»Jahrelang bin ich vor meiner Geschichte davongelaufen. Dann erfand ich sie neu.«
Für den Roman seiner Familie hat der Schauspieler Christian Berkel seinen Wurzeln nachgespürt. Er hat Archive besucht, Briefwechsel gelesen und Reisen unternommen. Entstanden ist ein großer Familienroman vor dem Hintergrund eines ganzen Jahrhunderts deutscher Geschichte, die Erzählung einer ungewöhnlichen Liebe.
»Wenn wieder einmal jemand fragt, wo es denn bleibt, das lebensgesättigte, große Epos über deutsche Geschichte, dann ist von jetzt an die Antwort: Hier ist es, Christian Berkel hat es geschrieben. Dieser Mann ist kein schreibender Schauspieler. Er ist Schriftsteller durch und durch. Und was für einer.« Daniel Kehlmann
Berlin 1932: Sala und Otto sind dreizehn und siebzehn Jahre alt, als sie sich ineinander verlieben. Er stammt aus der Arbeiterklasse, sie aus einer intellektuellen jüdischen Familie. 1938 muss Sala ihre deutsche Heimat verlassen, kommt bei ihrer jüdischen Tante in Paris unter, bis die Deutschen in Frankreich einmarschieren. Während Otto als Sanitätsarzt mit der Wehrmacht in den Krieg zieht, wird Sala bei einem Fluchtversuch verraten und in einem Lager in den Pyrenäen interniert. Dort stirbt man schnell an Hunger oder Seuchen, wer bis 1943 überlebt, wird nach Auschwitz deportiert. Sala hat Glück, sie wird in einen Zug nach Leipzig gesetzt und taucht unter. Kurz vor Kriegsende gerät Otto in russische Gefangenschaft, aus der er 1950 in das zerstörte Berlin zurückkehrt. Auch für Sala beginnt mit dem Frieden eine Odyssee, die sie bis nach Buenos Aires führt. Dort versucht sie, sich ein neues Leben aufzubauen, scheitert und kehrt zurück. Zehn Jahre lang haben sie einander nicht gesehen. Aber als Sala Ottos Namen im Telefonbuch sieht, weiß sie, dass sie ihn nie vergessen hat.
Mit großer Eleganz erzählt Christian Berkel den spannungsreichen Roman seiner Familie. Er führt über drei Generationen von Ascona, Berlin, Paris, Gurs und Moskau bis nach Buenos Aires. Am Ende steht die Geschichte zweier Liebender, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch ihr Leben lang nicht voneinander lassen.
Für den Roman seiner Familie hat der Schauspieler Christian Berkel seinen Wurzeln nachgespürt. Er hat Archive besucht, Briefwechsel gelesen und Reisen unternommen. Entstanden ist ein großer Familienroman vor dem Hintergrund eines ganzen Jahrhunderts deutscher Geschichte, die Erzählung einer ungewöhnlichen Liebe.
»Wenn wieder einmal jemand fragt, wo es denn bleibt, das lebensgesättigte, große Epos über deutsche Geschichte, dann ist von jetzt an die Antwort: Hier ist es, Christian Berkel hat es geschrieben. Dieser Mann ist kein schreibender Schauspieler. Er ist Schriftsteller durch und durch. Und was für einer.« Daniel Kehlmann
Berlin 1932: Sala und Otto sind dreizehn und siebzehn Jahre alt, als sie sich ineinander verlieben. Er stammt aus der Arbeiterklasse, sie aus einer intellektuellen jüdischen Familie. 1938 muss Sala ihre deutsche Heimat verlassen, kommt bei ihrer jüdischen Tante in Paris unter, bis die Deutschen in Frankreich einmarschieren. Während Otto als Sanitätsarzt mit der Wehrmacht in den Krieg zieht, wird Sala bei einem Fluchtversuch verraten und in einem Lager in den Pyrenäen interniert. Dort stirbt man schnell an Hunger oder Seuchen, wer bis 1943 überlebt, wird nach Auschwitz deportiert. Sala hat Glück, sie wird in einen Zug nach Leipzig gesetzt und taucht unter. Kurz vor Kriegsende gerät Otto in russische Gefangenschaft, aus der er 1950 in das zerstörte Berlin zurückkehrt. Auch für Sala beginnt mit dem Frieden eine Odyssee, die sie bis nach Buenos Aires führt. Dort versucht sie, sich ein neues Leben aufzubauen, scheitert und kehrt zurück. Zehn Jahre lang haben sie einander nicht gesehen. Aber als Sala Ottos Namen im Telefonbuch sieht, weiß sie, dass sie ihn nie vergessen hat.
