Der junge evangelische Pastor Ralf Hrichsen wird zu einem Unfall gerufen. Ein Auto ist von der Straße abgekommen und in einen See gestürzt. Der Fahrer und Familienvater konnte noch aus dem Auto springen, seine Frau und sein Kind hingegen sterben. Der Unfall an der Stelle ist unwahrscheinlich, und der Familienvater wird verdächtig, alles geplant zu haben. Nach und nach erfährt Ralf Hrichsen Abgründiges über die Familie. Auf einer theologischen Tagung werden ihm seine Zweifel an dem Fall und seinem Leben deutlicher.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2010Im Labyrinth der Unschuldsvermutung
Ein Landpfarrer als Detektiv – warum nicht? Dieter Wellershoffs neuer Roman „Der Himmel ist kein Ort”
Beinahe jede Provokation, die sich bevorzugt in feuchten und SS-Gebieten bewegt, ist es nur noch dem Namen nach. Bereitwillig wird dann geschrien und geschrieben, es handle sich um ein Wagnis, sich in diese oder jene Figur zu versetzen, doch schon lange ist man sich der mehr oder minder wohlwollenden Aufmerksamkeit des Publikums sicher. Ein Landpfarrer als Held ist dagegen derart abseitig, dass man die Wahl nur bewundern kann. Spätestens seit dem renouveau catholique der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gehört sich so etwas für ernstzunehmende Schriftsteller nicht, und die hohe Zeit des Abbé Prévost und seiner literarischen Verwandten ist erst recht vorbei.
Aber wie gelingt es dann in „Der Himmel ist kein Ort”, den eigenwilligen Protagonistentyp anfangs so selbstverständlich als den richtigen hinzustellen? Der rheinische Protestant Dieter Wellershoff verwickelt seinen jungen Pfarrer Ralf Henrichsen, der seit anderthalb Jahren in einer Landgemeinde tätig ist und deswegen von seiner Freundin verlassen wurde, in eine krimiähnliche Handlung mit raffinierter Tiefendimension.
Henrichsen, der die Notfallseelsorge selbst ins Leben gerufen hat, wird mitten in der Nacht aus dem Schlaf geholt. Ein Mann hat sein Auto samt Kleinfamilie in den Baggersee gefahren. Seine Frau ist tot, sein Kind, das hinten saß und etwas länger Luft hatte, wird mit schwerem Hirnschaden weiter leben. Nur der Fahrer hat sich retten können. Er ist gerade noch ausgestiegen.
Als der Pfarrer bei der Unfallstelle eintrifft, erzählt ihm der Mann, den er zu betreuen hat, erschüttert und in sich verkrochen, er sei von den Lichtern eines entgegenkommenden Autos geblendet worden, habe ausweichen wollen. Beinahe von Anfang an fragt sich der Landpfarrer: Lügt dieser Mann, der vernommen und danach vorläufig entlassen wird? Alle, vom Polizisten über den Notarzt bis hin zu den Eltern der toten jungen Frau, sind mindestens skeptisch. Und je weiter sich die Handlung entwickelt, desto mehr Leute halten den Überlebenden für den Mörder. Ein halbes Jahr vor dem Unfall, erzählt der Beerdigungsunternehmer, hat sich der Vater ein Familiengrab gekauft. Aber warum? Ging es darum, einen Kollektivselbstmord vorzutäuschen? War der makabre Kauf sein Alibi? Oder wollte der Realschullehrer wirklich sterben und bekam es mit der Angst zu tun?
„Attraktiv” ist nicht nur das in Zeiten gewünschter Kinderscharen besonders skandalträchtige Verbrechen des Familienmords. Wellershoffs Landpfarrer ist eine ganz und gar heutige Figur: ein einzelgängerischer junger Mann, der sich in dem viel zu großen, alten Pfarrhaus unwohl fühlt und bei allen Problemen auf für Wellershoff typisch spätexistentialistische Weise von sich abzusehen versucht. Durch das fehlende Zölibat ist er mehr in die Welt verwickelt als ein potentieller katholischer Konkurrent und hat die Probleme aller Verlassenen. Dazu stellt er seinen Glauben auf eine kühle, in sich gekehrte Weise in Frage, wenn er ihn denn überhaupt thematisiert. Auf seine unsichere Weise wirkt er wie ein radikal individuelles Subjekt, das sich gegenüber der Gesellschaft behaupten muss. Wie weit kann ein Einzelner mit seinem Verständnis für einen mutmaßlichen Mörder gehen? Dabei will Henrichsen doch nur die Unschuldsvermutung gelten lassen, ist selber voller Zweifel, möchte den Mann, der sein Telefon abgestellt hat, am liebsten anschreien: Warum hast du es getan?
