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Ein Langboot stürzt im Wildwasser des Weißen Flusses den Großen Fall hinab. Fünf Menschen ertrinken. Der Schleusenwärter, als »Fallmeister« ein Herr über Leben und Tod, hätte dieses Unglück verhindern müssen. Sein Sohn glaubt nicht an einen Unfall: Ist sein jähzorniger, von der Vergangenheit besessener Vater zum Mörder geworden? Wie der Fallmeister ist auch sein Sohn mit der Macht des Wassers vertraut. Er arbeitet als Hydrotechniker an den großen Strömen dieser Erde, um die Wasserkriege geführt werden, und durchquert auf der Suche nach der Wahrheit und seinem nach dem Unglück verschollenen…mehr

Produktbeschreibung
Ein Langboot stürzt im Wildwasser des Weißen Flusses den Großen Fall hinab. Fünf Menschen ertrinken. Der Schleusenwärter, als »Fallmeister« ein Herr über Leben und Tod, hätte dieses Unglück verhindern müssen. Sein Sohn glaubt nicht an einen Unfall: Ist sein jähzorniger, von der Vergangenheit besessener Vater zum Mörder geworden? Wie der Fallmeister ist auch sein Sohn mit der Macht des Wassers vertraut. Er arbeitet als Hydrotechniker an den großen Strömen dieser Erde, um die Wasserkriege geführt werden, und durchquert auf der Suche nach der Wahrheit und seinem nach dem Unglück verschollenen Vater ein in größenwahnsinnige Kleinstaaten zerfallenes Europa. Größenwahnsinnige Herrscher ziehen immer engere Grenzen und führen Kämpfe um die Ressourcen des Trinkwassers.

Bildmächtig und mit großer Intensität erzählt Christoph Ransmayr von einer bedrohten Welt und der menschlichen Hoffnung auf Vergebung.
Autorenporträt
Christoph Ransmayr wurde in Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne.
Rezensionen
»Christoph Ransmayr schafft es, so zu lesen, - die Worte abwägend, die Sätze mit Pausen strukturiert - als spreche er über sein eigenes authentisches Erinnern an seine Jugend, an seine Suche nach der Schwester, die den Wasserfall hinter sich gelassen hat. Es klingt nicht nach einer konstruierten Geschichte. Als Hörbuch ist. 'Der Fallmeister' deswegen vielleicht auch intensiver und stärker als die gedruckte Vorlage.« Georg Gruber Deutschlandfunk Kultur 20210412
Fluss der Wiederkehr
Christoph Ransmayrs neues Buch "Der Fallmeister" ist Kriminalroman, Abenteuererzählung und Dystopie in einem

An einem riesigen Wasserfall sterben fünf Menschen, in Kambodscha ändert ein Fluss seine Richtung, und in Hamburg brennen die Hafenkräne, als ginge die Welt unter. Und das ist nur ein kurzes Aufflackern aus einem Buch, das Kriminalroman, Abenteuererzählung und Dystopie ist, und das alles mit einer Poesie erzählt, die nur sehr wenige deutschsprachige Autoren beherrschen. Der Autor ist Christoph Ransmayr, und sein neues Werk heißt: "Der Fallmeister".

"Mein Vater hat fünf Menschen getötet." Das ist der erste Satz. Diesen fünffachen Mord, der an einem großen Wasserfall geschah, will der Erzähler aufklären, er unternimmt Expeditionen in verwunschene Flussverzweigungen und Reisen nach Brasilien und Kambodscha. Nach wenigen Seiten merkt man, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Europa ist zerfallen in "bösartige Zwergenreiche", bornierte Kleinfürstentümer und Grafschaften; der Meeresspiegel steigt, der Kampf ums Trinkwasser lässt Kleinkriege eskalieren. Ransmayr entwirft eine apokalyptische Post-EU-Welt, der das Wasser bis zum Hals steht.

