Der neue große Roman des Bestsellerautors von »Auerhaus« und »Serpentinen«
Resteuropa, Ende des Jahrhunderts. Bürgerkriege und Naturkatastrophen haben die Welt verwüstet. Eine dicke Schicht Beton hebt den Rumpfkontinent über den steigenden Meeresspiegel. In den Auffanglagern Neuschwanstein und Neulübeck versammeln sich dänische, ghanaische oder niederländische Geflüchtete. Einer von ihnen ist Jan.
Mit nichts am Leib tritt er in die Dienste von A. wie Anna. Für sie war es höchste Zeit, sich einen Trauergastarbeiter zuzulegen.
Tränen bringen Prestige, und nur wer über einen fähigen Vorweiner verfügt, um den wird am Ende überzeugend geweint. Zu echter Trauer ist ohnehin niemand mehr in der Lage. Auch nicht B. wie Berta, Annas Tochter. Berta ist die Erzählerin und das lidlose Auge unserer Geschichte. Und wie sie erzählt: furios, komisch und ohne Mitleid.
Bov Bjergs neuer Roman ist ein kühner Wurf: barock wie ein Menuett, gegenwärtig wie ein Liveticker, fernsichtig wie eine Vorhersage. Und mit absolutem Gehör für Sprache und ihre Möglichkeiten komponiert. Der Vorweiner ist ein preiswürdiges Erzählkunstwerk über eine Welt, die in Staunen versetzt.
Resteuropa, Ende des Jahrhunderts. Bürgerkriege und Naturkatastrophen haben die Welt verwüstet. Eine dicke Schicht Beton hebt den Rumpfkontinent über den steigenden Meeresspiegel. In den Auffanglagern Neuschwanstein und Neulübeck versammeln sich dänische, ghanaische oder niederländische Geflüchtete. Einer von ihnen ist Jan.
Mit nichts am Leib tritt er in die Dienste von A. wie Anna. Für sie war es höchste Zeit, sich einen Trauergastarbeiter zuzulegen.
Tränen bringen Prestige, und nur wer über einen fähigen Vorweiner verfügt, um den wird am Ende überzeugend geweint. Zu echter Trauer ist ohnehin niemand mehr in der Lage. Auch nicht B. wie Berta, Annas Tochter. Berta ist die Erzählerin und das lidlose Auge unserer Geschichte. Und wie sie erzählt: furios, komisch und ohne Mitleid.
Bov Bjergs neuer Roman ist ein kühner Wurf: barock wie ein Menuett, gegenwärtig wie ein Liveticker, fernsichtig wie eine Vorhersage. Und mit absolutem Gehör für Sprache und ihre Möglichkeiten komponiert. Der Vorweiner ist ein preiswürdiges Erzählkunstwerk über eine Welt, die in Staunen versetzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2023Berufsbefähigt zu trauern
Bov Bjergs Roman "Der Vorweiner" führt in eine beklemmende resteuropäische Zukunftsgesellschaft
Bov Bjergs neuer Roman ist visionär. Am Ende eines Augusts, in dem Deutschland zur Hauptferienzeit in sintflutartigem Regen versank, während weite Teile Südeuropas in Flammen standen, teilt "Der Vorweiner" ein klimagewandeltes Deutschland am Ende des 21. Jahrhunderts in eine Westhälfte unter Dauerregen und einen wüsten Osten mit Gürteltieren, Nandus, Wald- und Steppenbränden. Deutschland ist aber nicht mehr Deutschland, sondern Resteuropa. Alle Staaten ringsum sind buchstäblich den Bach heruntergegangen. Österreich am eigenen Nationalismus, die Schweiz an einem mysteriösen Goldpilz, der die Depots in Humus verwandelt hat - "die Champignonzucht macht die Verluste nicht wett". In England wütet die Pest; Italien sowie die Nord- und Ostseeanrainerstaaten versanken im steigenden Meeresspiegel. Mitverursacht durch den dicken Betondamm, mit dem sich Resteuropa alias Deutschland eindeichte und alles außerhalb gnadenlos versenkte.
Wer in dieser auf Deutschland verkleinerten Frontex-Realität aus dem Rest der Welt via Schlauchboot in die Festung Resteuropa gelangt, ohne von Torpedos zerfetzt oder wachsamen Spaziergängern in den Tod getreten zu werden, landet beispielsweise in Neuschwanstein - mangels Tourismus nun Auffanglager. So auch der vom über den ehemaligen Niederlanden schwimmenden Floß stammende Jan. Er ist Vorweiner und somit Angehöriger eines neuen Berufsstands.