Geschickt erhöht Wellershoff Zug um Zug die Komplexität des Problems. Der Landpfarrer erfährt, dass es in der Kleinfamilie des Überlebenden tatsächlich massive Probleme gab. Die um zwanzig Jahre jüngere Frau des eifersüchtigen Lehrers, die einmal seine Schülerin war, ging notorisch fremd, auch mit einem Lehrerkollegen, den der Landpfarrer kennt. Was dem mutmaßlichen Täter die heimliche Sympathie des Landpfarrers verschafft, der sich mit ihm identifiziert. Er selber wurde für einen anderen verlassen, hat Ex-Freundin Claudia schon als glücksstrahlenden Teil einer Paarshow im Fernsehen entdeckt. Ebenfalls nicht vereinfachend wirkt, dass der Vater der jungen Frau, der den Todesfahrer mit einer Mordanklage überzieht, als einer der Dorfhonoratioren der verlässlichste Kirchenförderer ist. Auch ihm gegenüber gilt es, Unabhängigkeit zu bewahren. Immer gespannter folgt man der Aufklärung des „Falls”, die zu einem beträchtlichen Teil die Verdunkelung aller Klarheiten ist, und kann sich kaum mehr vorstellen, dass mit diesem Roman noch etwas schiefgehen könnte.
Doch plötzlich geht es in die andere Richtung. Der Roman, den man begeistert loben wollte, beginnt zu verwässern. Führte Wellershoff die oft Aphorismen verwandten Gedanken der Hauptfigur lange perfekt an der Leine seiner kargen, hochpräzisen Sprache, so entgleiten ihm die Dialoge mehr und mehr. Die Einladung bei dem Freund, der mit dem Unfallopfer fremdgegangen sein soll, erscheint als überflüssiges Geplänkel, aber der doppelte Boden dieses Gesprächs wird sicher noch deutlich, denkt man sich.
Bis ein Sendbote der durch Kirchenaustritte alarmierten Landeskirche auftaucht, mit dem der Jungpfarrer seine Glaubensprobleme diskutiert. Und paradoxerweise gilt auf einmal: Alles, was im ersten Teil des Buchs perfekt in Handlung und Figurencharakteristik eingebunden war, muss nun bis ins Detail versprachlicht, ins Banale gezogen werden. Fragen wie die, ob sich die Kirche glaubenslose Priester vorstellen kann, werden auf schulbuchähnlich formelhafte Weise verhandelt. Das verstärkt sich, als der Landpfarrer, vom hochrangigen Besucher vorsichtshalber in einen zweiwöchigen Urlaub versetzt, in ein evangelisches Tagungszentrum reist, wo zufälligerweise ähnliche Fragen verhandelt werden, über Dutzende Seiten hinweg. Dass Henrichsen zudem eine klischeetriefende Liebschaft mit einer zwanzig Jahre älteren Südamerika-Heimkehrerin ausagieren muss, die als geheimnisvoller Gast bei einer Hochzeit noch überzeugte,überrascht kaum mehr.
Was hat den erfahrenen Wellershoff nur dazu gebracht, ein bis zur Mitte brillantes Buch in der zweiten Hälfte derart in den Sand zu setzen? Warum bricht die Krimihandlung, die sich als erstklassiger Motor menschlich-moralischer Probleme angelassen hat, auf einmal ab und wird erst auf den letzten zehn Seiten wiederaufgenommen? Am Ende wirkt dieses Buch leider wie zwei sehr unterschiedliche Romane. Beinahe so, als sei der erste lange liegen geblieben, und, einiges später, zu einem unverdienten zweiten Teil und Abschluss gekommen. HANS-PETER KUNISCH
DIETER WELLERSHOFF: Der Himmel ist kein Ort. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 300 S., 19,95 Euro.