Mit großer Eleganz erzählt Christian Berkel den spannungsreichen Roman seiner Familie. Er führt über drei Generationen von Ascona, Berlin, Paris, Gurs und Moskau bis nach Buenos Aires. Am Ende steht die Geschichte zweier Liebender, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch ihr Leben lang nicht voneinander lassen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.11.2018Der gute Deutsche
Christian Berkels Debütroman „Der Apfelbaum“ erzählt vom Leid seiner jüdischen Mutter im Nationalsozialismus.
Nazis aber tauchen nur am Rande auf. Verrutscht da gerade ein historisches Narrativ?
VON FELIX STEPHAN
Wenn erfolgreiche Schauspieler Bücher schreiben, geht das meist auf relativ unerhebliche Weise schief. Im Falle von Christian Berkels Roman „Der Apfelbaum“ aber liegt die Sache anders. Zum einen, weil Berkel tatsächlich eine bemerkenswerte Familiengeschichte vorzuweisen hat. Und zum anderen, weil die Erzählweise des Romans ein allgemeines Problem beleuchtet: Wie schreibt man heute in Deutschland über den Holocaust, ohne einerseits in sakraler Grausamkeitsehrfurcht zu erstarren und andererseits die historische Wahrheit zu überzuckern?
Die Handlung des Romans setzt ein während der Hyperinflation im Berlin der Zwanzigerjahre und mündet 400 Seiten später in ein Wiedersehen zweier Liebender am Kurfürstendamm der Fünfzigerjahre. Dazwischen liegen der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, den Berkels jüdische Mutter Sala teilweise in einem Lager, teilweise unter falscher Identität in Leipzig überlebt, während Otto, der Vater ihrer Tochter, in Russland der Wehrmacht als Sanitäter dient.
Berkels Familie, das muss man sagen, ist ein dankbarer Romanstoff. Sein Großvater gehörte zur ersten Generation der anarchistischen Nudisten auf dem Monte Veritá, lebte in einer Liebesbeziehung mit Erich Mühsam, therapierte Hermann Hesse. Seine Großmutter kämpfte mit den internationalen Brigaden in Spanien, seine Großtante lebte in Paris, lernte bei Hermès persönlich und kleidete in ihrer eigenen Boutique unter anderem die Duchess of Windsor ein.
Diesen Familienkosmos erzählt Berkel so souverän, dass man mitunter das Gefühl bekommt, es nicht mit einem Autor zu tun zuhaben, sondern mit einem writer’s room. Die Art, wie die verschiedenen Schauplätze anhand weniger geläufiger Charakteristika aufgezogen werden, die Dynamik der Dialoge, die Handlungsführung, das ist alles sauber ausgeführt und vielleicht etwas überproduziert. Der Roman liest sich wie der deutsche Oscar-Kandidat: Es gibt einen großen historischen Stoff, eine tapfere Protagonistin, die sich gegen Widerstände durchsetzen und Grenzen überwinden muss, und am Ende siegt die Liebe. Validiert wird dieser Plot dadurch, dass es sich wirklich so ereignet hat, dass Otto und Sala nach zehn Jahren Trennung tatsächlich wieder zusammengefunden haben. Der Roman denkt sich als großes Kino, und das ist immerhin selten in der deutschsprachigen Literatur. Wenn Saoirse Ronan in der Verfilmung die Hauptrolle spielen wollte, müsste sie lediglich ihre Performance aus „Brooklyn“ noch einmal abrufen.
Doch obwohl der Roman in der Vergangenheit spielt, ist er seltsam unhistorisch. Er erzählt seine Geschichte als Tragödie, aber weil tragisch nur das Unabwendbare ist, lenkt er den Blick ab vom Wirkungszusammenhang „Geschichte“. Er befragt seine Epoche weder geschichtsphilosophisch noch mentalitätsgeschichtlich. Er will weder wissen, wie es zu der Katastrophe kam, noch welche Ideologien, Sehnsüchte, Selbstauffassungen ihr vorausgegangen sind. Dabei ist er sich seiner Aufgabenstellung durchaus bewusst: Als Otto und Sala sich kennenlernen, hält Otto gerade ein Exemplar von Mommsens „Römischer Geschichte“ in der Hand.
