Motte ist sechzehn Jahre alt, als eine anonyme E-Mail seinen Tod ankündigt: Mieser Scherz, denkt er. Doch am nächsten Morgen bemerkt Motte, dass sein Herz nicht mehr pocht und der Spiegel nicht mehr durch seinen Atem beschlägt. Dunkle Jäger und geisterhafte Mädchen folgen ihm und behaupten, dass in Motte etwas Uraltes zu einem Ende kommt. Denn er ist der letzte Engel auf Erden.
(2 mp3-CDs, Laufzeit: 11h 40)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.07.2015Flügel auf
dem Rücken
Der zweite Band des Thrillers „Der Ruf aus dem Eis“
VON MICHAEL SCHMITT
Ich fühlte mich fremd in meinem Körper“, geht als Feststellung eines Sechzehnjährigen in jedem Jugendroman durch. Aber im Fall von Markus, genannt Motte, gelten andere Regeln. Er ist als Mensch gestorben und dann mit Flügeln, aber ohne Geschlecht wieder aufgewacht. Er sei der „letzte Engel“, wird ihm klargemacht, denn er stehe am Ende einer langen Kette gentechnischer Experimente; und er hat plötzlich Feinde, aber auch Helfer, die ihn entweder jagen oder versuchen, ihn zu beschützen. In Zoran Drvenkars Roman Der letzte Engel ist Motte die zentrale Figur. Der erste Band ist vor drei Jahren erschienen, der zweite Band mit dem
Untertitel Der Ruf aus dem Eis führt die 500 000 Jahre umspannende Geschichte nun bis zu ihrem Showdown.
Motte ist dabei als Mittelpunkt der Erzählung kaum beschrieben, wird als unbedarft und überfordert dargestellt, in dieser Erzählung, in der Zoran Drvenkar Kulturgeschichte, Fantasy- und Thrillerelemente ohne Rücksicht auf Genregrenzen miteinander vermischt. Er ist eher Objekt als Subjekt der Handlung. Wer will, kann Anspielungen auf die Populärkultur herausfiltern, etwa auf die Filme der „X-Men“-Serie, in denen ebenfalls Flügel auf dem Rücken eines Halbwüchsigen wachsen. Es marschieren aber auch professionelle Söldner, Geister, Engel und zweihundert Jahre alte Gräfinnen oder Zaren auf, in wechselnden Frontstellungen mit- oder gegeneinander, und alle sind sie Teilnehmer einer Jagd, bei der es letztlich um den Untergang der Menschheit geht.
Vor drei Jahren hat Zoran Drvenkar im ersten Band den Boden dafür bereitet, hat die weit ausgreifende Vorgeschichte von Mottes Verwandlung erzählt. Der nun erschienene zweite Band baut darauf auf, zieht aber andere Register, denn nun herrscht jener Thrill, der sich einem Wettlauf und einem bevorstehenden finalen Duell verdankt. In beiden Bänden sind viele Details, sei es auch nur vage, im gesicherten historischen Wissen verankert; sie werden aber umgeschrieben und anverwandelt, wenn der Roman sie übernimmt und sich in die Lücken der Überlieferung hineinfantasiert. Auch dem kann man nachspüren und sich dabei gut unterhalten.
Der letzte Engel ist kein Roman, der nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit bewertet werden sollte. Er ist im Innersten vor allem ein erzählerisches Experiment mit der Erfahrung von Zeit, von Lebenszeit, Geschichtlichkeit und mythischer Zeit. Das beginnt, wo der unbedarfte Motte sich an der Erfahrung von abgebrühten jahrhundertealten Gegnern reibt. Das setzt sich fort, wo das Verhältnis zwischen der bewahrenden Kraft der Erinnerung als Gegenpol zu Vergänglichkeit und Tod durchgespielt wird. Und mündet schließlich in die Gesamtstruktur eines Romans, der das Prinzip Cliffhanger ausreizt, um alle paar Seiten in einem anderen Jahrtausend, an einem anderen Ort und bei anderen Charakteren zu sein, in stetem Wechsel von Beschleunigung und Verlangsamung des Erzählens.
Erzählte Zeit und Erzählzeit stehen in permanenter Spannung – in seinem 2003 erschienenen Thriller Du bist zu schnell hat Zoran Drvenkar schon einmal damit erfolgreich experimentiert. Wer sich als Leser diesem suggestiven Charakter der Erzählung nicht überlassen will, wird am Letzten Engel vermutlich wenig Geschmack finden. Wer sich darauf einlässt, wird durch viele Überraschungen belohnt und liest vermutlich ohne größere Irritationen über manche Klischees in Sprache und Handlung hinweg. Denn dieser zweite Band hält nicht ganz, was der erste versprochen hat – das Genre Thriller fordert seinen Preis, der Weg zum Showdown wirkt einsträngiger, die rasanten Wechsel von Orten und Zeiten skizzenhafter als im ersten Band. Im Detail lässt sich also manches gegen das Buch einwenden – aber im Ganzen gilt: Welcher andere Roman aus dem weiten Bereich der Jugendliteratur hätte in letzter Zeit so viel gewagt und auch so viel erreicht? (ab 14 Jahre)
Zoran Drvenkar: Der letzte Engel. Band 2: Der Ruf aus dem Eis. cbj 2015. 544 Seiten, 17,99 Euro.