Angesichts des Sterbens ringsum hat Resteuropa das Trauern kurzerhand abgeschafft. Für A wie Anna ist dies ein revolutionärer Akt geistiger Hygiene, für ihre Tochter B wie Berta Ausdruck kollektiver Konzentrationsschwäche. Begräbnisse sind ebenso verboten wie Friedhöfe. In doppelsinnigen Zerstreuungsfeiern wird vor wenigen physisch Anwesenden die Asche der Verstorbenen ausgestreut, während alle anderen sich via Internet mit blinder Kamera zuschalten und parallel Hausarbeiten erledigen. Niemand will sich die Blöße des Trauerns geben, gleichwohl jeder formvollendet betrauert werden. Wer also nicht von einer amtlich zugeteilten Nachbarin beschluchzt werden will, legt sich beizeiten einen persönlichen Vorweiner zu, so wie A es mit Jan tut.
Nur die perfekte Performance der Vorweiner sorgt für ein Nachleben via Klicks. Dialektisch kehrt die abgeschaffte Trauer wieder als Luxusgut, das die Oberschicht hartnäckig gegen Begehrlichkeiten der Niederschicht verteidigt. Die Klageweiber traditioneller Gesellschaften haben das Geschlecht gewechselt. Das passt zu einer Geschichte, die vor allem unter Frauen spielt, die den patriarchalen Kapitalismus verinnerlicht haben. Zwischen ihnen und ihren stets aus dem Ausland stammenden Vorweinern herrscht eine Beziehung asexueller, pseudokindlicher Hingabe. Hündisch abgerichtet auf die für Trauer notwendige "Bindung" - und zu diesem Zweck regelmäßig mit ihren untergegangenen Nationalgerichten gefüttert -, investieren die Vorweiner ihr Leben als leeres Warten auf den fremden Tod. In der Hoffnung, vor dem eigenen noch einen Rest Leben in Wohlstand führen zu können. Bis dahin bleiben sie, wie Jan, eine Leerstelle.
Das verdrängte Sterben bestimmt das gesamte "resteuropäische" Leben. Alle Nachrichten, die A im Autoradioradio hastig wegdrückt, berichten über Tode und enden mit Schreien der Hinterbliebenen. Die meisten stammen von ihrer Tochter B., einer studierten Meisterin des modern journalism. In einem vom Dauerregen gefluteten Neuhamburger Kellerappartement entwirft die angeblich viel gebuchte, tatsächlich aber unter dem Existenzminimum lebende Klickbeuterin die Meldungen aus dem Kopf nach wiederkehrender Systematik. Dass sie sich dabei als letzte Quelle für "seriöse Nachrichten" definiert, ist eine Warnung, denn sie erzählt die vorliegende Geschichte. Aus räumlicher Froschperspektive, aber dem Blickwinkel der herrschenden Klasse betrachtet sie kühl ihren Niederschichten-Lover "Pizza-Pete" und beseitigt ihn am Ende genauso wie ehedem A ihren gewalttätigen Mann, B's Vater.
In der Niederschicht - sonst bei Bjerg mitunter Hoffnungsschimmer - sind die oberschichtlichen Verhaltenslehren der Kälte lediglich um ein Grad Körpertemperatur zu stumpfer Brutalität erhitzt. Und nun begehrt die aus Sicht der Oberschicht stumpfe, mit eigens für sie produziertem Bier stillgehaltene Masse auch noch die vermeintlich lukrativen Vorweinerstellen: "Die Niederschicht glaubt tatsächlich, sie könne diese Arbeit so gut machen wie die Ausländer. Sie verstehen nicht, dass sie gar nicht verzweifelt genug sind."
Im Vorweinen erkennt man unschwer eine Poetik der Wahrhaftigkeit und kunstvollen Überformung. Vieles in diesem pandemieversehrten brandaktuellen und hochpolitischen Roman mit seiner mehrfach geschichteten Zeitstruktur ist so fulminant, witzig und bitterböse erzählt wie die Zerstreuungsfeier einer "ewigen Kanzlerin", exquisit beweint von einem Vorweiner-Chor "lauter Staatsbeamte im Offiziersrang . . . sämtlich aufgewachsen in Kamerun und Nigeria", dessen Lebensgrundlage ihre Politik zerstört hat.