Irgendwo am Rand des Chaos fließt der "Weiße Fluss" durch die Grafschaft Bandon (der Name spielt auf die gleichnamige Stadt in Irland an, nicht weit von Ransmayrs ehemaligem Wohnsitz entfernt) und ist eine Art Donau mit Niagarafällen. Er ist "fast dreitausend Kilometer lang", strömt von den Alpen bis ins Schwarze Meer, und in Bandon stürzt ein Fall "mehr als vierzig Meter" in die Tiefe. So einen Fluss gibt es in Europa nicht, doch das Vorbild für den gigantischen Wasserfall kann nur der Traunfall in Oberösterreich sein, dort, wo Ransmayr aufgewachsen ist. Das Museum, das Gasthaus, die Konstruktion der Schleusen, die den "Zillen" ermöglicht, den Fall zu umfahren, die Wehranlage und die Felsenformationen, die das Wasser teilen - die Bezüge zum Traunfall sind vielfältig. Spätestens wenn Ransmayr in seiner präzisen Sprache die Atmosphäre am Großen Fall beschreibt, merkt man, dass er über Jahre hinweg das eigentümliche Dasein im Schatten des Wasserfalls erlebt hat: "In allen Fenstern an der Westseite aber stand zur Zeit der Schneeschmelze und bis tief in den Sommer eine den Auwald turmhoch überragende, manchmal von Regenbögen umflorte Wasserstaubsäule."

Am Großen Fall wächst der Erzähler auf, mit seiner Schwester, seiner Mutter und einem undurchschaubaren Vater, dem Fallmeister. "Denn wenn sich überhaupt etwas Unbezweifelbares über diesen begeisterungsfähigen, manchmal liebevollen, dann wieder über Tage schweigsamen und oft jähzornigen Mann sagen ließ, der mein Vater war", heißt es im Roman, "dann, daß er nicht nur als Verwalter einer weitläufigen Museumsanlage, sondern bis in die Abgründe seines Daseins ein Mann der Vergangenheit war." Seine Lebenszeit schien "ihre Fließrichtung umgekehrt zu haben und nicht in eine bedrohliche Zukunft zu verlaufen, sondern aus dem Nebel dieser Zukunft zurück in eine Vergangenheit, in der alles vertraut, alles absehbar, alles lenkbar erschien".

Und dieser Mann soll fünf Menschen umgebracht haben, weil er sie in einem Langboot durch die offenen Schleusentore in den Bootskanal am Großen Fall fahren ließ, wo sie im "brodelnden Kehrwasserwirbel" ertranken. Ausgerechnet sein Sohn versucht ihm nun diese Tat, für die es keine Beweise gibt, nachzuweisen. Und während man sich noch fragt, was das alles soll, nimmt sich der Fallmeister selbst das Leben. Genau ein Jahr nach dem Unglück fährt er selbstmörderisch in den Wasserfall und stirbt. Nun stellen sich noch mehr Fragen: War er es? Oder war er es nicht? Und wenn ja: Was war sein Motiv? Sowohl für den Mord als auch für den Selbstmord? Oder könnte alles auch ganz anders sein? Man spürt, dass vieles nicht zusammenpasst - ein Spannungsbogen, so viel sei verraten, den Ransmayr bis zum Ende durchhält.

Dabei passiert eine ganze Menge. Der Erzähler, ein Hydrotechniker, der sich mit Strömungsgeschwindigkeiten, Wirbelstromkraftwerken, Abflusskubaturen, Gravitationswirbeln und Eintiefungen auskennt, begibt sich auf eine abenteuerliche Reise um die Welt. Ransmayrs Bücher, sei es "Die Schrecken des Eises und der Finsternis", "Der Weg nach Surabaya" oder "Der fliegende Berg", waren schon immer auch wirklichkeitsbezogene Reisebücher. Und auch jetzt kommt der Erzähler an reale Flüsse wie den Rio Xingu in Brasilien und den Tonlé Sap in Kambodscha. Es sind Expeditionen in die Wildnis, wie sie nur jemand beschreiben kann, der die Welt bereist hat und Ähnliches erlebt hat. Er wohnt in Zeltlagern in Amazonien, paddelt auf dem Mekong. Bis er schließlich in Phnom Penh ankommt, einer Geisterstadt mit menschenleeren Straßen, überwucherten Plätzen und Rudeln verwilderter Hunde und Affenhorden. "Aus eingeschlagenen Fenstern steckten Bäume ihre Äste, und über leere Bücherregale und in Fetzen gerissene Wandteppiche krochen Schimmel, Orchideen und Moos." Langsam nimmt die Dystopie Fahrt auf. In Phnom Penh erlebt er das große Fest der Strömungsumkehr des Flusses, vermisst seine Schwester, die rätselhafteste Figur dieses Romans, denkt über seinen Vater nach, verurteilt ihn und findet dann Schritt für Schritt zu einer anderen Wahrheit. Das Wort Strömungsumkehr ist kursiv gedruckt - ein Wort wie aus einem Christopher-Nolan-Film. Denn es geht um den Fluss der Zeit und die Unumkehrbarkeit dieser fest geglaubten Größe, die die Flucht aus einer lebensfeindlichen Gegenwart in eine glorreiche Vergangenheit ermöglicht. Die Gegenwart jagt "ebenso unwiederbringlich und in wirbelnder Bewegung an ihm vorüber wie der Lauf des Weißen Flusses".

