Berlin 1942: Als Bruno eines Tages nach Hause kommt, werden gerade alle seine Habseligkeiten in Kisten verpackt. Sein Vater wurde befördert und die Familie muss umziehen, an einen weit entfernten Ort, wo es niemanden gibt, mit dem er spielen kann. Ein hoher Zaun trennt ihn von den seltsamen Menschen in gestreiften Anzügen in der Ferne. Aber Bruno beschließt, dass es mehr an diesem verlassenen Ort geben muss, als es den Anschein hat. Er trifft auf einen Jungen, dessen Lebensumstände ganz anders als seine eigenen sind. Die beiden Jungen freunden sich an - und das hat verheerende Folgen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2007Hinter dem hohen Zaun
Ein Junge verschwindet: John Boynes Fabel einer Freundschaft
Die größten Schrecken und die schlimmsten Erfahrungen scheinen sich vor der Sprache zu verschließen. Darüber reden und schreiben müssen wir dennoch. Denn eigentlich drängt alle Wirklichkeit, einschließlich aller Phantasie, in die Sprache. Die Grenzlinie, die das Diktum "Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen" bezeichnet, liegt eben nicht fest, sondern muss vielmehr je nach dem Zusammenhang vor und zurück verschoben werden. Freilich begibt sich, wer dieser Grenze zu nahe kommt, in eine ganz eigentümliche Sprach-Schattenzone. Sprach-Kitsch zerbröselt sofort. Gutwillige Tröstungsprosa verwelkt ebenso umstandslos wie meinungfestes Moralisieren. Aber wie denn sonst?
John Boyne ist mit "Der Junge im gestreiften Pyjama" eine Art minimalistischer Geniestreich gelungen. Er erzählt aus der Perspektive des hellen, ein wenig vereinsamten, höchst autoritär erzogenen neunjährigen Bruno die Geschichte einer Familie im nationalsozialistischen Deutschland. Es handelt sich nicht um irgendeine Familie. Der Vater ist ein hoher Funktionär des Dritten Reiches, eigentlich noch recht jung, aber vorgesehen für "große Aufgaben". Im dritten oder vierten Kriegsjahr kommt solch eine Aufgabe auf ihn zu: Er wird Kommandant in einem Ort in Polen, von dem Bruno sich nur den verballhornten Namen merken kann: Aus-Wisch. Der Vater und mit ihm seine Frau sowie die beiden Kinder, Bruno und die etwas ältere Gretel, ziehen von Berlin fort und in eine Villa an diesem Ort. Den erlebt Bruno als überaus unwirtlich. Von seinem Fenster aus kann er hinter dem Garten einen hohen Zaun und dahinter undeutlich eine große Zahl von Menschen in gestreiften Pyjamas erkennen. Darüber wird in der Familie aber nicht geredet.
Bis hierhin ist die Geschichte eher konventionell erzählt. Man liest sie mit Anteilnahme und Sympathie für den kleinen tapferen Bruno, der sich in der neuen Wohnung entsetzlich langweilt. Was aber im zweiten Teil der Geschichte, Boyne nennt sie eine Fabel, folgt, ist die Entfaltung eines subtilen Wunders, einer zarten Freundschaft zwischen Bruno und dem gleichaltrigen Schmuel durch den Lagerzaun hindurch. Diese Freundschaft ist mehr durch die unterschiedlichen Ängste der beiden Jungen geprägt und durch das ungleich verteilte Nichtwissen über das Lager und das Schicksal seiner Insassen als durch all das, was üblicherweise Neun- und Zehnjährige interessiert. Bruno und Schmuel werden füreinander immer wichtiger. Am Ende der Geschichte ist Bruno verschwunden.
