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Henri Helder, Spross einer stolzen Eisenbahnerdynastie, macht eine seltsame Erbschaft: ein Paar handgefertigter Lederschuhe mit einer rätselhaften Botschaft des verschollenen Großvaters. Die Spur seines Vorfahren führt vom Orient über Australien und Indonesien bis in die Südsee. Fabelhafte Gestalten beflügeln bald schon Henris Phantasie: Ahmad, der Derwisch mit dem weisen Tiger, die schöne Seidenraupenzüchterin Siyakuu und David Kalakaua, der letzte König von Hawaii. Packende Geschichten über den Bau der Bagdadbahn, Sabotage im Zweiten Weltkrieg, Kolonialgeschichte und deutsche Teilung drängen…mehr

Produktbeschreibung
Henri Helder, Spross einer stolzen Eisenbahnerdynastie, macht eine seltsame Erbschaft: ein Paar handgefertigter Lederschuhe mit einer rätselhaften Botschaft des verschollenen Großvaters. Die Spur seines Vorfahren führt vom Orient über Australien und Indonesien bis in die Südsee. Fabelhafte Gestalten beflügeln bald schon Henris Phantasie: Ahmad, der Derwisch mit dem weisen Tiger, die schöne Seidenraupenzüchterin Siyakuu und David Kalakaua, der letzte König von Hawaii. Packende Geschichten über den Bau der Bagdadbahn, Sabotage im Zweiten Weltkrieg, Kolonialgeschichte und deutsche Teilung drängen in sein Leben. Reinhard Stöckel erzählt die weitverzweigte Geschichte einer deutschen Familie, die auf wundersame Weise in die Weltläufe des 20. Jahrhunderts verstrickt ist.
Autorenporträt
Reinhard Stöckel, geb. 1956, ist gelernter Bibliothekar, studierte am Leipziger Literaturinstitut, war u. a. als Gießereiarbeiter und Publizist tätig. In den achtziger und neunziger Jahren Arbeit in verschiedenen literarischen Zirkeln. Er lebt mit seiner Familie in Maust bei Cottbus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2009

Als der Derwisch auf den Gleisen saß

Mit der Eisenbahn durch das Jahrhundert des Schreckens: Reinhard Stöckel erzählt in seinem Romandebüt eine verschlungene Familiengeschichte und behält die zahlreichen Erzählfäden souverän in der Hand.

Kaum einer verbindet heute noch etwas Talmihaftes mit der Gattung des Familienromans, das sie zu Zeiten der Buddenbrooks (1901) noch durchaus hatte. Im Gegenteil, sie scheint als Erzählschema für Schicksale des zwanzigsten Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Extreme, ausgezeichnet geeignet. Die Gattung bietet nicht nur die Chance, Geschichte "von unten" lebendig werden zu lassen, sondern auch Täter wie Opfer zu Personen zu machen.

Der Schriftsteller Reinhard Stöckel, Jahrgang 1956 und Absolvent des Leipziger Literaturinstituts, wählt mit seinem späten Debüt "Der Lavagänger" ebenfalls dieses in den letzten Jahren erfolgreiche Genre. Stöckel erzählt über ein Jahrhundert deutsche Familiengeschichte, besser gesagt: Eisenbahnerfamiliengeschichte. Die Eisenbahn, die Gleise als deutscher Schicksalsort sind spätestens seit Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" etabliert. Doch der Horizont der Gleise sind bei Stöckel nicht ausschließlich die Schoa und die Deportationen. Die Eisenbahn steht bei ihm für die Ambivalenz der modernen Technik und des Zivilisationsprozesses.

Henri Helder ist Eisenbahner, wie sein Vater, Groß- und Urgroßvater. Von seinem Vater heißt es einmal, er wolle "die harmonia mundi verwirklichen, Kursbuch um Kursbuch". Das präzise Ineinandergreifen der Fahrpläne ist den Brüggs/Helders der Garant einer kosmischen Ordnung. Henris Urgroßvater ging während des Ersten Weltkrieges als Eisenbahningenieur in die Türkei, um seinen Sohn vorm Kriegsdienst zu schützen. Dort ist die Eisenbahn erstmals ein Mittel zum Genozid, vorerst an den Armeniern, später an den Juden.

Henri Helder, plötzlich seiner Frau ledig, gedemütigt durch die Computer, die die Fahrplanentwicklung übernehmen, begibt sich auf die Suche nach seinem legendenumwobenen Großvater, der einst nach Hawaii auswanderte und dort angeblich über Lava gelaufen sein soll. Henri hat nämlich ein Paar schriftverzierte Lederschuhe geerbt, die sein Opa getragen haben soll. Sie sind neben der Eisenbahn - als Frühstufe der Mobilität - Dingsymbol des Romans. Die Rahmenhandlung ist Henri Helders Spurensuche und seine Reise nach Hawaii zum letzten Lebe- und Sterbeort seines Großvaters.