Aber stimmt das wirklich? Am Tonlé Sap, diesem real existierenden kambodschanischen Fluss, der tatsächlich jedes Jahr im November seine Fließrichtung ändert, weil er während der Regenzeit vom Mekong zurückgedrängt wird, kann man zu Recht daran zweifeln. Dass der Lauf eines Flusses und das, was man sich für den Lauf der Zeit daraus ableiten kann, nicht so eindeutig ist, wie es scheint, hat vor vier Jahren der italienische Autor Paolo Cognetti in seinem Buch "Acht Berge" beschrieben. Auch da geht es um Vater und Sohn, und der Alte fragt den Jungen: "Schau dir diesen Bach an. Siehst du ihn? (. . .) Angenommen, das Wasser ist die vergehende Zeit, wo ist dann deiner Meinung nach die Zukunft?" Die Zukunft sei dort, wo das Wasser hinfließt, antwortet der Sohn, "also da unten". "Falsch", sagt der Vater. Und der Sohn begreift: "Wenn der Punkt, an dem man in einen Fluss eintaucht, die Gegenwart ist, (. . .) ist die Vergangenheit das Wasser, das einen überholt hat und in die Tiefe fließt, wo einen nichts mehr erwartet. Und die Zukunft das Wasser, das von oben kommt und Gefahren mit sich bringt aber auch Überraschungen." Wenn ein Fluss also seine Richtung ändert, dann holt uns irgendwann die Vergangenheit ein.

So ist es auch bei Ransmayr. Eine weitere Reise führt seinen Protagonisten auf der Suche nach seiner Schwester durch das zerfallene Europa. Die lebt mittlerweile mit einem Deichgrafen irgendwo an der Elbmündung. Privilegiert durch seinen Status als Hydrotechniker, schlägt er sich durch die Frontlinien der Wasserkriege zwischen düsteren Zwergstaaten, "die jeder für sich auf Einzigartigkeit und Überlegenheit beharrten und weder Fremde noch Zuwanderer, Flüchtlinge oder andere Bedrohungen der eigenen Unvergleichlichkeit und Großartigkeit duldeten, sich folgerichtig aus dem eigenen Erbgut in die Zukunft verlängern mußten". In Zeiten des Corona-Stillstands könnte man aus diesen Zeilen eine bittere Botschaft herauslesen: Wenn wir nicht mehr reisen können und von einander isoliert sind, wenn wir uns abschotten von der Welt, dann werden wir langfristig zu bornierten, feindseligen und inzestuösen Geschöpfen.

Überall herrschen Krieg und Ablehnung. Rotterdam ist aus der "Nordatlantischen Allianz" ausgetreten - was immer das auch heißen mag - und hat sich zum unabhängigen Stadtstaat erklärt. Es gibt ein ehemaliges Protektionsgebiet Birkenau-Nord, Transitareale, plombierte Verbindungszüge, bewaffnetes Bahnhofspersonal und in Armbändern gespeicherte Tickets, die schrille Töne von sich geben. In Hamburg wimmelt es von Minenfeldern, Stacheldrahtverhauen, Selbstschussanlagen und Bunkern mit Schießscharten.

Am Hafen stehen sieben der größten Ladekräne in Flammen und erleuchten den "sommerlichen Abendhimmel, blaßrosa, dann aber flackernd rot, rubinrot". Das erinnert an Endzeit-Geschichten wie "Mad Max". Ransmayr jedoch beschreibt den Untergang so ruhig und in einer sprachlichen Klarheit, dass man diese Assoziationen schnell verwirft und stattdessen Christian Krachts dunkle Welt im Sinn hat, die er in "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" entworfen hat.

