Produktdetails
- Verlag: Litraton
- ISBN-13: 9783894699222
- Artikelnr.: 26062584
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2002Nachlese zu Schlinks "Vorleser"
Deutsche Literatur, so wird immer wieder geklagt, lasse sich schlecht exportieren. Tatsächlich werden im Ausland immer dieselben Namen genannt, wenn es um deutsche Autoren seit 1945 geht: Günter Grass, Patrick Süskind und neuerdings Bernhard Schlink. Während die literarischen Qualitäten der "Blechtrommel", auch des "Parfüms" unumstritten sind, scheiden sich an Bernhard Schlinks "Vorleser" die Geister - heute offenbar noch mehr als beim Erscheinen des Buches 1995. Der Roman schildert die Liebesgeschichte des fünfzehnjährigen Michael Berg mit der gut zwanzig Jahre älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz im Deutschland der fünfziger Jahre. Nach einer über Monate währenden Affäre mit dem Jungen verschwindet die Geliebte. Jahre später sieht der junge Mann sie in einem Gerichtssaal wieder: Sie ist angeklagt, als Lageraufseherin an dem Massenmord jüdischer Frauen beteiligt gewesen zu sein. Berg, der dem Prozeß als Jurastudent beiwohnt, begreift, daß Hanna Schmitz Analphabetin ist, und er interpretiert ihre Verbrechen als Kaschierungsversuche dieser Schwäche: "Sie kämpfte nicht nur im Prozeß. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann."
Schlinks schmaler Roman, der sich seit 1995 mehr als 500 000mal in Deutschland verkauft hat, wurde von hymnischen Kritiken begleitet. Auch in den Vereinigten Staaten erreichte das Buch mittlerweile eine Auflage von über 750 000, in Großbritannien immerhin von 200 000 Exemplaren. Nun ist auch Schlinks Erzählungsband "Liebesfluchten" (deutsch 2000) in Großbritannien erschienen - und auf einmal wird "Der Vorleser" neu zur Diskussion gestellt. Auf eine insgesamt freundliche Rezension des neuen Buches im "Times Literary Supplement" (TLS) antworteten entrüstete Leserbriefe, die vor allem auf den "Vorleser" eingingen. Der Schriftsteller Gabriel Josipovici klagte, es sei ein "schlecht geschriebenes, sentimentales und moralisch empörendes Buch". Josipovici fragte auch, warum "so viele intelligente Menschen, darunter auch viele Juden", diesen Roman so "ergreifend und tiefgründig" fänden. Jeremy Adler, Germanist am Londoner King's College und Sohn von Hans G. Adler, dem Verfasser von "Theresienstadt 1941-1945", hat eine Antwort: Der Roman impliziere eine Verbindung zwischen Kultur und Barbarei, indem er den Leser glauben lasse, daß Hanna Schmitz vor allem aufgrund ihrer Ungebildetheit zur Mörderin werden konnte. Weil sie später im Gefängnis lesen lernt und dann vor allem Bücher über den Holocaust studiert, Primo Levi und Hannah Arendt, erscheine sie fast wie eine Heilige. Der Leser solle sich in seinem Glauben an "die erlösende Kraft der Literatur" bestätigt finden. Adler bezeichnet den Roman als ein "Kitschbild, das an die Propaganda der Nazis erinnert".
Nachdenklich stimmt, warum es erst jetzt zu dieser Art von Kritik kommt. Noch vor wenigen Jahren hatte George Steiner empfohlen, man möge das Buch "lesen und wiederlesen". Heute erklärt Frank Finlay, Professor für Germanistik in Leeds, Schlinks Roman habe wohl auch deshalb in der englischsprachigen Welt so großen Erfolg gehabt, weil seine schlichte, unkomplizierte Art "eher angelsächsisch" anmute. Zum Erfolg des Buches in England dürfte aber auch beigetragen haben, daß ein deutscher Autor Verständnis für eine Nazi-Täterin aufbringt. Es fallen einem auch manche angelsächsische Bücher ein, die wohl anders aufgenommen worden wären, wenn ihre Autoren Deutsche gewesen wären - Robert Harris' "Fatherland" und "Enigma", aber auch Kressmann Taylors fiktiver Briefwechsel "Adressat unbekannt" sind als Bücher deutscher Autoren schwer vorstellbar. Ein interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist die in Berlin lebende Deutsch-Australierin Rachel Seiffert, die ihren Roman "Die dunkle Kammer" auf englisch geschrieben und zunächst in Großbritannien veröffentlicht hat, wo ihre Geschichte von Menschen, die im Nationalsozialismus Mörder und reizende Verwandte zugleich waren, sogar in die engere Auswahl für den Booker-Preis gekommen ist.
Auch Schlink wurde zunächst gefeiert. Nun hat ihn doch noch eingeholt, was nicht zuletzt durch den Erfolg seines Romans überwunden schien: Das Diktum, daß nur ausländische Autoren frei über alle Aspekte der deutschen Vergangenheit verfügen dürfen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsche Literatur, so wird immer wieder geklagt, lasse sich schlecht exportieren. Tatsächlich werden im Ausland immer dieselben Namen genannt, wenn es um deutsche Autoren seit 1945 geht: Günter Grass, Patrick Süskind und neuerdings Bernhard Schlink. Während die literarischen Qualitäten der "Blechtrommel", auch des "Parfüms" unumstritten sind, scheiden sich an Bernhard Schlinks "Vorleser" die Geister - heute offenbar noch mehr als beim Erscheinen des Buches 1995. Der Roman schildert die Liebesgeschichte des fünfzehnjährigen Michael Berg mit der gut zwanzig Jahre älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz im Deutschland der fünfziger Jahre. Nach einer über Monate währenden Affäre mit dem Jungen verschwindet die Geliebte. Jahre später sieht der junge Mann sie in einem Gerichtssaal wieder: Sie ist angeklagt, als Lageraufseherin an dem Massenmord jüdischer Frauen beteiligt gewesen zu sein. Berg, der dem Prozeß als Jurastudent beiwohnt, begreift, daß Hanna Schmitz Analphabetin ist, und er interpretiert ihre Verbrechen als Kaschierungsversuche dieser Schwäche: "Sie kämpfte nicht nur im Prozeß. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann."