Dieter Wellershoff Foto: Isolde Ohlbaum
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Ein Landpfarrer als Detektiv – warum nicht? Dieter Wellershoffs neuer Roman „Der Himmel ist kein Ort”
Beinahe jede Provokation, die sich bevorzugt in feuchten und SS-Gebieten bewegt, ist es nur noch dem Namen nach. Bereitwillig wird dann geschrien und geschrieben, es handle sich um ein Wagnis, sich in diese oder jene Figur zu versetzen, doch schon lange ist man sich der mehr oder minder wohlwollenden Aufmerksamkeit des Publikums sicher. Ein Landpfarrer als Held ist dagegen derart abseitig, dass man die Wahl nur bewundern kann. Spätestens seit dem renouveau catholique der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gehört sich so etwas für ernstzunehmende Schriftsteller nicht, und die hohe Zeit des Abbé Prévost und seiner literarischen Verwandten ist erst recht vorbei.
Aber wie gelingt es dann in „Der Himmel ist kein Ort”, den eigenwilligen Protagonistentyp anfangs so selbstverständlich als den richtigen hinzustellen? Der rheinische Protestant Dieter Wellershoff verwickelt seinen jungen Pfarrer Ralf Henrichsen, der seit anderthalb Jahren in einer Landgemeinde tätig ist und deswegen von seiner Freundin verlassen wurde, in eine krimiähnliche Handlung mit raffinierter Tiefendimension.
Henrichsen, der die Notfallseelsorge selbst ins Leben gerufen hat, wird mitten in der Nacht aus dem Schlaf geholt. Ein Mann hat sein Auto samt Kleinfamilie in den Baggersee gefahren. Seine Frau ist tot, sein Kind, das hinten saß und etwas länger Luft hatte, wird mit schwerem Hirnschaden weiter leben. Nur der Fahrer hat sich retten können. Er ist gerade noch ausgestiegen.
Als der Pfarrer bei der Unfallstelle eintrifft, erzählt ihm der Mann, den er zu betreuen hat, erschüttert und in sich verkrochen, er sei von den Lichtern eines entgegenkommenden Autos geblendet worden, habe ausweichen wollen. Beinahe von Anfang an fragt sich der Landpfarrer: Lügt dieser Mann, der vernommen und danach vorläufig entlassen wird? Alle, vom Polizisten über den Notarzt bis hin zu den Eltern der toten jungen Frau, sind mindestens skeptisch. Und je weiter sich die Handlung entwickelt, desto mehr Leute halten den Überlebenden für den Mörder. Ein halbes Jahr vor dem Unfall, erzählt der Beerdigungsunternehmer, hat sich der Vater ein Familiengrab gekauft. Aber warum? Ging es darum, einen Kollektivselbstmord vorzutäuschen? War der makabre Kauf sein Alibi? Oder wollte der Realschullehrer wirklich sterben und bekam es mit der Angst zu tun?
„Attraktiv” ist nicht nur das in Zeiten gewünschter Kinderscharen besonders skandalträchtige Verbrechen des Familienmords. Wellershoffs Landpfarrer ist eine ganz und gar heutige Figur: ein einzelgängerischer junger Mann, der sich in dem viel zu großen, alten Pfarrhaus unwohl fühlt und bei allen Problemen auf für Wellershoff typisch spätexistentialistische Weise von sich abzusehen versucht. Durch das fehlende Zölibat ist er mehr in die Welt verwickelt als ein potentieller katholischer Konkurrent und hat die Probleme aller Verlassenen. Dazu stellt er seinen Glauben auf eine kühle, in sich gekehrte Weise in Frage, wenn er ihn denn überhaupt thematisiert. Auf seine unsichere Weise wirkt er wie ein radikal individuelles Subjekt, das sich gegenüber der Gesellschaft behaupten muss. Wie weit kann ein Einzelner mit seinem Verständnis für einen mutmaßlichen Mörder gehen? Dabei will Henrichsen doch nur die Unschuldsvermutung gelten lassen, ist selber voller Zweifel, möchte den Mann, der sein Telefon abgestellt hat, am liebsten anschreien: Warum hast du es getan?