Von diesem Ende her gedacht, ist die Fabel ein würdiger Teil jenes literarischen Genres vom souveränen Verschwinden, das sich im vorigen Jahrhundert entwickelte und großartige Romane umfasst wie "Die drei Sprünge des Wang-Lun" von Alfred Döblin, "Rechts und links" von Joseph Roth oder "Die Mutprobe" von Vladimir Nabokov. Dies sind nun nicht gerade Jugendbücher. "Der Junge im gestreiften Pyjama" hingegen darf und sollte von jungen Lesern in die Hand genommen werden. Wie die Erwachsenen werden sie dem Sog des Buches erliegen und es, wenn sie ein bisschen Übung darin haben, in einem Zuge durchlesen.
Boyne hat es ausgezeichnet verstanden, die innere Unbehaglichkeit der Familienkonstellation deutlich werden zu lassen, und er hat sie zu einem Spannungsantrieb für den Fortgang der Geschichte gemacht. Vor der emotionalen Kargheit in der Familie hebt sich die gegen alle Unwahrscheinlichkeiten wachsende Zartheit der Freundschaft zwischen Bruno und Schmuel umso klarer ab. Die literarische Meisterschaft Boynes zeigt sich an der Konsequenz, mit der er die Geschichte aus Brunos Perspektive erzählt. So paradox es klingt: Im ganzen Buch gibt es deshalb keine einzige Beschreibung einer brutalen Szene in brutaler Sprache. Bruno ahnt, dass das in sich ohnehin leicht abschüssige Familienidyll und das weitere soziale Umfeld in "Aus-Wisch" auf übelster Gewalt beruhen. Aber er nimmt nur staunend Handlungen und Begebenheiten wahr, die ihm bis zum Schluss rätselhaft bleiben. So wird der größte Schrecken mit größtmöglicher Sanftheit beschrieben. Das macht ihn ja deshalb nicht erträglicher - wer das Buch zu Ende gelesen hat, wird unweigerlich erschüttert sein, gleichviel ob erwachsen oder als Jugendlicher.
Boyne kommt ohne jeden sprachlichen Knalleffekt aus, ohne emotionale Überwältigungsversuche seiner Leser. Deshalb wirkt seine Geschichte weder verstörend noch vergröbernd, sondern ganz im Sinne einer Verfeinerung unserer Gefühle. Und während andere Jugendbücher kommen und gehen, wird "Der Junge im gestreiften Pyjama", die Prognose sei gewagt, ein Klassiker werden.
WILFRIED VON BREDOW
John Boyne: "Der Junge im gestreiften Pyjama". Eine Fabel. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. Fischer Schatzinsel, Frankfurt am Main 2007. 267 S., geb., 13,90 [Euro]. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Junge verschwindet: John Boynes Fabel einer Freundschaft
Die größten Schrecken und die schlimmsten Erfahrungen scheinen sich vor der Sprache zu verschließen. Darüber reden und schreiben müssen wir dennoch. Denn eigentlich drängt alle Wirklichkeit, einschließlich aller Phantasie, in die Sprache. Die Grenzlinie, die das Diktum "Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen" bezeichnet, liegt eben nicht fest, sondern muss vielmehr je nach dem Zusammenhang vor und zurück verschoben werden. Freilich begibt sich, wer dieser Grenze zu nahe kommt, in eine ganz eigentümliche Sprach-Schattenzone. Sprach-Kitsch zerbröselt sofort. Gutwillige Tröstungsprosa verwelkt ebenso umstandslos wie meinungfestes Moralisieren. Aber wie denn sonst?
John Boyne ist mit "Der Junge im gestreiften Pyjama" eine Art minimalistischer Geniestreich gelungen. Er erzählt aus der Perspektive des hellen, ein wenig vereinsamten, höchst autoritär erzogenen neunjährigen Bruno die Geschichte einer Familie im nationalsozialistischen Deutschland. Es handelt sich nicht um irgendeine Familie. Der Vater ist ein hoher Funktionär des Dritten Reiches, eigentlich noch recht jung, aber vorgesehen für "große Aufgaben". Im dritten oder vierten Kriegsjahr kommt solch eine Aufgabe auf ihn zu: Er wird Kommandant in einem Ort in Polen, von dem Bruno sich nur den verballhornten Namen merken kann: Aus-Wisch. Der Vater und mit ihm seine Frau sowie die beiden Kinder, Bruno und die etwas ältere Gretel, ziehen von Berlin fort und in eine Villa an diesem Ort. Den erlebt Bruno als überaus unwirtlich. Von seinem Fenster aus kann er hinter dem Garten einen hohen Zaun und dahinter undeutlich eine große Zahl von Menschen in gestreiften Pyjamas erkennen. Darüber wird in der Familie aber nicht geredet.