Schlinks schmaler Roman, der sich seit 1995 mehr als 500 000mal in Deutschland verkauft hat, wurde von hymnischen Kritiken begleitet. Auch in den Vereinigten Staaten erreichte das Buch mittlerweile eine Auflage von über 750 000, in Großbritannien immerhin von 200 000 Exemplaren. Nun ist auch Schlinks Erzählungsband "Liebesfluchten" (deutsch 2000) in Großbritannien erschienen - und auf einmal wird "Der Vorleser" neu zur Diskussion gestellt. Auf eine insgesamt freundliche Rezension des neuen Buches im "Times Literary Supplement" (TLS) antworteten entrüstete Leserbriefe, die vor allem auf den "Vorleser" eingingen. Der Schriftsteller Gabriel Josipovici klagte, es sei ein "schlecht geschriebenes, sentimentales und moralisch empörendes Buch". Josipovici fragte auch, warum "so viele intelligente Menschen, darunter auch viele Juden", diesen Roman so "ergreifend und tiefgründig" fänden. Jeremy Adler, Germanist am Londoner King's College und Sohn von Hans G. Adler, dem Verfasser von "Theresienstadt 1941-1945", hat eine Antwort: Der Roman impliziere eine Verbindung zwischen Kultur und Barbarei, indem er den Leser glauben lasse, daß Hanna Schmitz vor allem aufgrund ihrer Ungebildetheit zur Mörderin werden konnte. Weil sie später im Gefängnis lesen lernt und dann vor allem Bücher über den Holocaust studiert, Primo Levi und Hannah Arendt, erscheine sie fast wie eine Heilige. Der Leser solle sich in seinem Glauben an "die erlösende Kraft der Literatur" bestätigt finden. Adler bezeichnet den Roman als ein "Kitschbild, das an die Propaganda der Nazis erinnert".
Nachdenklich stimmt, warum es erst jetzt zu dieser Art von Kritik kommt. Noch vor wenigen Jahren hatte George Steiner empfohlen, man möge das Buch "lesen und wiederlesen". Heute erklärt Frank Finlay, Professor für Germanistik in Leeds, Schlinks Roman habe wohl auch deshalb in der englischsprachigen Welt so großen Erfolg gehabt, weil seine schlichte, unkomplizierte Art "eher angelsächsisch" anmute. Zum Erfolg des Buches in England dürfte aber auch beigetragen haben, daß ein deutscher Autor Verständnis für eine Nazi-Täterin aufbringt. Es fallen einem auch manche angelsächsische Bücher ein, die wohl anders aufgenommen worden wären, wenn ihre Autoren Deutsche gewesen wären - Robert Harris' "Fatherland" und "Enigma", aber auch Kressmann Taylors fiktiver Briefwechsel "Adressat unbekannt" sind als Bücher deutscher Autoren schwer vorstellbar. Ein interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist die in Berlin lebende Deutsch-Australierin Rachel Seiffert, die ihren Roman "Die dunkle Kammer" auf englisch geschrieben und zunächst in Großbritannien veröffentlicht hat, wo ihre Geschichte von Menschen, die im Nationalsozialismus Mörder und reizende Verwandte zugleich waren, sogar in die engere Auswahl für den Booker-Preis gekommen ist.
Auch Schlink wurde zunächst gefeiert. Nun hat ihn doch noch eingeholt, was nicht zuletzt durch den Erfolg seines Romans überwunden schien: Das Diktum, daß nur ausländische Autoren frei über alle Aspekte der deutschen Vergangenheit verfügen dürfen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Bernhard Schlinks Vorleser ist neben der Blechtrommel von Günter Grass wahrscheinlich der international erfolgreichste Roman eines lebenden deutschen Schriftstellers. Eine unaufdringliche Metapher für deutsche Verstrickungen, wie überhaupt Schlink es meisterhaft versteht, das bewußtlose Schweigen der Deutschen in den fünfziger und sechziger Jahren durch seine atmosphärisch dichte Prosa zum Reden zu bringen. Das Buch ist gescheit, geschickt gebaut und sensibel für unausgesprochene Gefühle: eine im Deutschen seltene Verbindung." (Der Tagesspiegel) "Dieser Höhenflug ist einzigartig: Hanna Schmitz und Michael Berg - wer hätte gedacht, daß die beiden einmal zu den berühmten Liebespaaren der Weltliteratur zählen würden? Bernhard Schlinks Der Vorleser markiert für die deutsche Literatur eine Zäsur. Erstmals seit der Blechtrommel und Siegfried Lenz' Deutschstunde gibt es wieder einen Weltbestseller made in Germany, ein Buch also, aus dem Amerikaner und Japaner, Franzosen und Inder ihr Deutschlandbild beziehen." (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt)