Wien nach dem Zweiten Weltkrieg, der Schwarzmarkt blüht. Der Autor Rollo Martins kommt in die Stadt, um seinen Jugendfreund Harry Lime zu besuchen, der sich mittlerweile als Schieber verdingt. Als Martins eintrifft, ist sein Freund tot. Angeblich wurde er Opfer eines Autounfalls. Eine Erklärung, die Martins skeptisch macht. Er beginnt nachzuforschen, und immer wieder kreuzt dabei ein ominöser dritter Mann seine Wege. Graham Greenes faszinierender Thriller, kongenial verfilmt mit Orson Welles und Joseph Cotten, erscheint erstmals als Lesung mit Hanns Zischler.Ungekürzte Lesung mit Hanns Zischler3 CDs ca. 3 h 57 min
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Jochen Schimmang hört sich das gerne an, wenn Hanns Zischler wienert in diesem auf der Neuübersetzung des Romans durch Nikolaus Stingl beruhenden Hörbuch. Stingls Übertragung scheint Schimmang zwar nicht immer die erste Wahl, doch damit will er sich nicht länger befassen. Stattdessen lauscht er Zischler und denkt über die Aktualität der Geschichte um Besetzungsmächte und Fremdbestimmung nach. Eine große Erzählung, eine raffinierte kleine schmutzige Geschichte, schließt Schimmang und empfiehlt nicht zuletzt Reeds Verfilmung des Stoffes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2016Harry Lime ist gar nicht tot
Der Welterfolg des Films "Der dritte Mann" stellte Graham Greenes gleichnamigen Roman in den Schatten. Jetzt liegt dieser auf Deutsch vor - und offenbart im Vergleich zum Drehbuch mehr Witz, Weichheit und Selbstironie.
Literaturverfilmungen halten oft dem Vergleich mit den Büchern nicht stand, die sie als Ausgangsmaterial benutzen und den Notwendigkeiten des Mediums entsprechend modellieren, dem Zeitgeschmack entsprechend verändern, verbiegen, glätten oder auch ganz brav wie in einem Kahn nur unfallfrei und devot von einem (dem Buch) zum anderen Ufer (dem Film) zu transportieren suchen. Die Enttäuschung bei denen, die ein Buch lieben, ist fast immer schon im ersten Bild des Films, dem es zugrunde liegt, zementiert.
Wie aber sieht es umgekehrt aus? Wie liest sich ein Roman, dem ein Film vorausging? Noch dazu ein Film, der wie ein Massiv in der Nachkriegsfilmgeschichte steht, weil der grandios zum Diabolischen begabte Koloss Orson Welles darin die Figur spielt, um die sich alles dreht? In dem die wunderbare Alida Valli mit vor innerer und äußerer Kälte hochgezogenen Schultern aus dem verschneiten Bild läuft, als liege ihr Ziel jenseits der Welt? Und in dem eine Zithermelodie eine erzählende Rolle einnimmt? Es handelt sich, natürlich, um den "Dritten Mann". Der Film kam 1949 heraus. Der Roman 1950.
Graham Greene hatte das Drehbuch zu dem Film von Carol Reed geschrieben, und Graham Greene ist es auch, von dem der gleichnamige Roman stammt. Aber der Roman entstand nur, damit daraus der Film würde, weil Greene eine Geschichte nicht von vornherein als Drehbuch ("diese stumpfsinnige Kurzschrift") konzipieren konnte. "Man bringt", schreibt er in seiner Vormerkung zu dem Roman, "den ersten Schöpfungsakt nicht in Drehbuchform zustande."
So musste er, selbst wenn der Auftrag von dem Filmproduzenten Alexander Korda kam und auf ein Drehbuch lautete wie im Fall des "Dritten Manns", erst einmal eine Geschichte in Form einer Erzählung oder eines Romans schreiben, aus dem er dann das Drehbuch herausschneiden konnte - in einem kollektiven Akt, so beschreibt er es, an dem sowohl Reed wie auch Orson Welles beteiligt waren. Greene bezeichnet daher seinen "Dritten Mann" als ein Buch, das "nicht gelesen, sondern gesehen werden" sollte. Und dann kam es doch auf den Buchmarkt, wurde gelesen und übersetzt und schießlich vergessen. Nun liegt es in der eleganten Neuübersetzung von Nikolaus Stingl auf Deutsch vor. Lohnt die Lektüre? Brauchen wir das?