Der Nationalsozialismus ist in diesem Roman schicksalhaft, er bricht in das Leben der Protagonisten eine wie eine Naturkatastrophe. Es gibt nur ein einziges Paar in diesem Roman, das sich als Nationalsozialisten begreift. Es besteht aus zwei kontrastierenden Nebenfiguren: Ottos missratener Schwester und ihrem stumpfen, grell unsympathischen Ehemann Günther. Kurz vor Schluss taucht noch ein Arzt auf, der sich, um sich angesichts des nahenden Kriegsendes zu retten, hilfsbereit zeigt, sofern er diese Hilfe schriftlich bestätigt bekommt. Ansonsten besteht das Personal aus Juden, Exilanten, Kommunisten, Anarchisten und sympathischen, integren Deutschen, die versuchen, aus ihrer misslichen Lage das Beste zu machen. Mit der historischen Wahrheit hat das indes wenig zu tun. Und ja, das muss es auch nicht, schließlich handelt es sich um einen Roman und nicht um eine historische Studie. Aber seit dem späten Welterfolg von Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ über ein deutsches Ehepaar, das im nationalsozialistischen Berlin Widerstand leistet, erlebt der gute Deutsche auch in der hiesigen Buchproduktion eine gewisse Renaissance, die immer auch das Risiko einer Täter-Opfer-Umkehr birgt. Schließlich waren es nicht die Deutschen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden und eine Epoche der Barbarei durchlebten. Sie waren es, die diese Barbarei über alle anderen gebracht haben.
Am stärksten sind bei Berkel deshalb jene Passagen, in denen er selbst als Figur auftaucht, in denen er seine betagte, mittlerweile recht vergessliche Mutter interviewt und in denen aus der historischen Weichzeichnung eine konkrete Selbstbefragung wird. An einer Stelle bezeichnet sich seine Mutter als „Halbjüdin“, woraufhin Berkel sie zurechtweist: „Halbjuden“ gebe es nur in den Nürnberger Rassengesetzen. Ihre Mutter sei Jüdin und folglich sei sie es auch. Sie werde ja wohl besser wissen, als was sie einst verfolgt worden sei, antwortet Berkels Mutter. Da blitzt kurz eine Perspektive auf, eine Frage an die Geschichte, an die identifikatorische Macht, die die Rassentheorie bis heute ausübt.
Es wird oft beklagt, dass die Kritische Theorie in Deutschland eine historische Erzählweise auf alle Zeit unmöglich gemacht habe, um die wir die anderen Länder bitterlich beneiden: die intelligente historische Unterhaltung, die opulente Apotheose unserer Ahnen. Bei Berkel sieht man nun beispielhaft, warum dieses Genre, wenn es in Deutschland entsteht, auch dann niemals völlig unschuldig sein kann, wenn es gut ausgeführt ist. Sobald es dem deutschen Publikum eine Opferidentifikation anbietet, gerät ein historisches Narrativ ins Rutschen. „Das hättest du sein können“, steht dort im Subtext, obwohl es auf die große Mehrheit des deutschen Lesepublikums schlicht nicht zutrifft. Mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit wäre es der Nazi-Schwager Günther gewesen.
Christian Berkel: Der Apfelbaum. Roman. Ullstein, Berlin 2018. 416 Seiten, 22 Euro.
Sein Großvater lebte mit
Erich Mühsam und
therapierte Hermann Hesse
Seit Falladas „Jeder stirbt für
sich allein“ ist der
„gute Deutsche“ wieder da
Jetzt auch Schriftsteller: der Schauspieler Christian Berkel.
Foto: Tobias hase/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christian Berkels Debütroman „Der Apfelbaum“ erzählt vom Leid seiner jüdischen Mutter im Nationalsozialismus.
Nazis aber tauchen nur am Rande auf. Verrutscht da gerade ein historisches Narrativ?
VON FELIX STEPHAN
Wenn erfolgreiche Schauspieler Bücher schreiben, geht das meist auf relativ unerhebliche Weise schief. Im Falle von Christian Berkels Roman „Der Apfelbaum“ aber liegt die Sache anders. Zum einen, weil Berkel tatsächlich eine bemerkenswerte Familiengeschichte vorzuweisen hat. Und zum anderen, weil die Erzählweise des Romans ein allgemeines Problem beleuchtet: Wie schreibt man heute in Deutschland über den Holocaust, ohne einerseits in sakraler Grausamkeitsehrfurcht zu erstarren und andererseits die historische Wahrheit zu überzuckern?
Die Handlung des Romans setzt ein während der Hyperinflation im Berlin der Zwanzigerjahre und mündet 400 Seiten später in ein Wiedersehen zweier Liebender am Kurfürstendamm der Fünfzigerjahre. Dazwischen liegen der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, den Berkels jüdische Mutter Sala teilweise in einem Lager, teilweise unter falscher Identität in Leipzig überlebt, während Otto, der Vater ihrer Tochter, in Russland der Wehrmacht als Sanitäter dient.
Berkels Familie, das muss man sagen, ist ein dankbarer Romanstoff. Sein Großvater gehörte zur ersten Generation der anarchistischen Nudisten auf dem Monte Veritá, lebte in einer Liebesbeziehung mit Erich Mühsam, therapierte Hermann Hesse. Seine Großmutter kämpfte mit den internationalen Brigaden in Spanien, seine Großtante lebte in Paris, lernte bei Hermès persönlich und kleidete in ihrer eigenen Boutique unter anderem die Duchess of Windsor ein.
Diesen Familienkosmos erzählt Berkel so souverän, dass man mitunter das Gefühl bekommt, es nicht mit einem Autor zu tun zuhaben, sondern mit einem writer’s room. Die Art, wie die verschiedenen Schauplätze anhand weniger geläufiger Charakteristika aufgezogen werden, die Dynamik der Dialoge, die Handlungsführung, das ist alles sauber ausgeführt und vielleicht etwas überproduziert. Der Roman liest sich wie der deutsche Oscar-Kandidat: Es gibt einen großen historischen Stoff, eine tapfere Protagonistin, die sich gegen Widerstände durchsetzen und Grenzen überwinden muss, und am Ende siegt die Liebe. Validiert wird dieser Plot dadurch, dass es sich wirklich so ereignet hat, dass Otto und Sala nach zehn Jahren Trennung tatsächlich wieder zusammengefunden haben. Der Roman denkt sich als großes Kino, und das ist immerhin selten in der deutschsprachigen Literatur. Wenn Saoirse Ronan in der Verfilmung die Hauptrolle spielen wollte, müsste sie lediglich ihre Performance aus „Brooklyn“ noch einmal abrufen.
Doch obwohl der Roman in der Vergangenheit spielt, ist er seltsam unhistorisch. Er erzählt seine Geschichte als Tragödie, aber weil tragisch nur das Unabwendbare ist, lenkt er den Blick ab vom Wirkungszusammenhang „Geschichte“. Er befragt seine Epoche weder geschichtsphilosophisch noch mentalitätsgeschichtlich. Er will weder wissen, wie es zu der Katastrophe kam, noch welche Ideologien, Sehnsüchte, Selbstauffassungen ihr vorausgegangen sind. Dabei ist er sich seiner Aufgabenstellung durchaus bewusst: Als Otto und Sala sich kennenlernen, hält Otto gerade ein Exemplar von Mommsens „Römischer Geschichte“ in der Hand.
Der Nationalsozialismus ist in diesem Roman schicksalhaft, er bricht in das Leben der Protagonisten eine wie eine Naturkatastrophe. Es gibt nur ein einziges Paar in diesem Roman, das sich als Nationalsozialisten begreift. Es besteht aus zwei kontrastierenden Nebenfiguren: Ottos missratener Schwester und ihrem stumpfen, grell unsympathischen Ehemann Günther. Kurz vor Schluss taucht noch ein Arzt auf, der sich, um sich angesichts des nahenden Kriegsendes zu retten, hilfsbereit zeigt, sofern er diese Hilfe schriftlich bestätigt bekommt. Ansonsten besteht das Personal aus Juden, Exilanten, Kommunisten, Anarchisten und sympathischen, integren Deutschen, die versuchen, aus ihrer misslichen Lage das Beste zu machen. Mit der historischen Wahrheit hat das indes wenig zu tun. Und ja, das muss es auch nicht, schließlich handelt es sich um einen Roman und nicht um eine historische Studie. Aber seit dem späten Welterfolg von Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ über ein deutsches Ehepaar, das im nationalsozialistischen Berlin Widerstand leistet, erlebt der gute Deutsche auch in der hiesigen Buchproduktion eine gewisse Renaissance, die immer auch das Risiko einer Täter-Opfer-Umkehr birgt. Schließlich waren es nicht die Deutschen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden und eine Epoche der Barbarei durchlebten. Sie waren es, die diese Barbarei über alle anderen gebracht haben.
Am stärksten sind bei Berkel deshalb jene Passagen, in denen er selbst als Figur auftaucht, in denen er seine betagte, mittlerweile recht vergessliche Mutter interviewt und in denen aus der historischen Weichzeichnung eine konkrete Selbstbefragung wird. An einer Stelle bezeichnet sich seine Mutter als „Halbjüdin“, woraufhin Berkel sie zurechtweist: „Halbjuden“ gebe es nur in den Nürnberger Rassengesetzen. Ihre Mutter sei Jüdin und folglich sei sie es auch. Sie werde ja wohl besser wissen, als was sie einst verfolgt worden sei, antwortet Berkels Mutter. Da blitzt kurz eine Perspektive auf, eine Frage an die Geschichte, an die identifikatorische Macht, die die Rassentheorie bis heute ausübt.
Es wird oft beklagt, dass die Kritische Theorie in Deutschland eine historische Erzählweise auf alle Zeit unmöglich gemacht habe, um die wir die anderen Länder bitterlich beneiden: die intelligente historische Unterhaltung, die opulente Apotheose unserer Ahnen. Bei Berkel sieht man nun beispielhaft, warum dieses Genre, wenn es in Deutschland entsteht, auch dann niemals völlig unschuldig sein kann, wenn es gut ausgeführt ist. Sobald es dem deutschen Publikum eine Opferidentifikation anbietet, gerät ein historisches Narrativ ins Rutschen. „Das hättest du sein können“, steht dort im Subtext, obwohl es auf die große Mehrheit des deutschen Lesepublikums schlicht nicht zutrifft. Mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit wäre es der Nazi-Schwager Günther gewesen.
Christian Berkel: Der Apfelbaum. Roman. Ullstein, Berlin 2018. 416 Seiten, 22 Euro.
Sein Großvater lebte mit
Erich Mühsam und
therapierte Hermann Hesse
Seit Falladas „Jeder stirbt für
sich allein“ ist der
„gute Deutsche“ wieder da
Jetzt auch Schriftsteller: der Schauspieler Christian Berkel.
Foto: Tobias hase/dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Was hält einen Menschen am Leben?
Der Schauspieler Christian Berkel hat für sein Romandebüt die Familiengeschichte durchforstet: Er erzählt eine dramatische Liebesgeschichte.
Von Melanie Mühl
Damit in der Buchhandlung beim Griff nach diesem Roman kein Missverständnis entsteht, damit also sofort klarwird, dass hier nicht lediglich ein bekannter Schauspieler - Christian Berkel - das Fach gewechselt und mal eben in die Tasten gegriffen hat, sondern wir es mit einem literarisch bedeutenden Wurf zu tun haben, springt Daniel Kehlmann in die Bresche: "Wenn wieder einmal jemand fragt, wo es denn bleibt, das lebensgesättigte, große Epos über deutsche Geschichte, dann ist von jetzt an die Antwort: Hier ist es, Christian Berkel hat es geschrieben", steht auf dem Cover des vierhundert Seiten dicken autobiographischen Romans "Der Apfelbaum". Berkel plus Kehlmann, das ist eine vielversprechende Vermarktungsstrategie, um sich im umkämpften Buchgeschäft zu behaupten.
Berkel, der in seinem Debüt den Familienbogen dramaturgisch gekonnt und geradezu leichthändig über drei Generationen spannt, hat seine Familiengeschichte jahrelang recherchiert und die entscheidenden Orte der Vergangenheit besucht. Er ist nach Ascona gereist, nach Lodz, Madrid und Paris. Er hat Archive durchforstet und Menschen befragt, vor allem seine 2011 verstorbene Mutter Sala Nohl, der die Demenz zusehends den klaren Blick in die Vergangenheit verschleierte. Wahrscheinlich hat Berkel die letzte Chance ergriffen, der eigenen Herkunft tiefer auf den Grund zu gehen. Als sechsjähriger Junge nämlich, die Familie saß gerade im Garten unter einem Apfelbaum beisammen, erfuhr er von seinen jüdischen Wurzeln. Und er erfuhr außerdem, dass er "nicht ganz" jüdisch war. Ein Schock für Berkel, der in einem Interview sagte, für ein Kind sei das, was nicht ganz ist, kaputt. Dieser frühe Identitätsbruch nagte an ihm und trieb ihn gleichzeitig an, mehr zu erfahren: über seine Urgroßeltern und Großeltern, über seine Eltern und über sich selbst.
