsellerautor Szczepan Twardoch passt dazu eigentlich nicht. Erstens ist er Atheist. Zweitens ist ein Treffen mit ihm keine Verabredung zum Glauben, sondern zum Zweifeln.
"Ich weiß es nicht": Wenn er diese Antwort gibt, klingt er am überzeugtesten. Dahinter steckt keine Ignoranz oder Lustlosigkeit, im Gegenteil. Fragt man Twardoch, wie eine Romanidee zu ihm kommt oder was seine Herkunft für ihn bedeutet, dann denkt er nach, seufzt und antwortet mit diesem Satz. Und holt dann doch weiter aus, um dieses Nichtwissen mit so vielen Ideen anzufüllen wie möglich. "Ich schreibe nur über Dinge, die ich nicht weiß", sagt er. "Der Roman ist eine Art, nach Antworten zu suchen. Ich finde sie meistens nicht, aber steige immer tiefer in die Frage ein."
Aus diesen Versuchen werden dicke Romane, bisher sind es neun, fünf davon ins Deutsche übersetzt. Der 1979 beim schlesischen Gliwice geborene Twardoch gehört zu den bekanntesten polnischsprachigen Schriftstellern. Die meisten seiner Protagonisten stolpern über die Kipppunkte der Geschichte: Der Boxer Jakub Shapiro ("Der Boxer", "Das schwarze Königreich") und der Leutnant Konstanty Willemann ("Morphin") taumeln durch das Warschau vor und nach Kriegsbeginn, immer geht es ums große Ganze. Wer bin ich? Wo ist mein Platz, gerade jetzt? Fragen, deren Antworten sich in einem Rausch von Drogen, Sex und Gewalt ins Unkenntliche verzerren.
So ähnlich ist es bei Alois Pokora, dem Protagonisten und Icherzähler in Twardochs neuem Roman "Demut". Pokora wird 1891 als Sohn eines Bergmanns geboren. Der Lebensweg der Söhne scheint Anfang des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet: erst der Krieg, mit Glück die Rückkehr nach Hause. Dann das Bergwerk, mit noch mehr Glück ein bescheidener Aufstieg in der Steigerhierarchie. Die Töchter sind kaum der Rede wert.
Für Alois kommt es anders. Der Dorfpfarrer sieht sein Potential, holt ihn aus dem Elternhaus, finanziert ihm das Gymnasium, bringt ihm Deutsch bei, bringt ihm Bücher. Eine Aufstiegsgeschichte? Keineswegs. Reiche Mitschüler schikanieren ihn, Teile seiner Familie sehen ihren "Lojzik" mit Stolz. Vor allem aber begegnet ihm Argwohn. Pokora passt nirgends mehr hinein und gerät nach seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg zwischen alle Fronten. Er wacht verwundet im Berliner Nachkriegschaos auf, findet zunächst Unterschlupf beim Spartakusbund, landet später bei Deutschnationalisten. Polnische Unabhängigkeitsbewegungen formieren sich, Schlesier pochen auf ihre Sprache. Und Pokora? Der ist verliebt, nein, besessen von einer reichen, mysteriösen Agnes. Nach deren Wunschvorstellung von ihm - oder was Alois dafür hält - richtet er seine Identität aus, egal ob auf Deutsch, Polnisch oder Schlesisch. Dass Agnes mit ihm spielt, ist ihm egal. Ihr schreibt er Briefe, für sie erniedrigt er sich. In diesen Passagen kommt man nicht nur Pokora nah, sondern auch der Idee, die für Twardoch das ganze Buch prägt: Würde und die Frage, was mit ihr passiert, wenn man sozial aufsteigt. "Ich frage mich, ob das geht", sagt er, "vor allem innerhalb einer Generation. Kann man die Bürde seines Arbeiterhintergrunds ablegen? Mein eigener Großvater war Bergmann, ich bin Autor. Mein Leben ist viel angenehmer, als seins es je war."
"Demut" reiht sich ein in einen Trend der Gegenwartsliteratur, in dem Milieuwechsel kritisch verarbeitet werden. Die Erzählung um Alois Pokora ist weder wütende Anklage im Stil von Édouard Louis' "Wer hat meinen Vater umgebracht?" noch distanzierte Beobachtung wie in Deniz Ohdes "Streulicht". Stattdessen begleiten Leser einen jungen Mann, der zwischen Travestielokal, Straßenkampf und Schützengraben herausfinden will, wer er ist.
Wem das Setting in "Babylon Berlin" zu dick aufgetragen ist, wird mit "Demut" eher keine Freude haben. Auch die politischen Umwälzungen verdrängen Pokoras Identitätskonflikt nicht, sind vielmehr Folie für seine gesellschaftliche und ethnische Heimatlosigkeit. Ein Glück, dass die Figur des Alois Pokora konfliktreich und durchdacht genug ist, dass sich knapp 460 Seiten anfühlen wie das Binge-Watching einer Serie mit perfektem Timing. "Demut" ist schnell erzählt, sprachlich überbordend und hervorragend übersetzt von Olaf Kühl.
Pokora und Twardoch teilen Eigenschaften. Sie kommen aus traditionellen Bergbaufamilien. Beide sitzen nach ihrem Schulabschluss nicht im Stollen, sondern brüten am Schreibtisch über philosophischen Texten. Beide sind Schlesier. Twardoch sagt dazu: "Ich bin kein Deutscher, auch wenn meine Großeltern oft Deutsch sprachen. Ich bin kein Pole, aber ich bin ein polnischer Autor. Ich kann keinen Roman auf Schlesisch schreiben."
Schlesien nennt Twardoch ein "nicht gerade interessantes Stück Europa", das heute im Südwesten Polens liegt und an die Tschechische Republik und die Oberlausitz grenzt. Es gehörte anteilig zu Österreich, der Tschechoslowakei, dem Deutschen Reich. Eine mit dem Ruhrgebiet vergleichbare Industrieregion, die jetzt vor einer Transformation steht und dem kohlefreundlichen Polen Kopfschmerzen bereitet. So wie manchen auch die regionalpatriotischen Schlesier selbst. Bei der polnischen Volkszählung 2011 kreuzten unter dem Feld "Nationalität" rund 840 000 Personen auch "Andere" an - und trugen "Schlesisch" ein. Das sind rund zwei Prozent der polnischen Gesamtbevölkerung.
Fragt man Twardoch, was diesen Teil seiner Identität ausmacht, antwortet er, sichtlich geplagt: "Ich weiß es nicht." Er reist viel, war in Asien, in den USA, hat eine Wohnung in Warschau, liebt Berlin. Doch bis heute lebt er im schlesischen Dorf Pilchowice und wird, wie er behauptet, vermutlich dort sterben.
"Alle meine Reisen handeln vom Zurückkehren. Nach ein paar Wochen verspüre ich eine Sehnsucht nach diesem, nun, hässlichen Ort. Schlesien ist hässlich. Und doch gehöre ich - leider - hierhin. Intellektuell bedeutet es nichts, aber emotional schon." Er denkt viel über diese Region nach, aus der seine Vorfahren seit mindestens 350 Jahren stammen. Damit kennt er sich aus, er ist "besessen" von seiner eigenen Familiengeschichte.
Was das Schlesische für ihn nicht bedeutet, kann er eher sagen: Schlesien ist kein Katalonien. Die Ansprüche der regionalen Aktivisten sind bescheiden. Sie wollen keine Unabhängigkeit von Polen, sondern die Anerkennung als ethnische Minderheit. In der Volkszählung das Kreuzchen bei "schlesisch" machen zu können würde bedeuten, dass Kinder Anspruch auf Unterricht in ihrer Erstsprache hätten. 2013 wurde das Anliegen zuletzt gerichtlich abgelehnt. So ausdrücklich wie diese Anerkennung unterstützt Twardoch kaum eine gesellschaftliche Angelegenheit. Gleichzeitig will er ihre Bedeutung nicht überschätzen: "Wir werden nicht unterdrückt. Die Generation meiner Eltern wurde in der Schule dafür geschlagen, als sie unsere Sprache sprach, aber die Zeiten sind vorbei."
Twardoch politisch zu verorten ist schwierig - und das nicht, weil er um deutliche Worte verlegen wäre. Scharf greift er Politiker und ihre Vorhaben auf seiner Facebook-Seite und in seinen Kolumnen an. Er flucht, er nennt Kaczynski einen "Opi mit zu viel Luft zwischen den Ohren", die oppositionelle "Bürgerplattform" kommt kaum besser weg. Einen anderen Parteivorsitzenden nennt er schlicht einen "Idioten".
Twardoch solidarisiert sich mit queeren Menschen und den Protesten gegen das Abtreibungsverbot, sieht in den polnischen Linken aber abgehobene Städter. Er verachtet den Nationalismus von Jaroslaw Kaczynski und seiner PiS - und weigert sich, die Anhänger dieser Partei pauschal zu verurteilen. Auch mit ihren Ansichten, findet Twardoch, sollten PiS-Wähler einen Platz in der polnischen Gesellschaft haben. Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, warum eine seiner früheren Kolumnen "bezpanski pisarz" hieß: der "herrenlose Schriftsteller".
Bei allen Gemeinsamkeiten ist das ein wichtiger Unterschied zwischen Twardoch und seinem Protagonisten Pokora: Beide sitzen von Geburt an zwischen den Stühlen, aber Pokora fällt permanent zwischen die Sitze. Twardoch balanciert und hat großen Spaß dabei. Dass ihm viele Menschen dabei zusehen und seine Standpunkte hitzig diskutieren: umso besser.
"Pokora" ist nicht nur der polnische Originaltitel und ein schlesischer Nachname, es ist auch das polnische Wort für Demut. Ob Alois Pokora wirklich ein demütiger oder einfach ein hilfloser Mensch ist, müssen Leser selbst entscheiden. Demut ist aber eine Eigenschaft, die Twardoch schätzt, weil er sie nicht hat: "Meine literarische Karriere basiert auf meinen schlechtesten Eigenschaften: Arroganz, Angeberei, Stolz. Ich bin eitel, wie jeder Künstler. Man muss es sein, um zu glauben, dass Menschen das lesen sollen, was du schreibst." In der polnischen Öffentlichkeit stimmen viele zu: Es gefällt ihnen nicht, dass Twardoch schnelle Autos fährt und im eleganten Dreiteiler vor ihnen posiert. Dass ein Schriftsteller, auch noch einer mit einer so barocken Sprache, sich für etwas derart Banales interessiert, befremdet viele. Auch die Idee, dass er - ganz das Landlust-Klischee - in friedlicher Kulisse seine epochalen Romane schreibt, zerstört er mit Begeisterung.
"Ich hasse es, zu schreiben", sagt er im Gespräch und wiederholt es noch zweimal. "Ich liebe es, mir Geschichten auszudenken, ich liebe es, ein fertiges Buch in der Hand zu halten. Alles dazwischen ist langweilig und furchtbar." Wer nur den Twardoch von den Promofotos kennt, könnte diese Aussagen für Koketterie halten. Aber an diesem Sonntagmorgen, an dem er statt eines Dreiteilers ein knallblaues T-Shirt trägt, wirkt er nahbar, offen. Er mag eitel sein, aber er hat schon recht damit: Neugierig macht er allemal.
In der aktuellen Weltlage haben Eitelkeiten für ihn allerdings keinen Platz. Vor einem Monat schrieb er hier in der F.A.S.: "Wir wissen nicht, wo die russischen Panzer anhalten werden, sobald sie sich einmal in Bewegung gesetzt haben. In Mariupol? In Kiew? In Lemberg? In Przemysl?" Damals hatte Deutschland das Genehmigungsverfahren für die Erdgaspipeline Nord Stream 2 noch nicht gestoppt, ein solcher Krieg schien vielen unvorstellbar. Keine zwei Wochen später fallen die ersten Bomben in Mariupol und Kiew. Hunderttausende stranden in Lemberg. Twardoch ist stark involviert in der Flüchtlingshilfe, will aber nicht ins Detail gehen. Er betont stattdessen die Bedeutung der Zivilgesellschaft: "Sie trägt eine schwere Last. Die Regierung beginnt erst, systematisch zu helfen. Alles, was bis jetzt geschah, geschah durch die Zeit, das Geld und den Willen normaler Bürger."
Seiner Meinung nach hat der Westen Putin zu lange hofiert, für militärische Investitionen sei es nun höchste Zeit. Mit dieser Haltung steht Twardoch nicht allein da. Der Ruf nach höheren Wehrausgaben, die in Deutschland eilig beschlossen wurden, stößt nicht nur im Baltikum, sondern auch in Polen auf breite Unterstützung.
Twardoch ist kein Nonkonformist aus Prinzip, kein Anti-Pokora. Wer von ihm liest, hört spitze Aussagen, sieht elegante Kleidung. Wer mit ihm spricht, hört einem Zweifler beim Denken zu, nie beim Predigen. Am Ende steht nicht immer eine Lösung, aber ein etwas weniger fremdes Problem. Dieser Prozess ist zwar anstrengend, aber immer noch besser als Schreiben.
SUSANNE ROMANOWSKI
Szczepan Twardoch: "Demut". Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 464 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Großes historisches Panorama. Neue Zürcher Zeitung 20230318