Ja, schon. Nicht, weil wir vergessen hätten, dass Harry Lime, die Figur, um die alles kreist, gar nicht tot ist, obwohl etwa vier Fünftel der Geschichte davon ausgehen. Nicht, weil wir nicht mehr wüssten, wie die vier Besatzungsmächte nach Kriegsende das zerstörte Wien zwischen sich aufgeteilt hatten und wie der Personen- und Warenverkehr zwischen den Sektoren von hin und her huschenden Gestalten in der Dunkelheit vonstatten ging, die nur die Reflektion schütterer Beleuchtung im Schnee ein wenig brach. Wir erinnern uns ganz ohne Buch daran, mit welcher Skrupellosigkeit Harry Lime seine Schiebereien mit verschnittenem Penicillin rechtfertigte, haben noch den Ausdruck enttäuschter lebenslanger Liebe auf dem Gesicht von Joseph Cotton als Westernautor Holly Martins vor Augen, als er der Machenschaften seines alten Jugendfreunds Harry Lime gewahr wird, der ihn immer nur benutzt hat. Für all dies brauchen wir das Buch (in dem Holly Martins Rollo heißt) nicht.
Aber um über das Schreiben, um über die Entstehung von Figuren, von Atmosphäre, von Erzählstruktur etwas zu erfahren, dafür brauchen wir diesen Roman unbedingt. Denn der literarische Überschuss, den Greene produziert hat, obwohl er doch eigentlich nur ein Buch zum Sehen schrieb, ist erheblich. Wobei der Überschuss Sätze wie dieser sind, die in einem Film kaum ihre Entsprechung finden können: "Martins spürte den leisen Stich der Entbehrlichkeit, als er an der Bustür stand und zusah, wie der Schnee so dünn und sanft herabschwebte, dass die großen Verwehungen zwischen den zerstörten Gebäuden eine Anmutung von Dauerhaftigkeit besaßen, als wären sie nicht die Folge dieses mageren Geriesels, sondern lägen für alle Zeiten oberhalb der Linie ewigen Schnees." Die Enttäuschung Rollos über seinen Jugendfreund klingt bei Greene so: "Jede Erinnerung - Nachmittage im hohen Gras, die verbotenen Jagden auf dem Brickworth Common, die Träume, die Spaziergänge, jedes gemeinsame Erlebnis - wurde gleichzeitig kontaminiert, wie die Erde einer atomar verseuchten Stadt. Man konnte sie nicht mehr lange gefahrlos betreten." Und über das Gesicht von Anna Schmidt schreibt er: "Es war kein schönes Gesicht - das war das Problem. Es war ein Gesicht, mit dem man leben kann, tagein, tagaus. Ein Gesicht zum Tragen."
Wer Alida Valli vor Augen hat, wird über diese Beschreibung staunen, denn ihr Gesicht ist von einiger Schönheit. Aber wer begreifen will, warum Rollo Martins, der mit Frauen in jeder Stadt, an jedem Flughafen und über jeder Bar zu tun hat, hier zurückhaltend ist und etwas spürt, das er Liebe nennt (und das unerwidert bleibt), erfährt aus diesen Sätzen, die im Film niemand spricht, warum die Beziehung der beiden auch anders hätte enden können, als sie es tat. Und im Buch übrigens auch anders endet als im Film. Weicher.