Und dann ist sie fast schon wieder vorbei, diese "kurze Geschichte vom Töten". 220 furiose Seiten, eine Reise durch phantastische und zerfallende Welten, ein großes Vergnügen. Sie ist fast vorbei. Denn "Der Fallmeister" ist immer noch ein Kriminalroman, mit einem Mord, den es aufzuklären gilt - und einer am Ende doch ungeahnten Wendung.

ANDREAS LESTI

Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten,". Roman. S. Fischer, 224 Seiten, 22 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Für den Rezensenten Jörg Magenau treibt es der Erzapokalyptiker Christoph Ransmayr in seinem neuen Roman etwas zu weit mit der düsteren Schwelgerei in dystopischen Visionen. Die Geschichte des Fallmeisters vom Traun-Fall und seines Sohnes als Geschichte überkommener Schuld und überkommenen Misstrauens zeigt für Magenau einmal mehr, wie sehr für Ransmayr die Zukunft in der Vergangenheit verborgen ist. Wie der Autor die archaische Geschichte in eine von Überwachung und Wasserkriegen geprägte Zukunftsvision übergehen lässt, in der niemand unschuldig ist, scheint Magenau eher von einem reaktionären Geschichtsbild zu künden als von einem progressiven. Pathos- und Kitschliebhaber kommen aber auf ihre Kosten, meint er.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2021

Fluss der Wiederkehr
Christoph Ransmayrs neues Buch "Der Fallmeister" ist Kriminalroman, Abenteuererzählung und Dystopie in einem

An einem riesigen Wasserfall sterben fünf Menschen, in Kambodscha ändert ein Fluss seine Richtung, und in Hamburg brennen die Hafenkräne, als ginge die Welt unter. Und das ist nur ein kurzes Aufflackern aus einem Buch, das Kriminalroman, Abenteuererzählung und Dystopie ist, und das alles mit einer Poesie erzählt, die nur sehr wenige deutschsprachige Autoren beherrschen. Der Autor ist Christoph Ransmayr, und sein neues Werk heißt: "Der Fallmeister".

"Mein Vater hat fünf Menschen getötet." Das ist der erste Satz. Diesen fünffachen Mord, der an einem großen Wasserfall geschah, will der Erzähler aufklären, er unternimmt Expeditionen in verwunschene Flussverzweigungen und Reisen nach Brasilien und Kambodscha. Nach wenigen Seiten merkt man, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Europa ist zerfallen in "bösartige Zwergenreiche", bornierte Kleinfürstentümer und Grafschaften; der Meeresspiegel steigt, der Kampf ums Trinkwasser lässt Kleinkriege eskalieren. Ransmayr entwirft eine apokalyptische Post-EU-Welt, der das Wasser bis zum Hals steht.

Irgendwo am Rand des Chaos fließt der "Weiße Fluss" durch die Grafschaft Bandon (der Name spielt auf die gleichnamige Stadt in Irland an, nicht weit von Ransmayrs ehemaligem Wohnsitz entfernt) und ist eine Art Donau mit Niagarafällen. Er ist "fast dreitausend Kilometer lang", strömt von den Alpen bis ins Schwarze Meer, und in Bandon stürzt ein Fall "mehr als vierzig Meter" in die Tiefe. So einen Fluss gibt es in Europa nicht, doch das Vorbild für den gigantischen Wasserfall kann nur der Traunfall in Oberösterreich sein, dort, wo Ransmayr aufgewachsen ist. Das Museum, das Gasthaus, die Konstruktion der Schleusen, die den "Zillen" ermöglicht, den Fall zu umfahren, die Wehranlage und die Felsenformationen, die das Wasser teilen - die Bezüge zum Traunfall sind vielfältig. Spätestens wenn Ransmayr in seiner präzisen Sprache die Atmosphäre am Großen Fall beschreibt, merkt man, dass er über Jahre hinweg das eigentümliche Dasein im Schatten des Wasserfalls erlebt hat: "In allen Fenstern an der Westseite aber stand zur Zeit der Schneeschmelze und bis tief in den Sommer eine den Auwald turmhoch überragende, manchmal von Regenbögen umflorte Wasserstaubsäule."