Erzählerisch nähert sich Berkel der Familiengeschichte als nicht müde werdender fragender Sohn. Die Besuche bei seiner Mutter in Spandau sowie die Recherchereisen bilden den Rahmen des Romans. Der Autor selbst spricht, zum Beispiel, als er herausfindet, dass sein Urgroßvater nicht wie gedacht der jüdische Stoffhändler Abraham Prussak gewesen ist. Und plötzlich zweifelt Berkel an allem, was er bisher für wirklich gehalten hatte. Was, wenn die Geister, die er rief, Furchtbares zutage fördern würden? "Was, wenn meine Vorfahren stramme Nationalsozialisten waren, die sich mit einer erfundenen Geschichte reinwaschen wollten?" Berkels größte Angst stellte sich als unbegründet heraus.
Sala Nohl, seine Mutter, geboren 1919 und als Halbjüdin in ihrer Berliner Heimat von den Nationalsozialisten verfolgt, war lange eine Flüchtende und zeitlebens eine Suchende und Liebende, die 1938 in Paris bei ihrer wohlhabenden jüdischen Tante Unterschlupf fand. Dort erhoffte sie sich eine Zukunft. Ein bisschen Freiheit, ein klein wenig Glück. "Das war keine Stadt, es war eine Welt. Alle bewegten sich anders, als sie es aus Deutschland kannte, Menschen küssten sich auf der Straße, lachten, sie wirkten auf natürliche Weise elegant." Sala studierte an der Sorbonne Französisch und Spanisch, doch das Weltgeschehen in seinen immer monströseren Ausmaßen vernichtete auf kurz oder lang alle hochfliegenden Pläne und jeden still geträumten Traum. Berkels Mutter wurde ins Internierungslager Gurs abtransportiert, in einen Vorort der Hölle. Der Tod war immer nur einen Wimpernschlag entfernt. Die Angst wurde zur ersten Natur. Beinahe zwei Jahre kämpfte Sala als Gefangene ums Überleben.
Was hält einen Menschen am Leben? Die Hoffnung ganz bestimmt. Der Glaube. Die Liebe vielleicht sowie die Sehnsucht nach dem anderen, wenn man denn eine Liebe hat. Sala hat eine: Sie liebt Otto Berkel, den sie seit Kindertagen kennt. Ein Deutscher, den der Lauf der Geschichte sowie die eigene Bereitschaft in die Wehrmachtsuniform zwängten. Er stammt aus dem Arbeitermilieu. In der Schule war er der Kleinste und Schwächste und musste viel zu früh lernen, wie man sich seinen Platz in einem Leben erkämpft, in dem es galt, Prügel zu beziehen oder Prügel auszuteilen. Dabei war sich Otto "nicht einmal sicher, ob er austeilen wollte, aber er wusste, dass er nicht mehr einstecken durfte". Dazu gehörte wohl auch ein Abrutschen in die Kriminalität. Ottos Überlebenskampf jedenfalls hätte sich nicht drastischer von Salas Welt unterscheiden können. Deren bisexueller Vater, ein Anarchist, hatte einige Zeit auf dem Monte Verità bei Ascona gelebt. Später, während der Berliner Jahre in einem herrschaftlichem Haus, gingen Berühmtheiten ein und aus: Thomas Mann, Hermann Hesse, Ernst Bloch. Und Salas Mutter? Hat Mann und Tochter verlassen und in Madrid gelebt.
Berkels Roman bezieht seine Stärke besonders aus jenen fiktiven Passagen, die einen zum mitfühlenden Begleiter von Sala und Otto machen. Ihr Sehnen und Hoffen, ihr Bangen und Verzweifeln scheinen die einzigen Konstanten zu sein. Als Otto aber als Sanitätsarzt der Wehrmacht in Russland in Kriegsgefangenschaft gerät, wird ein anderer aus ihm. Die Kälte bemächtigt sich seines Herzens. Nicht der Gedanke an Sala und die gemeinsame Tochter lässt ihn die Grausamkeit des Kriegs ertragen, sondern die Erkenntnis, dass nur der Tod Erlösung bringt. Die emotionale Abkühlung ändert indes nichts daran, dass Otto und Sala schicksalshaft aneinander gekettet bleiben.