Aus dem Buch zum Sehen wurde also nichts. "Der dritte Mann" ist ein eigenständiger Roman, mit einer anderen Erzählperspektive (nicht Holly/Rollo ist der Erzähler hier, sondern Major Calloway) und einem Witz, der im Film deutlich zurückgefahren wurde. Dieser Witz speist sich nicht nur aus den Gegensätzen zwischen Engländern und Amerikanern, die auch im Film Teil der Geschichte sind, sondern aus der Gegenüberstellung von hoher und niederer Literatur - die Verwechselung von Holly/Rollo, dem Westernautor, mit einem britischen Romanautor gleichen Namens nimmt deutlich mehr Platz ein, und die Herablassung, die Rollo der britischen Moderne gegenüber zeigt, ist zum Schießen. Es ist eine Selbstreflexion Greenes, der sich hier über seinen Status als Unterhaltungsschriftsteller lustig macht. Und dabei ein Buch schreibt, das es gar nicht geben sollte, weil aus ihm ein Drehbuch wurde und dann ein Film und damit sein Zweck erfüllt sein sollte.
VERENA LUEKEN
Graham Greene: "Der dritte Mann". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 160 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Welterfolg des Films "Der dritte Mann" stellte Graham Greenes gleichnamigen Roman in den Schatten. Jetzt liegt dieser auf Deutsch vor - und offenbart im Vergleich zum Drehbuch mehr Witz, Weichheit und Selbstironie.
Literaturverfilmungen halten oft dem Vergleich mit den Büchern nicht stand, die sie als Ausgangsmaterial benutzen und den Notwendigkeiten des Mediums entsprechend modellieren, dem Zeitgeschmack entsprechend verändern, verbiegen, glätten oder auch ganz brav wie in einem Kahn nur unfallfrei und devot von einem (dem Buch) zum anderen Ufer (dem Film) zu transportieren suchen. Die Enttäuschung bei denen, die ein Buch lieben, ist fast immer schon im ersten Bild des Films, dem es zugrunde liegt, zementiert.
Wie aber sieht es umgekehrt aus? Wie liest sich ein Roman, dem ein Film vorausging? Noch dazu ein Film, der wie ein Massiv in der Nachkriegsfilmgeschichte steht, weil der grandios zum Diabolischen begabte Koloss Orson Welles darin die Figur spielt, um die sich alles dreht? In dem die wunderbare Alida Valli mit vor innerer und äußerer Kälte hochgezogenen Schultern aus dem verschneiten Bild läuft, als liege ihr Ziel jenseits der Welt? Und in dem eine Zithermelodie eine erzählende Rolle einnimmt? Es handelt sich, natürlich, um den "Dritten Mann". Der Film kam 1949 heraus. Der Roman 1950.
Graham Greene hatte das Drehbuch zu dem Film von Carol Reed geschrieben, und Graham Greene ist es auch, von dem der gleichnamige Roman stammt. Aber der Roman entstand nur, damit daraus der Film würde, weil Greene eine Geschichte nicht von vornherein als Drehbuch ("diese stumpfsinnige Kurzschrift") konzipieren konnte. "Man bringt", schreibt er in seiner Vormerkung zu dem Roman, "den ersten Schöpfungsakt nicht in Drehbuchform zustande."
So musste er, selbst wenn der Auftrag von dem Filmproduzenten Alexander Korda kam und auf ein Drehbuch lautete wie im Fall des "Dritten Manns", erst einmal eine Geschichte in Form einer Erzählung oder eines Romans schreiben, aus dem er dann das Drehbuch herausschneiden konnte - in einem kollektiven Akt, so beschreibt er es, an dem sowohl Reed wie auch Orson Welles beteiligt waren. Greene bezeichnet daher seinen "Dritten Mann" als ein Buch, das "nicht gelesen, sondern gesehen werden" sollte. Und dann kam es doch auf den Buchmarkt, wurde gelesen und übersetzt und schießlich vergessen. Nun liegt es in der eleganten Neuübersetzung von Nikolaus Stingl auf Deutsch vor. Lohnt die Lektüre? Brauchen wir das?
