Zeitlos, klarsichtig, aktuell: Eco über Faschismus, Intoleranz und MigrationFaschismus und Totalitarismus, Integration und Intoleranz, Migration und Europa, Identität, das Eigene und das Fremde - die zentralen Begriffe in Umberto Ecos fünf Essays könnten kaum aktueller sein. Gerade in ihrer zeitlichen Distanz zeigt sich die Stärke von Ecos Gedanken: Losgelöst vom tagesaktuellen Geschehen, scheinen in ihnen die überzeitlichen Strukturen auf, die unserem Denken und Handeln zugrunde liegen. Präzise, wortgewandt und gespickt mit persönlichen Erinnerungen rufen seine Texte die komplexe Geschichte der Herausforderungen wach, vor denen wir heute stehen.Fünf Essays, die die großen Herausforderungen unserer Zeit in neuem Licht zeigen
buecher-magazin.de„Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven.“ Doch woran erkennt man Faschismus? Im titelgebenden Text dieser Sammlung, einem Vortrag, den er 1995 an der Columbia University in New York hielt, arbeitet Umberto Eco – er fehlt! – 14 Merkmale heraus, die den Faschismen des 20. Jahrhunderts gemeinsam waren. Anders als die meisten derjenigen, die heute mit autoritären Ideen sympathisieren, hat der 1932 geborene Semiotiker in einem faschistischen Staat gelebt. Er erzählt, wie seine Mutter ihn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zeitung holen schickte und er angesichts des neuen Pluralismus begriff, was Freiheit bedeutet – „Freiheit der Rede, der Presse, der politischen Vereinigung“. Doch auch die anderen vier Texte sind hörenswert – insbesondere „Ein neuer Vertrag von Nimwegen“, der das vereinte Europa feiert, und „Experimente in reziproker Ethnologie“. Der Sprecher Axel Wostry liest, wie man generell lesen sollte: klar, ruhig, ausdrucksvoll, den Text durchdringend. Dabei tritt er so weit hinter dem Text zurück, dass man fast das Gefühl hat, der eigenen inneren Stimme beim Lesen zuzuhören.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.02.2020Der Trost kleiner Bücher
Vor fünfundzwanzig Jahren hielt Umberto Eco einen Vortrag über den „ewigen Faschismus“. Hilft seine Analyse, die Gegenwart besser zu verstehen?
Im Frühjahr 1995 hielt Umberto Eco einen Vortrag an der Columbia University in New York, dem er den Titel „Der ewige Faschismus“ gegeben hatte. Er war das zentrale Ereignis einer Konferenz, die das italienische Seminar der Hochschule zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung Europas „von Nationalsozialismus und Faschismus“ veranstaltete. Umberto Eco betrieb in dieser Rede eine Begriffsklärung. Zunächst versuchte er, den Faschismus von allen Assoziationen zu befreien, mit denen er immer wieder verbunden wird, die aber nicht notwendig zu ihm gehören: Das gilt für den Nationalsozialismus und dessen Programm der Judenvernichtung ebenso wie für die katholische Bewegung des Generals Franco oder für den radikalen Antikapitalismus des Dichters Ezra Pound. Sodann entwarf er, in vierzehn Punkten, eine Bestimmung des Faschismus in seiner reinen Form. Dazu gehören, wie er meinte, ein „Kult der Überlieferung“ und die Ablehnung der Moderne oder der Kritik, ein „Appell an die frustrierten Mittelklassen“ und die Fremdenfeindlichkeit, der Glaube an das Leben als Kampf und die Verachtung der parlamentarischen Demokratie. Weil aber auch für jedes dieser Kriterien gilt, dass die Bestimmung auch auf Nicht-Faschistisches zutrifft – einem Kult der Überlieferung hängen auch manche Bibelforscher an, und etliche Monarchisten verachten ebenfalls den Parlamentarismus –, ist Ecos Begriff des Faschismus eine etwas diffuse Angelegenheit. Der Faschismus, so wie er ihn sich vorstellt, bildet eine Art dunkler Energie auf dem Grund aller modernen Gesellschaften, deren Hervortreten an eine „Kristallisation“ gebunden sein soll.