Reinhard Stöckel führt ein unglaubliches Gewimmel von Figuren ein, Verwandte der Helders, uneheliche Kinder, Neben- und Nebennebenfiguren. Ein Orientierungspunkt ist der ausführliche Stammbaum der Familie im Anhang. Stöckel gelingt es, all diesen Figuren Leben einzuhauchen. Er erzählt ein wenig naiv - jedoch gewollt und kalkuliert. Ein wenig erinnert die Vorliebe fürs Groteske und Skurrile an Edgar Hilsenrath. In der Türkei locken Orientalismen. Der tanzende Derwisch mit einem Löwen wirkt 1915 gerade noch authentisch. Von dem Derwisch stammen auch die ominösen Schuhe des Großvaters, die mit einem Rumi-Vers beschriftet sind: "Willst du die Perle finden, musst du in die Tiefen des Ozeans tauchen."

Das Netz der weitverzweigten Verwandtschaft umfasst das gesamte zwanzigste Jahrhundert. Und die Helders/Brüggs sind ausgesprochen reisefreudig: Anatolien, Hawaii sind nur einige der Romanhandlungsorte. Man liest vom Sitzstreik des Derwischs gegen die Armenier-Deportationen, von einer schicksalsträchtigen Brücke, verschiedenen Überseekolonien und von einer Unzahl merkwürdiger Familienbegebenheiten.

Reinhard Stöckels Roman hat etwas Equilibristisches. Seine Schnitte zwischen dem Ersten Weltkrieg in die Nachwendezeit sind schnell, virtuos schnell. Stöckel jongliert mit dem Panoptikum seiner vielen Figuren, und keine fällt hinter die Bühne, alle behalten Elastizität und Spannung.

Der Held der Gegenwarts-Ebene Henri Helder ist eine Art Homo Faber. Tag für Tag versieht er seinen Eisenbahnerdienst und glaubt an die Allmacht der Ratio, wird erst durch die Trennung von seiner Frau aus seinem Bewusstseinsschlaf geschüttelt. Aber in ihm wiederholt sich im Kleinen die Familiengeschichte im Großen. Glaubt der Urgroßvater noch an die zivilisatorische Macht der Technik, ohne zu übersehen, dass der Erste Weltkrieg nur noch ein Schlachten und kein Krieg mehr ist, so sieht Lavagänger Hans Kaspar Brügg, dass mit der Eisenbahn gemordet wird. Er zieht sich symbolisch auf das Gehen auf Lava zurück, eine Metapher für die Überlebenden der Kriege des Jahrhunderts. "Wir, dachte er, wandern alle auf Lava."

Henris Erweckungserlebnis führt zu seiner Forschungsreise in die Geschichte seiner Familie, aber auch zu einer zu den Welträtseln: "Was steckte da bloß hinter dieser wohlgeordneten Welt?" In der Heldentat seines Großvaters, von der er auf Hawaii erfährt, der ein Kind aus der Lava rettete, scheint eine unverbrüchliche Menschlichkeit auf, wie sie auch in Henris Familiengeschichte immer wieder vorkommt. Alle Ingredienzien zum Kitsch sind da - aber Stöckel gelingt es trotzdem, die heikle Grenze nicht zu übertreten.

Als die Armenier deportiert werden, setzt sich der Derwisch Ahmad mit seinem Löwen auf die Gleise. Das Tier wird getötet, er wird verhaftet und gefoltert. Anschließend ist er halbseitig gelähmt und kann nicht mehr musizieren, ein Schicksalsschlag für einen Sufi. Geschichten wie diese erzählt Stöckel einfach und bisweilen rührend. Technisch ist an diesem Roman nichts auszusetzen, allenfalls, dass ab und zu dem Hang zu raffinierten Zeitsprüngen allzu sehr nachgegeben wird.

Reinhard Stöckel erzählt über hundert Jahre deutsche Familiengeschichte, virtuos, leicht und doch tief, mit einem beeindruckenden Figurenkosmos. Das Geheimnis des Lavagängers trägt über 380 Seiten in diesem deutschen Familienroman, der ein ausgesprochen gelungenes Exemplar seiner Gattung ist.

MARIUS MELLER

Reinhard Stöckel: "Der Lavagänger". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 379 S., geb., 19,95 [Euro].

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