Ja, schon. Nicht, weil wir vergessen hätten, dass Harry Lime, die Figur, um die alles kreist, gar nicht tot ist, obwohl etwa vier Fünftel der Geschichte davon ausgehen. Nicht, weil wir nicht mehr wüssten, wie die vier Besatzungsmächte nach Kriegsende das zerstörte Wien zwischen sich aufgeteilt hatten und wie der Personen- und Warenverkehr zwischen den Sektoren von hin und her huschenden Gestalten in der Dunkelheit vonstatten ging, die nur die Reflektion schütterer Beleuchtung im Schnee ein wenig brach. Wir erinnern uns ganz ohne Buch daran, mit welcher Skrupellosigkeit Harry Lime seine Schiebereien mit verschnittenem Penicillin rechtfertigte, haben noch den Ausdruck enttäuschter lebenslanger Liebe auf dem Gesicht von Joseph Cotton als Westernautor Holly Martins vor Augen, als er der Machenschaften seines alten Jugendfreunds Harry Lime gewahr wird, der ihn immer nur benutzt hat. Für all dies brauchen wir das Buch (in dem Holly Martins Rollo heißt) nicht.
Aber um über das Schreiben, um über die Entstehung von Figuren, von Atmosphäre, von Erzählstruktur etwas zu erfahren, dafür brauchen wir diesen Roman unbedingt. Denn der literarische Überschuss, den Greene produziert hat, obwohl er doch eigentlich nur ein Buch zum Sehen schrieb, ist erheblich. Wobei der Überschuss Sätze wie dieser sind, die in einem Film kaum ihre Entsprechung finden können: "Martins spürte den leisen Stich der Entbehrlichkeit, als er an der Bustür stand und zusah, wie der Schnee so dünn und sanft herabschwebte, dass die großen Verwehungen zwischen den zerstörten Gebäuden eine Anmutung von Dauerhaftigkeit besaßen, als wären sie nicht die Folge dieses mageren Geriesels, sondern lägen für alle Zeiten oberhalb der Linie ewigen Schnees." Die Enttäuschung Rollos über seinen Jugendfreund klingt bei Greene so: "Jede Erinnerung - Nachmittage im hohen Gras, die verbotenen Jagden auf dem Brickworth Common, die Träume, die Spaziergänge, jedes gemeinsame Erlebnis - wurde gleichzeitig kontaminiert, wie die Erde einer atomar verseuchten Stadt. Man konnte sie nicht mehr lange gefahrlos betreten." Und über das Gesicht von Anna Schmidt schreibt er: "Es war kein schönes Gesicht - das war das Problem. Es war ein Gesicht, mit dem man leben kann, tagein, tagaus. Ein Gesicht zum Tragen."
Wer Alida Valli vor Augen hat, wird über diese Beschreibung staunen, denn ihr Gesicht ist von einiger Schönheit. Aber wer begreifen will, warum Rollo Martins, der mit Frauen in jeder Stadt, an jedem Flughafen und über jeder Bar zu tun hat, hier zurückhaltend ist und etwas spürt, das er Liebe nennt (und das unerwidert bleibt), erfährt aus diesen Sätzen, die im Film niemand spricht, warum die Beziehung der beiden auch anders hätte enden können, als sie es tat. Und im Buch übrigens auch anders endet als im Film. Weicher.
Aus dem Buch zum Sehen wurde also nichts. "Der dritte Mann" ist ein eigenständiger Roman, mit einer anderen Erzählperspektive (nicht Holly/Rollo ist der Erzähler hier, sondern Major Calloway) und einem Witz, der im Film deutlich zurückgefahren wurde. Dieser Witz speist sich nicht nur aus den Gegensätzen zwischen Engländern und Amerikanern, die auch im Film Teil der Geschichte sind, sondern aus der Gegenüberstellung von hoher und niederer Literatur - die Verwechselung von Holly/Rollo, dem Westernautor, mit einem britischen Romanautor gleichen Namens nimmt deutlich mehr Platz ein, und die Herablassung, die Rollo der britischen Moderne gegenüber zeigt, ist zum Schießen. Es ist eine Selbstreflexion Greenes, der sich hier über seinen Status als Unterhaltungsschriftsteller lustig macht. Und dabei ein Buch schreibt, das es gar nicht geben sollte, weil aus ihm ein Drehbuch wurde und dann ein Film und damit sein Zweck erfüllt sein sollte.
VERENA LUEKEN
Graham Greene: "Der dritte Mann". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 160 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Graham Greene hat so viele Filmregisseure inspiriert wie sonst nur noch Georges Simenon und William Shakespeare.« DIE ZEIT »Messerscharf und sezierend.« Der Spiegel