Umberto Ecos Vortrag wurde, als separate Veröffentlichung, vor zwei Jahren in Italien neu herausgegeben, in einer schmalen Broschur und für einen geringen Preis. Jetzt hat der deutsche Verlag nachgezogen und bietet den Text, verknüpft mit vier weiteren ehemaligen Gelegenheitsarbeiten Umberto Ecos und einem Vorwort Roberto Savianos, als Büchlein mit einem Umfang von achtzig knappen Seiten an. Der Titel, eben „Der ewige Faschismus“, mochte sich vor 25 Jahren auch auf eine aktuelle Erfahrung bezogen haben: Die „Alleanza Nationale“ kam bei den italienischen Parlamentswahlen 1996 auf fast sechzehn Prozent der Stimmen, ein Bündnis, zu dem neben Rechtskonservativen sowie Monarchisten auch etliche späte Anhänger Mussolinis gehörten. Seitdem hat sich die politische Lage sehr geändert: Der Verdacht, einen neuen Faschismus vorantreiben zu wollen, richtet sich nunmehr zuerst gegen die Ausländerfeinde von der rechtspopulistischen „Lega“, deren Stimmenanteil gegenwärtig bei knapp dreißig Prozent liegen dürfte. Und weil es solche Bewegungen heute in allen europäischen Ländern wie auch in den Vereinigten Staaten gibt, klingt der Titel der Schrift unter gegenwärtigen Bedingungen anders: wie eine prophetische Wortmeldung von großer Aktualität.
Umberto Ecos Vortrag, schreibt Roberto Saviano in seinem Vorwort, sei „eine Fackel, die es schafft, diesen endlosen Niedergang zu beleuchten, den Europa gerade erlebt: den Hass, den die krisengeschüttelte Mittelschicht auf all diejenigen entwickelt, die sie ersetzen könnten, also jetzt auch die Immigranten.“
In jüngster Zeit ist eine Reihe kleiner Schriften berühmter Gelehrter und Dichter auf den Markt gebracht worden, allesamt mit dem Anspruch, in der Vergangenheit habe es bedeutende Entwürfe zur Klärung der gegenwärtigen Lage gegeben, die zu Unrecht wenig beachtet oder vergessen wurden: Dazu gehören Hannah Arendts „Die Freiheit, frei zu sein“ (2018) ebenso wie Theodor W. Adornos „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ (2019). Aber was bedeutet es für die Gegenwart, dass sie irgendwann in der Vergangenheit schon soll mitgedacht worden sein? Dass es damals bessere Denker gab? Dass man sich in guter Gesellschaft befindet, wenn man sich heute für die Freiheit und gegen den Rechtsradikalismus engagiert? Oder sind die kleinen Bücher als Trost gedacht?
Wenn es so vermögenden Köpfen nicht gelang, die Welt mit ihren Gedanken zu verändern: Warum sollten wir es dann schaffen? Oder kalkulieren die Verlage mit dem Bedürfnis flüchtiger Leser, in handlichen Formaten und interessanten Gegenständen am Werk eines großen Denkers teilhaben zu dürfen? Intellektueller Heldenkult und zeitdiagnostische Hilflosigkeit scheinen in diesen Schriften eine nicht unbedingt glückliche Verbindung einzugehen.