Am Großen Fall wächst der Erzähler auf, mit seiner Schwester, seiner Mutter und einem undurchschaubaren Vater, dem Fallmeister. "Denn wenn sich überhaupt etwas Unbezweifelbares über diesen begeisterungsfähigen, manchmal liebevollen, dann wieder über Tage schweigsamen und oft jähzornigen Mann sagen ließ, der mein Vater war", heißt es im Roman, "dann, daß er nicht nur als Verwalter einer weitläufigen Museumsanlage, sondern bis in die Abgründe seines Daseins ein Mann der Vergangenheit war." Seine Lebenszeit schien "ihre Fließrichtung umgekehrt zu haben und nicht in eine bedrohliche Zukunft zu verlaufen, sondern aus dem Nebel dieser Zukunft zurück in eine Vergangenheit, in der alles vertraut, alles absehbar, alles lenkbar erschien".

Und dieser Mann soll fünf Menschen umgebracht haben, weil er sie in einem Langboot durch die offenen Schleusentore in den Bootskanal am Großen Fall fahren ließ, wo sie im "brodelnden Kehrwasserwirbel" ertranken. Ausgerechnet sein Sohn versucht ihm nun diese Tat, für die es keine Beweise gibt, nachzuweisen. Und während man sich noch fragt, was das alles soll, nimmt sich der Fallmeister selbst das Leben. Genau ein Jahr nach dem Unglück fährt er selbstmörderisch in den Wasserfall und stirbt. Nun stellen sich noch mehr Fragen: War er es? Oder war er es nicht? Und wenn ja: Was war sein Motiv? Sowohl für den Mord als auch für den Selbstmord? Oder könnte alles auch ganz anders sein? Man spürt, dass vieles nicht zusammenpasst - ein Spannungsbogen, so viel sei verraten, den Ransmayr bis zum Ende durchhält.

Dabei passiert eine ganze Menge. Der Erzähler, ein Hydrotechniker, der sich mit Strömungsgeschwindigkeiten, Wirbelstromkraftwerken, Abflusskubaturen, Gravitationswirbeln und Eintiefungen auskennt, begibt sich auf eine abenteuerliche Reise um die Welt. Ransmayrs Bücher, sei es "Die Schrecken des Eises und der Finsternis", "Der Weg nach Surabaya" oder "Der fliegende Berg", waren schon immer auch wirklichkeitsbezogene Reisebücher. Und auch jetzt kommt der Erzähler an reale Flüsse wie den Rio Xingu in Brasilien und den Tonlé Sap in Kambodscha. Es sind Expeditionen in die Wildnis, wie sie nur jemand beschreiben kann, der die Welt bereist hat und Ähnliches erlebt hat. Er wohnt in Zeltlagern in Amazonien, paddelt auf dem Mekong. Bis er schließlich in Phnom Penh ankommt, einer Geisterstadt mit menschenleeren Straßen, überwucherten Plätzen und Rudeln verwilderter Hunde und Affenhorden. "Aus eingeschlagenen Fenstern steckten Bäume ihre Äste, und über leere Bücherregale und in Fetzen gerissene Wandteppiche krochen Schimmel, Orchideen und Moos." Langsam nimmt die Dystopie Fahrt auf. In Phnom Penh erlebt er das große Fest der Strömungsumkehr des Flusses, vermisst seine Schwester, die rätselhafteste Figur dieses Romans, denkt über seinen Vater nach, verurteilt ihn und findet dann Schritt für Schritt zu einer anderen Wahrheit. Das Wort Strömungsumkehr ist kursiv gedruckt - ein Wort wie aus einem Christopher-Nolan-Film. Denn es geht um den Fluss der Zeit und die Unumkehrbarkeit dieser fest geglaubten Größe, die die Flucht aus einer lebensfeindlichen Gegenwart in eine glorreiche Vergangenheit ermöglicht. Die Gegenwart jagt "ebenso unwiederbringlich und in wirbelnder Bewegung an ihm vorüber wie der Lauf des Weißen Flusses".