Bis hierhin ist die Geschichte eher konventionell erzählt. Man liest sie mit Anteilnahme und Sympathie für den kleinen tapferen Bruno, der sich in der neuen Wohnung entsetzlich langweilt. Was aber im zweiten Teil der Geschichte, Boyne nennt sie eine Fabel, folgt, ist die Entfaltung eines subtilen Wunders, einer zarten Freundschaft zwischen Bruno und dem gleichaltrigen Schmuel durch den Lagerzaun hindurch. Diese Freundschaft ist mehr durch die unterschiedlichen Ängste der beiden Jungen geprägt und durch das ungleich verteilte Nichtwissen über das Lager und das Schicksal seiner Insassen als durch all das, was üblicherweise Neun- und Zehnjährige interessiert. Bruno und Schmuel werden füreinander immer wichtiger. Am Ende der Geschichte ist Bruno verschwunden.
Von diesem Ende her gedacht, ist die Fabel ein würdiger Teil jenes literarischen Genres vom souveränen Verschwinden, das sich im vorigen Jahrhundert entwickelte und großartige Romane umfasst wie "Die drei Sprünge des Wang-Lun" von Alfred Döblin, "Rechts und links" von Joseph Roth oder "Die Mutprobe" von Vladimir Nabokov. Dies sind nun nicht gerade Jugendbücher. "Der Junge im gestreiften Pyjama" hingegen darf und sollte von jungen Lesern in die Hand genommen werden. Wie die Erwachsenen werden sie dem Sog des Buches erliegen und es, wenn sie ein bisschen Übung darin haben, in einem Zuge durchlesen.
Boyne hat es ausgezeichnet verstanden, die innere Unbehaglichkeit der Familienkonstellation deutlich werden zu lassen, und er hat sie zu einem Spannungsantrieb für den Fortgang der Geschichte gemacht. Vor der emotionalen Kargheit in der Familie hebt sich die gegen alle Unwahrscheinlichkeiten wachsende Zartheit der Freundschaft zwischen Bruno und Schmuel umso klarer ab. Die literarische Meisterschaft Boynes zeigt sich an der Konsequenz, mit der er die Geschichte aus Brunos Perspektive erzählt. So paradox es klingt: Im ganzen Buch gibt es deshalb keine einzige Beschreibung einer brutalen Szene in brutaler Sprache. Bruno ahnt, dass das in sich ohnehin leicht abschüssige Familienidyll und das weitere soziale Umfeld in "Aus-Wisch" auf übelster Gewalt beruhen. Aber er nimmt nur staunend Handlungen und Begebenheiten wahr, die ihm bis zum Schluss rätselhaft bleiben. So wird der größte Schrecken mit größtmöglicher Sanftheit beschrieben. Das macht ihn ja deshalb nicht erträglicher - wer das Buch zu Ende gelesen hat, wird unweigerlich erschüttert sein, gleichviel ob erwachsen oder als Jugendlicher.
Boyne kommt ohne jeden sprachlichen Knalleffekt aus, ohne emotionale Überwältigungsversuche seiner Leser. Deshalb wirkt seine Geschichte weder verstörend noch vergröbernd, sondern ganz im Sinne einer Verfeinerung unserer Gefühle. Und während andere Jugendbücher kommen und gehen, wird "Der Junge im gestreiften Pyjama", die Prognose sei gewagt, ein Klassiker werden.
WILFRIED VON BREDOW
John Boyne: "Der Junge im gestreiften Pyjama". Eine Fabel. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. Fischer Schatzinsel, Frankfurt am Main 2007. 267 S., geb., 13,90 [Euro]. Ab 11 J.
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