Es sei ein großer Fehler, schreibt Roberto Saviano in seinem Vorwort, den Faschismus als ein nur historisches Phänomen zu beschreiben. Das mag so sein. Ein großer Fehler ist es hingegen mit Sicherheit auch, den Faschismus als nur zeitübergreifendes Phänomen zu betrachten, als Konstante, die sich durch alle modernen Gesellschaften zieht. Keinen Faschismus gibt es bisher, der nicht aus einer Demokratie hervorgegangen, keinen Faschismus, dem keine Wirtschaftskrise vorausgegangen, keinen Faschismus, der nicht die Nation vor ihren ausländischen Feinden hätte retten wollen, zu Zeiten und unter Umständen, die sich jeweils angeben lassen. Die Kategorie des „ewigen Faschismus“ verwischt solche Unterscheidungen, im selben Maße, wie sie den Faschismus von der Demokratie allzu scharf trennt. Denn zeigt nicht gerade ein radikaler Nationalismus, wie ihn gegenwärtig der ehemalige italienische Innenminister Matteo Salvini und die „Lega“ vertreten, wie durchlässig die Grenzen zwischen Demokratie und Faschismus sein können? Einschließlich Missachtung der Gewaltenteilung innerhalb der Gewaltenteilung, Verachtung des Parlamentarismus innerhalb des Parlamentarismus und einem bedingungslosen Einsatz für Volk und Vaterland, an dem es ansonsten auch Demokraten nicht fehlen lassen? Es könnte sein, dass man solchermaßen komplizierten Verhältnissen mit einem Kriterienkatalog in vierzehn Punkten nicht wirklich beikommt.
THOMAS STEINFELD
Umberto Eco: Der ewige Faschismus. Aus dem Italienischen übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2020. 80 Seiten, 10 Euro.
Der Titel klingt gegenwärtig wie
eine prophetische Wortmeldung
von großer Aktualität
Die Grenzen zwischen
Demokratie und Faschismus
können sehr durchlässig sein
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vor fünfundzwanzig Jahren hielt Umberto Eco einen Vortrag über den „ewigen Faschismus“. Hilft seine Analyse, die Gegenwart besser zu verstehen?
Im Frühjahr 1995 hielt Umberto Eco einen Vortrag an der Columbia University in New York, dem er den Titel „Der ewige Faschismus“ gegeben hatte. Er war das zentrale Ereignis einer Konferenz, die das italienische Seminar der Hochschule zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung Europas „von Nationalsozialismus und Faschismus“ veranstaltete. Umberto Eco betrieb in dieser Rede eine Begriffsklärung. Zunächst versuchte er, den Faschismus von allen Assoziationen zu befreien, mit denen er immer wieder verbunden wird, die aber nicht notwendig zu ihm gehören: Das gilt für den Nationalsozialismus und dessen Programm der Judenvernichtung ebenso wie für die katholische Bewegung des Generals Franco oder für den radikalen Antikapitalismus des Dichters Ezra Pound. Sodann entwarf er, in vierzehn Punkten, eine Bestimmung des Faschismus in seiner reinen Form. Dazu gehören, wie er meinte, ein „Kult der Überlieferung“ und die Ablehnung der Moderne oder der Kritik, ein „Appell an die frustrierten Mittelklassen“ und die Fremdenfeindlichkeit, der Glaube an das Leben als Kampf und die Verachtung der parlamentarischen Demokratie. Weil aber auch für jedes dieser Kriterien gilt, dass die Bestimmung auch auf Nicht-Faschistisches zutrifft – einem Kult der Überlieferung hängen auch manche Bibelforscher an, und etliche Monarchisten verachten ebenfalls den Parlamentarismus –, ist Ecos Begriff des Faschismus eine etwas diffuse Angelegenheit. Der Faschismus, so wie er ihn sich vorstellt, bildet eine Art dunkler Energie auf dem Grund aller modernen Gesellschaften, deren Hervortreten an eine „Kristallisation“ gebunden sein soll.
Umberto Ecos Vortrag wurde, als separate Veröffentlichung, vor zwei Jahren in Italien neu herausgegeben, in einer schmalen Broschur und für einen geringen Preis. Jetzt hat der deutsche Verlag nachgezogen und bietet den Text, verknüpft mit vier weiteren ehemaligen Gelegenheitsarbeiten Umberto Ecos und einem Vorwort Roberto Savianos, als Büchlein mit einem Umfang von achtzig knappen Seiten an. Der Titel, eben „Der ewige Faschismus“, mochte sich vor 25 Jahren auch auf eine aktuelle Erfahrung bezogen haben: Die „Alleanza Nationale“ kam bei den italienischen Parlamentswahlen 1996 auf fast sechzehn Prozent der Stimmen, ein Bündnis, zu dem neben Rechtskonservativen sowie Monarchisten auch etliche späte Anhänger Mussolinis gehörten. Seitdem hat sich die politische Lage sehr geändert: Der Verdacht, einen neuen Faschismus vorantreiben zu wollen, richtet sich nunmehr zuerst gegen die Ausländerfeinde von der rechtspopulistischen „Lega“, deren Stimmenanteil gegenwärtig bei knapp dreißig Prozent liegen dürfte. Und weil es solche Bewegungen heute in allen europäischen Ländern wie auch in den Vereinigten Staaten gibt, klingt der Titel der Schrift unter gegenwärtigen Bedingungen anders: wie eine prophetische Wortmeldung von großer Aktualität.