Geschickt erhöht Wellershoff Zug um Zug die Komplexität des Problems. Der Landpfarrer erfährt, dass es in der Kleinfamilie des Überlebenden tatsächlich massive Probleme gab. Die um zwanzig Jahre jüngere Frau des eifersüchtigen Lehrers, die einmal seine Schülerin war, ging notorisch fremd, auch mit einem Lehrerkollegen, den der Landpfarrer kennt. Was dem mutmaßlichen Täter die heimliche Sympathie des Landpfarrers verschafft, der sich mit ihm identifiziert. Er selber wurde für einen anderen verlassen, hat Ex-Freundin Claudia schon als glücksstrahlenden Teil einer Paarshow im Fernsehen entdeckt. Ebenfalls nicht vereinfachend wirkt, dass der Vater der jungen Frau, der den Todesfahrer mit einer Mordanklage überzieht, als einer der Dorfhonoratioren der verlässlichste Kirchenförderer ist. Auch ihm gegenüber gilt es, Unabhängigkeit zu bewahren. Immer gespannter folgt man der Aufklärung des „Falls”, die zu einem beträchtlichen Teil die Verdunkelung aller Klarheiten ist, und kann sich kaum mehr vorstellen, dass mit diesem Roman noch etwas schiefgehen könnte.
Doch plötzlich geht es in die andere Richtung. Der Roman, den man begeistert loben wollte, beginnt zu verwässern. Führte Wellershoff die oft Aphorismen verwandten Gedanken der Hauptfigur lange perfekt an der Leine seiner kargen, hochpräzisen Sprache, so entgleiten ihm die Dialoge mehr und mehr. Die Einladung bei dem Freund, der mit dem Unfallopfer fremdgegangen sein soll, erscheint als überflüssiges Geplänkel, aber der doppelte Boden dieses Gesprächs wird sicher noch deutlich, denkt man sich.
Bis ein Sendbote der durch Kirchenaustritte alarmierten Landeskirche auftaucht, mit dem der Jungpfarrer seine Glaubensprobleme diskutiert. Und paradoxerweise gilt auf einmal: Alles, was im ersten Teil des Buchs perfekt in Handlung und Figurencharakteristik eingebunden war, muss nun bis ins Detail versprachlicht, ins Banale gezogen werden. Fragen wie die, ob sich die Kirche glaubenslose Priester vorstellen kann, werden auf schulbuchähnlich formelhafte Weise verhandelt. Das verstärkt sich, als der Landpfarrer, vom hochrangigen Besucher vorsichtshalber in einen zweiwöchigen Urlaub versetzt, in ein evangelisches Tagungszentrum reist, wo zufälligerweise ähnliche Fragen verhandelt werden, über Dutzende Seiten hinweg. Dass Henrichsen zudem eine klischeetriefende Liebschaft mit einer zwanzig Jahre älteren Südamerika-Heimkehrerin ausagieren muss, die als geheimnisvoller Gast bei einer Hochzeit noch überzeugte,überrascht kaum mehr.
Was hat den erfahrenen Wellershoff nur dazu gebracht, ein bis zur Mitte brillantes Buch in der zweiten Hälfte derart in den Sand zu setzen? Warum bricht die Krimihandlung, die sich als erstklassiger Motor menschlich-moralischer Probleme angelassen hat, auf einmal ab und wird erst auf den letzten zehn Seiten wiederaufgenommen? Am Ende wirkt dieses Buch leider wie zwei sehr unterschiedliche Romane. Beinahe so, als sei der erste lange liegen geblieben, und, einiges später, zu einem unverdienten zweiten Teil und Abschluss gekommen. HANS-PETER KUNISCH
DIETER WELLERSHOFF: Der Himmel ist kein Ort. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 300 S., 19,95 Euro.
Dieter Wellershoff Foto: Isolde Ohlbaum
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