Sobald Berkel aber als Berkel auftaucht und sich dozierend und reflektierend vor seine Protagonisten schiebt, wächst die Distanz. Einmal heißt es: "Irgendwann muss doch mal Schluss sein. In wie vielen Gesichtern steht stumm dieser Satz? ,Die Unfähigkeit zu trauern', der eindrückliche Titel des Buches von Alexander und Margarete Mitscherlich, das von der nachfolgenden Generation aufgesogen wurde, beklagt nicht nur die fehlende Trauerarbeit der Tätergeneration, es versteht sich als Aufforderung an nachfolgende Generationen, also auch an uns, Erinnerung zu wagen, um dem unbewussten Wiederholungszwang vorzubeugen." Mag sein, dass der Roman weniger gut funktionieren würde, verließe sein berühmter Autor als fragende Stimme die literarische Bühne komplett. Trotzdem klingen diese Einschübe bisweilen, als wollte "Der Apfelbaum" noch etwas anderes sein, als er in erster Linie ist: eine dramatische Liebes- und Familiengeschichte, hervorragend erzählt.
Christian Berkel: "Der Apfelbaum". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2018. 416 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schauspieler Christian Berkel hat für sein Romandebüt die Familiengeschichte durchforstet: Er erzählt eine dramatische Liebesgeschichte.
Von Melanie Mühl
Damit in der Buchhandlung beim Griff nach diesem Roman kein Missverständnis entsteht, damit also sofort klarwird, dass hier nicht lediglich ein bekannter Schauspieler - Christian Berkel - das Fach gewechselt und mal eben in die Tasten gegriffen hat, sondern wir es mit einem literarisch bedeutenden Wurf zu tun haben, springt Daniel Kehlmann in die Bresche: "Wenn wieder einmal jemand fragt, wo es denn bleibt, das lebensgesättigte, große Epos über deutsche Geschichte, dann ist von jetzt an die Antwort: Hier ist es, Christian Berkel hat es geschrieben", steht auf dem Cover des vierhundert Seiten dicken autobiographischen Romans "Der Apfelbaum". Berkel plus Kehlmann, das ist eine vielversprechende Vermarktungsstrategie, um sich im umkämpften Buchgeschäft zu behaupten.
Berkel, der in seinem Debüt den Familienbogen dramaturgisch gekonnt und geradezu leichthändig über drei Generationen spannt, hat seine Familiengeschichte jahrelang recherchiert und die entscheidenden Orte der Vergangenheit besucht. Er ist nach Ascona gereist, nach Lodz, Madrid und Paris. Er hat Archive durchforstet und Menschen befragt, vor allem seine 2011 verstorbene Mutter Sala Nohl, der die Demenz zusehends den klaren Blick in die Vergangenheit verschleierte. Wahrscheinlich hat Berkel die letzte Chance ergriffen, der eigenen Herkunft tiefer auf den Grund zu gehen. Als sechsjähriger Junge nämlich, die Familie saß gerade im Garten unter einem Apfelbaum beisammen, erfuhr er von seinen jüdischen Wurzeln. Und er erfuhr außerdem, dass er "nicht ganz" jüdisch war. Ein Schock für Berkel, der in einem Interview sagte, für ein Kind sei das, was nicht ganz ist, kaputt. Dieser frühe Identitätsbruch nagte an ihm und trieb ihn gleichzeitig an, mehr zu erfahren: über seine Urgroßeltern und Großeltern, über seine Eltern und über sich selbst.
Erzählerisch nähert sich Berkel der Familiengeschichte als nicht müde werdender fragender Sohn. Die Besuche bei seiner Mutter in Spandau sowie die Recherchereisen bilden den Rahmen des Romans. Der Autor selbst spricht, zum Beispiel, als er herausfindet, dass sein Urgroßvater nicht wie gedacht der jüdische Stoffhändler Abraham Prussak gewesen ist. Und plötzlich zweifelt Berkel an allem, was er bisher für wirklich gehalten hatte. Was, wenn die Geister, die er rief, Furchtbares zutage fördern würden? "Was, wenn meine Vorfahren stramme Nationalsozialisten waren, die sich mit einer erfundenen Geschichte reinwaschen wollten?" Berkels größte Angst stellte sich als unbegründet heraus.