Umberto Ecos Vortrag, schreibt Roberto Saviano in seinem Vorwort, sei „eine Fackel, die es schafft, diesen endlosen Niedergang zu beleuchten, den Europa gerade erlebt: den Hass, den die krisengeschüttelte Mittelschicht auf all diejenigen entwickelt, die sie ersetzen könnten, also jetzt auch die Immigranten.“
In jüngster Zeit ist eine Reihe kleiner Schriften berühmter Gelehrter und Dichter auf den Markt gebracht worden, allesamt mit dem Anspruch, in der Vergangenheit habe es bedeutende Entwürfe zur Klärung der gegenwärtigen Lage gegeben, die zu Unrecht wenig beachtet oder vergessen wurden: Dazu gehören Hannah Arendts „Die Freiheit, frei zu sein“ (2018) ebenso wie Theodor W. Adornos „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ (2019). Aber was bedeutet es für die Gegenwart, dass sie irgendwann in der Vergangenheit schon soll mitgedacht worden sein? Dass es damals bessere Denker gab? Dass man sich in guter Gesellschaft befindet, wenn man sich heute für die Freiheit und gegen den Rechtsradikalismus engagiert? Oder sind die kleinen Bücher als Trost gedacht?
Wenn es so vermögenden Köpfen nicht gelang, die Welt mit ihren Gedanken zu verändern: Warum sollten wir es dann schaffen? Oder kalkulieren die Verlage mit dem Bedürfnis flüchtiger Leser, in handlichen Formaten und interessanten Gegenständen am Werk eines großen Denkers teilhaben zu dürfen? Intellektueller Heldenkult und zeitdiagnostische Hilflosigkeit scheinen in diesen Schriften eine nicht unbedingt glückliche Verbindung einzugehen.
Es sei ein großer Fehler, schreibt Roberto Saviano in seinem Vorwort, den Faschismus als ein nur historisches Phänomen zu beschreiben. Das mag so sein. Ein großer Fehler ist es hingegen mit Sicherheit auch, den Faschismus als nur zeitübergreifendes Phänomen zu betrachten, als Konstante, die sich durch alle modernen Gesellschaften zieht. Keinen Faschismus gibt es bisher, der nicht aus einer Demokratie hervorgegangen, keinen Faschismus, dem keine Wirtschaftskrise vorausgegangen, keinen Faschismus, der nicht die Nation vor ihren ausländischen Feinden hätte retten wollen, zu Zeiten und unter Umständen, die sich jeweils angeben lassen. Die Kategorie des „ewigen Faschismus“ verwischt solche Unterscheidungen, im selben Maße, wie sie den Faschismus von der Demokratie allzu scharf trennt. Denn zeigt nicht gerade ein radikaler Nationalismus, wie ihn gegenwärtig der ehemalige italienische Innenminister Matteo Salvini und die „Lega“ vertreten, wie durchlässig die Grenzen zwischen Demokratie und Faschismus sein können? Einschließlich Missachtung der Gewaltenteilung innerhalb der Gewaltenteilung, Verachtung des Parlamentarismus innerhalb des Parlamentarismus und einem bedingungslosen Einsatz für Volk und Vaterland, an dem es ansonsten auch Demokraten nicht fehlen lassen? Es könnte sein, dass man solchermaßen komplizierten Verhältnissen mit einem Kriterienkatalog in vierzehn Punkten nicht wirklich beikommt.