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dem Rücken
Der zweite Band des Thrillers „Der Ruf aus dem Eis“
VON MICHAEL SCHMITT
Ich fühlte mich fremd in meinem Körper“, geht als Feststellung eines Sechzehnjährigen in jedem Jugendroman durch. Aber im Fall von Markus, genannt Motte, gelten andere Regeln. Er ist als Mensch gestorben und dann mit Flügeln, aber ohne Geschlecht wieder aufgewacht. Er sei der „letzte Engel“, wird ihm klargemacht, denn er stehe am Ende einer langen Kette gentechnischer Experimente; und er hat plötzlich Feinde, aber auch Helfer, die ihn entweder jagen oder versuchen, ihn zu beschützen. In Zoran Drvenkars Roman Der letzte Engel ist Motte die zentrale Figur. Der erste Band ist vor drei Jahren erschienen, der zweite Band mit dem
Untertitel Der Ruf aus dem Eis führt die 500 000 Jahre umspannende Geschichte nun bis zu ihrem Showdown.
Motte ist dabei als Mittelpunkt der Erzählung kaum beschrieben, wird als unbedarft und überfordert dargestellt, in dieser Erzählung, in der Zoran Drvenkar Kulturgeschichte, Fantasy- und Thrillerelemente ohne Rücksicht auf Genregrenzen miteinander vermischt. Er ist eher Objekt als Subjekt der Handlung. Wer will, kann Anspielungen auf die Populärkultur herausfiltern, etwa auf die Filme der „X-Men“-Serie, in denen ebenfalls Flügel auf dem Rücken eines Halbwüchsigen wachsen. Es marschieren aber auch professionelle Söldner, Geister, Engel und zweihundert Jahre alte Gräfinnen oder Zaren auf, in wechselnden Frontstellungen mit- oder gegeneinander, und alle sind sie Teilnehmer einer Jagd, bei der es letztlich um den Untergang der Menschheit geht.
Vor drei Jahren hat Zoran Drvenkar im ersten Band den Boden dafür bereitet, hat die weit ausgreifende Vorgeschichte von Mottes Verwandlung erzählt. Der nun erschienene zweite Band baut darauf auf, zieht aber andere Register, denn nun herrscht jener Thrill, der sich einem Wettlauf und einem bevorstehenden finalen Duell verdankt. In beiden Bänden sind viele Details, sei es auch nur vage, im gesicherten historischen Wissen verankert; sie werden aber umgeschrieben und anverwandelt, wenn der Roman sie übernimmt und sich in die Lücken der Überlieferung hineinfantasiert. Auch dem kann man nachspüren und sich dabei gut unterhalten.
Der letzte Engel ist kein Roman, der nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit bewertet werden sollte. Er ist im Innersten vor allem ein erzählerisches Experiment mit der Erfahrung von Zeit, von Lebenszeit, Geschichtlichkeit und mythischer Zeit. Das beginnt, wo der unbedarfte Motte sich an der Erfahrung von abgebrühten jahrhundertealten Gegnern reibt. Das setzt sich fort, wo das Verhältnis zwischen der bewahrenden Kraft der Erinnerung als Gegenpol zu Vergänglichkeit und Tod durchgespielt wird. Und mündet schließlich in die Gesamtstruktur eines Romans, der das Prinzip Cliffhanger ausreizt, um alle paar Seiten in einem anderen Jahrtausend, an einem anderen Ort und bei anderen Charakteren zu sein, in stetem Wechsel von Beschleunigung und Verlangsamung des Erzählens.
Erzählte Zeit und Erzählzeit stehen in permanenter Spannung – in seinem 2003 erschienenen Thriller Du bist zu schnell hat Zoran Drvenkar schon einmal damit erfolgreich experimentiert. Wer sich als Leser diesem suggestiven Charakter der Erzählung nicht überlassen will, wird am Letzten Engel vermutlich wenig Geschmack finden. Wer sich darauf einlässt, wird durch viele Überraschungen belohnt und liest vermutlich ohne größere Irritationen über manche Klischees in Sprache und Handlung hinweg. Denn dieser zweite Band hält nicht ganz, was der erste versprochen hat – das Genre Thriller fordert seinen Preis, der Weg zum Showdown wirkt einsträngiger, die rasanten Wechsel von Orten und Zeiten skizzenhafter als im ersten Band. Im Detail lässt sich also manches gegen das Buch einwenden – aber im Ganzen gilt: Welcher andere Roman aus dem weiten Bereich der Jugendliteratur hätte in letzter Zeit so viel gewagt und auch so viel erreicht? (ab 14 Jahre)
Zoran Drvenkar: Der letzte Engel. Band 2: Der Ruf aus dem Eis. cbj 2015. 544 Seiten, 17,99 Euro.
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"Multitalent Martin Baltscheit interpretiert das vielschichtige Buch großartig (...)." ekz.bibliotheksservice