Sala Nohl, seine Mutter, geboren 1919 und als Halbjüdin in ihrer Berliner Heimat von den Nationalsozialisten verfolgt, war lange eine Flüchtende und zeitlebens eine Suchende und Liebende, die 1938 in Paris bei ihrer wohlhabenden jüdischen Tante Unterschlupf fand. Dort erhoffte sie sich eine Zukunft. Ein bisschen Freiheit, ein klein wenig Glück. "Das war keine Stadt, es war eine Welt. Alle bewegten sich anders, als sie es aus Deutschland kannte, Menschen küssten sich auf der Straße, lachten, sie wirkten auf natürliche Weise elegant." Sala studierte an der Sorbonne Französisch und Spanisch, doch das Weltgeschehen in seinen immer monströseren Ausmaßen vernichtete auf kurz oder lang alle hochfliegenden Pläne und jeden still geträumten Traum. Berkels Mutter wurde ins Internierungslager Gurs abtransportiert, in einen Vorort der Hölle. Der Tod war immer nur einen Wimpernschlag entfernt. Die Angst wurde zur ersten Natur. Beinahe zwei Jahre kämpfte Sala als Gefangene ums Überleben.
Was hält einen Menschen am Leben? Die Hoffnung ganz bestimmt. Der Glaube. Die Liebe vielleicht sowie die Sehnsucht nach dem anderen, wenn man denn eine Liebe hat. Sala hat eine: Sie liebt Otto Berkel, den sie seit Kindertagen kennt. Ein Deutscher, den der Lauf der Geschichte sowie die eigene Bereitschaft in die Wehrmachtsuniform zwängten. Er stammt aus dem Arbeitermilieu. In der Schule war er der Kleinste und Schwächste und musste viel zu früh lernen, wie man sich seinen Platz in einem Leben erkämpft, in dem es galt, Prügel zu beziehen oder Prügel auszuteilen. Dabei war sich Otto "nicht einmal sicher, ob er austeilen wollte, aber er wusste, dass er nicht mehr einstecken durfte". Dazu gehörte wohl auch ein Abrutschen in die Kriminalität. Ottos Überlebenskampf jedenfalls hätte sich nicht drastischer von Salas Welt unterscheiden können. Deren bisexueller Vater, ein Anarchist, hatte einige Zeit auf dem Monte Verità bei Ascona gelebt. Später, während der Berliner Jahre in einem herrschaftlichem Haus, gingen Berühmtheiten ein und aus: Thomas Mann, Hermann Hesse, Ernst Bloch. Und Salas Mutter? Hat Mann und Tochter verlassen und in Madrid gelebt.
Berkels Roman bezieht seine Stärke besonders aus jenen fiktiven Passagen, die einen zum mitfühlenden Begleiter von Sala und Otto machen. Ihr Sehnen und Hoffen, ihr Bangen und Verzweifeln scheinen die einzigen Konstanten zu sein. Als Otto aber als Sanitätsarzt der Wehrmacht in Russland in Kriegsgefangenschaft gerät, wird ein anderer aus ihm. Die Kälte bemächtigt sich seines Herzens. Nicht der Gedanke an Sala und die gemeinsame Tochter lässt ihn die Grausamkeit des Kriegs ertragen, sondern die Erkenntnis, dass nur der Tod Erlösung bringt. Die emotionale Abkühlung ändert indes nichts daran, dass Otto und Sala schicksalshaft aneinander gekettet bleiben.
Sobald Berkel aber als Berkel auftaucht und sich dozierend und reflektierend vor seine Protagonisten schiebt, wächst die Distanz. Einmal heißt es: "Irgendwann muss doch mal Schluss sein. In wie vielen Gesichtern steht stumm dieser Satz? ,Die Unfähigkeit zu trauern', der eindrückliche Titel des Buches von Alexander und Margarete Mitscherlich, das von der nachfolgenden Generation aufgesogen wurde, beklagt nicht nur die fehlende Trauerarbeit der Tätergeneration, es versteht sich als Aufforderung an nachfolgende Generationen, also auch an uns, Erinnerung zu wagen, um dem unbewussten Wiederholungszwang vorzubeugen." Mag sein, dass der Roman weniger gut funktionieren würde, verließe sein berühmter Autor als fragende Stimme die literarische Bühne komplett. Trotzdem klingen diese Einschübe bisweilen, als wollte "Der Apfelbaum" noch etwas anderes sein, als er in erster Linie ist: eine dramatische Liebes- und Familiengeschichte, hervorragend erzählt.
Christian Berkel: "Der Apfelbaum". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2018. 416 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"... eine dramatische Liebes- und Familiengeschichte, hervorragend erzählt." Melanie Mühl Frankfurter Allgemeine Zeitung 20181124