THOMAS STEINFELD
Umberto Eco: Der ewige Faschismus. Aus dem Italienischen übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2020. 80 Seiten, 10 Euro.
Der Titel klingt gegenwärtig wie
eine prophetische Wortmeldung
von großer Aktualität
Die Grenzen zwischen
Demokratie und Faschismus
können sehr durchlässig sein
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2020Denken als Gefahr
Alarmismus war Umberto Eco fremd, auch in Sachen faschistischer Gefahr. Bei ihm steht zu lesen: "Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven." Ein Appell, dem alles Schrille abgeht - weil der Vortrag, dem er entnommen ist, nicht den Schrecken des Totalitarismus beschwört, sondern das Glück der Befreiung von ihm.
Eco hielt den Vortrag mit dem Titel "Der ewige Faschismus" 1995 in New York. Nun liegt er in deutscher Übersetzung vor, zusammen mit vier weiteren Vorträgen und Artikeln zu Migration, Intoleranz, Ethnologie und dem Frieden von Nimwegen. Doch Ecos Beobachtungen zum Faschismus sind die Folie, vor der sich die anderen Beiträge überhaupt erst in den Zusammenhang des schmalen Bands fügen. Anlass der Erörterung war ein Symposion zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung Italiens vom Faschismus. Und dies ist gleichzeitig das Paradoxon, an dem sich Eco abarbeitet, denn die "Befreiung vom Faschismus" ist für ihn kein historisches Ereignis, sondern Rhetorik: Faschismus sei ein Spiel, das auf viele Weisen gespielt werden könne, dabei aber immer unter dem gleichen Begriff subsumiert werde. Das mache diesen so schwammig, "fuzzy", wie Eco sagt, so dass er nie aufhört, nach Interpretation zu verlangen. An einer solchen versucht sich Eco mit Hilfe einer Liste von vierzehn Merkmalen des "Ur-Faschismus", der etwa einem Kult der Überlieferung huldige, die Moderne ablehne, dem Dissens misstraue und Fremdenfeindlichkeit und Verschwörungen schüre. Doch was Faschisten im Kern ausmache sei, dass sie kritisches Denken verhindern wollten: Denken sei für Faschisten eine Form der Kastration.
Die Versuchung ist groß, Ecos Liste als Erkenntnishappen zu schlucken oder ihre Aktualität im Angesicht von Hanau und Halle zu bewundern. Doch das befreit nicht von der Pflicht, sich mit der jeweils aktuellen faschistischen Rhetorik auseinanderzusetzen, die sich für den Literaten und Semiotiker Eco besonders an verarmtem Vokabular und versimpelter Syntax erkennen lässt. Was Eco mit einem Rückblick auf seine eigene Erfahrung mit der "Befreiung" unterstreicht: Damals habe er auch eine Befreiung der Sprache erlebt und "neue, erregende Worte" gelernt. So wie "Freiheit" und "Diktatur".
ANNA-LENA NIEMANN.
Umberto Eco: "Der ewige Faschismus".
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Mit einem Vorwort von Roberto Saviano. Hanser Verlag, München 2020. 80 S., geb., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alarmismus war Umberto Eco fremd, auch in Sachen faschistischer Gefahr. Bei ihm steht zu lesen: "Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven." Ein Appell, dem alles Schrille abgeht - weil der Vortrag, dem er entnommen ist, nicht den Schrecken des Totalitarismus beschwört, sondern das Glück der Befreiung von ihm.