Aber stimmt das wirklich? Am Tonlé Sap, diesem real existierenden kambodschanischen Fluss, der tatsächlich jedes Jahr im November seine Fließrichtung ändert, weil er während der Regenzeit vom Mekong zurückgedrängt wird, kann man zu Recht daran zweifeln. Dass der Lauf eines Flusses und das, was man sich für den Lauf der Zeit daraus ableiten kann, nicht so eindeutig ist, wie es scheint, hat vor vier Jahren der italienische Autor Paolo Cognetti in seinem Buch "Acht Berge" beschrieben. Auch da geht es um Vater und Sohn, und der Alte fragt den Jungen: "Schau dir diesen Bach an. Siehst du ihn? (. . .) Angenommen, das Wasser ist die vergehende Zeit, wo ist dann deiner Meinung nach die Zukunft?" Die Zukunft sei dort, wo das Wasser hinfließt, antwortet der Sohn, "also da unten". "Falsch", sagt der Vater. Und der Sohn begreift: "Wenn der Punkt, an dem man in einen Fluss eintaucht, die Gegenwart ist, (. . .) ist die Vergangenheit das Wasser, das einen überholt hat und in die Tiefe fließt, wo einen nichts mehr erwartet. Und die Zukunft das Wasser, das von oben kommt und Gefahren mit sich bringt aber auch Überraschungen." Wenn ein Fluss also seine Richtung ändert, dann holt uns irgendwann die Vergangenheit ein.

So ist es auch bei Ransmayr. Eine weitere Reise führt seinen Protagonisten auf der Suche nach seiner Schwester durch das zerfallene Europa. Die lebt mittlerweile mit einem Deichgrafen irgendwo an der Elbmündung. Privilegiert durch seinen Status als Hydrotechniker, schlägt er sich durch die Frontlinien der Wasserkriege zwischen düsteren Zwergstaaten, "die jeder für sich auf Einzigartigkeit und Überlegenheit beharrten und weder Fremde noch Zuwanderer, Flüchtlinge oder andere Bedrohungen der eigenen Unvergleichlichkeit und Großartigkeit duldeten, sich folgerichtig aus dem eigenen Erbgut in die Zukunft verlängern mußten". In Zeiten des Corona-Stillstands könnte man aus diesen Zeilen eine bittere Botschaft herauslesen: Wenn wir nicht mehr reisen können und von einander isoliert sind, wenn wir uns abschotten von der Welt, dann werden wir langfristig zu bornierten, feindseligen und inzestuösen Geschöpfen.

Überall herrschen Krieg und Ablehnung. Rotterdam ist aus der "Nordatlantischen Allianz" ausgetreten - was immer das auch heißen mag - und hat sich zum unabhängigen Stadtstaat erklärt. Es gibt ein ehemaliges Protektionsgebiet Birkenau-Nord, Transitareale, plombierte Verbindungszüge, bewaffnetes Bahnhofspersonal und in Armbändern gespeicherte Tickets, die schrille Töne von sich geben. In Hamburg wimmelt es von Minenfeldern, Stacheldrahtverhauen, Selbstschussanlagen und Bunkern mit Schießscharten.

Am Hafen stehen sieben der größten Ladekräne in Flammen und erleuchten den "sommerlichen Abendhimmel, blaßrosa, dann aber flackernd rot, rubinrot". Das erinnert an Endzeit-Geschichten wie "Mad Max". Ransmayr jedoch beschreibt den Untergang so ruhig und in einer sprachlichen Klarheit, dass man diese Assoziationen schnell verwirft und stattdessen Christian Krachts dunkle Welt im Sinn hat, die er in "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" entworfen hat.

Und dann ist sie fast schon wieder vorbei, diese "kurze Geschichte vom Töten". 220 furiose Seiten, eine Reise durch phantastische und zerfallende Welten, ein großes Vergnügen. Sie ist fast vorbei. Denn "Der Fallmeister" ist immer noch ein Kriminalroman, mit einem Mord, den es aufzuklären gilt - und einer am Ende doch ungeahnten Wendung.

ANDREAS LESTI

Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten,". Roman. S. Fischer, 224 Seiten, 22 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Ransmayr vernäht die poetische Valenz des Wasser mit Entwicklungen im Weltmaßstab. Uwe Rauschelbach Hockenheimer Tageszeitung 20220205