Eco hielt den Vortrag mit dem Titel "Der ewige Faschismus" 1995 in New York. Nun liegt er in deutscher Übersetzung vor, zusammen mit vier weiteren Vorträgen und Artikeln zu Migration, Intoleranz, Ethnologie und dem Frieden von Nimwegen. Doch Ecos Beobachtungen zum Faschismus sind die Folie, vor der sich die anderen Beiträge überhaupt erst in den Zusammenhang des schmalen Bands fügen. Anlass der Erörterung war ein Symposion zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung Italiens vom Faschismus. Und dies ist gleichzeitig das Paradoxon, an dem sich Eco abarbeitet, denn die "Befreiung vom Faschismus" ist für ihn kein historisches Ereignis, sondern Rhetorik: Faschismus sei ein Spiel, das auf viele Weisen gespielt werden könne, dabei aber immer unter dem gleichen Begriff subsumiert werde. Das mache diesen so schwammig, "fuzzy", wie Eco sagt, so dass er nie aufhört, nach Interpretation zu verlangen. An einer solchen versucht sich Eco mit Hilfe einer Liste von vierzehn Merkmalen des "Ur-Faschismus", der etwa einem Kult der Überlieferung huldige, die Moderne ablehne, dem Dissens misstraue und Fremdenfeindlichkeit und Verschwörungen schüre. Doch was Faschisten im Kern ausmache sei, dass sie kritisches Denken verhindern wollten: Denken sei für Faschisten eine Form der Kastration.
Die Versuchung ist groß, Ecos Liste als Erkenntnishappen zu schlucken oder ihre Aktualität im Angesicht von Hanau und Halle zu bewundern. Doch das befreit nicht von der Pflicht, sich mit der jeweils aktuellen faschistischen Rhetorik auseinanderzusetzen, die sich für den Literaten und Semiotiker Eco besonders an verarmtem Vokabular und versimpelter Syntax erkennen lässt. Was Eco mit einem Rückblick auf seine eigene Erfahrung mit der "Befreiung" unterstreicht: Damals habe er auch eine Befreiung der Sprache erlebt und "neue, erregende Worte" gelernt. So wie "Freiheit" und "Diktatur".
ANNA-LENA NIEMANN.
Umberto Eco: "Der ewige Faschismus".
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Mit einem Vorwort von Roberto Saviano. Hanser Verlag, München 2020. 80 S., geb., 10,- [Euro].
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"Zeitlos und klarsichtig" Karen Krüger, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.06.20
"Es zeichnet Ecos spezielle Mischung von stilistischer und geistiger Klarheit aus. ... Dieser Aufklärer erinnert uns mit Gelehrsamkeit, Witz und Geistesschärfe daran, dass wir die Welt gemeinsam politisch gestalten müssen. Es zeigt Umberto Eco ein letztes Mal in der Rolle, in der wir uns an ihn erinnern sollten: als großen europäischen Intellektuellen." Florian Baranyi, Falter, 11.03.20
"Eco beschwört nicht den Schrecken des Totalitarismus, sondern das Glück der Befreiung von ihm." Anna-Lena Niemann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.03.20
"Sein Appell ist einer, der in die Vergangenheit zurückblickt, um nicht zu vergessen, niemals. Der aber gleichzeitig immer auch in der Gegenwart verortet ist, der die Augen nicht verschließt vor neuen Formen des Faschismus, die sich hinterrücks einschleichen." Enrico Ippolito, Spiegel Online, 02.03.20
"Seine politischen Essays sind witzig und überraschend aktuell." Marc Reichwein, Die Welt, 01.02.20
"Es zeichnet Ecos spezielle Mischung von stilistischer und geistiger Klarheit aus. ... Dieser Aufklärer erinnert uns mit Gelehrsamkeit, Witz und Geistesschärfe daran, dass wir die Welt gemeinsam politisch gestalten müssen. Es zeigt Umberto Eco ein letztes Mal in der Rolle, in der wir uns an ihn erinnern sollten: als großen europäischen Intellektuellen." Florian Baranyi, Falter, 11.03.20
"Eco beschwört nicht den Schrecken des Totalitarismus, sondern das Glück der Befreiung von ihm." Anna-Lena Niemann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.03.20
"Sein Appell ist einer, der in die Vergangenheit zurückblickt, um nicht zu vergessen, niemals. Der aber gleichzeitig immer auch in der Gegenwart verortet ist, der die Augen nicht verschließt vor neuen Formen des Faschismus, die sich hinterrücks einschleichen." Enrico Ippolito, Spiegel Online, 02.03.20
"Seine politischen Essays sind witzig und überraschend aktuell." Marc Reichwein, Die Welt, 01.02.20