Ein raffiniertes Vexierspiel spiegelt unsere Gegenwart als unferne Zukunft einer barocken Vergangenheit und langt dabei ordentlich zu - von Sex mit einem Pizzakarton über diverse Morde an Menschen, Schnecken und einem Schwein. Nicht zufällig evozieren die den Kapiteln vorangestellten Inhaltsangaben sowohl Grimmelshausen als auch Döblin. Barockmusik berieselt die rokokohafte Bootsfahrt der alphabetisch aufgereihten Freundinnen von A, Kirchenlieder Paul Gerhardts die Zerstreuungsfeiern, und A redet ihren Vorweiner Jan mit "er" an, wie die Herrinnen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ihre Domestiken. Die winzigen Kartoffeln, nach denen A in verzweifelter Suche nach der authentischen Erfahrung ihrer kleinbürgerlichen Datschen-Vergangenheit im ausgedörrten märkischen Boden gräbt, mit dem Vorweiner schält und isst, evozieren nicht nur den ebenso kartoffel- wie barockseligen Günter Grass. Als dicke Supermarktware holen sie B schließlich am heimischen Herd ein, lassen sie ihr Picaro-Dasein abschließen und das Erbe der Mutter antreten.
"Die zerfransten Bilder und Gedanken, die Anna in Zeitlupe erlebte, gehörten nicht zusammen und passten nicht aneinander", heißt es am Ende, und tatsächlich bleibt nicht nur das Verhältnis zwischen Memento mori und emotionaler Verweigerung rätselhaft. Womit prosperiert dieses verewigte Deutschland als einsame Insel einer fast vollständig untergegangenen Welt? Woher stammen angesichts eines Klimas, in dem nichts mehr wachsen oder reifen kann, die exquisiten Lebensmittel, die A und B sich von ihrer Köchin zubereiten lassen? Ist die Niederschicht ausgehaltene oder doch ausgebeutete Masse? Bjergs "hohe Kunst der Verknappung" (Jan Wiele) wird angesichts der thematischen Fülle einer dystopischen Welt zum Hemmschuh, und dem barocken Text fehlt eine ebenbürtige Fabulierlust. Oft gerinnt die Lakonie zum Aperçu, und die satirischen Skizzen im letzten Drittel bremsen den Text dabei aus, von der hellsichtigen, aber auch durchsichtigen Allegorie auf unsere Gegenwart zu einem seiner Poetik ebenbürtigen Menetekel zu werden. TINA HARTMANN
Bov Bjerg: "Der Vorweiner". Roman.
Claassen Verlag, München 2023. 240 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bov Bjergs Roman "Der Vorweiner" führt in eine beklemmende resteuropäische Zukunftsgesellschaft
Bov Bjergs neuer Roman ist visionär. Am Ende eines Augusts, in dem Deutschland zur Hauptferienzeit in sintflutartigem Regen versank, während weite Teile Südeuropas in Flammen standen, teilt "Der Vorweiner" ein klimagewandeltes Deutschland am Ende des 21. Jahrhunderts in eine Westhälfte unter Dauerregen und einen wüsten Osten mit Gürteltieren, Nandus, Wald- und Steppenbränden. Deutschland ist aber nicht mehr Deutschland, sondern Resteuropa. Alle Staaten ringsum sind buchstäblich den Bach heruntergegangen. Österreich am eigenen Nationalismus, die Schweiz an einem mysteriösen Goldpilz, der die Depots in Humus verwandelt hat - "die Champignonzucht macht die Verluste nicht wett". In England wütet die Pest; Italien sowie die Nord- und Ostseeanrainerstaaten versanken im steigenden Meeresspiegel. Mitverursacht durch den dicken Betondamm, mit dem sich Resteuropa alias Deutschland eindeichte und alles außerhalb gnadenlos versenkte.
Wer in dieser auf Deutschland verkleinerten Frontex-Realität aus dem Rest der Welt via Schlauchboot in die Festung Resteuropa gelangt, ohne von Torpedos zerfetzt oder wachsamen Spaziergängern in den Tod getreten zu werden, landet beispielsweise in Neuschwanstein - mangels Tourismus nun Auffanglager. So auch der vom über den ehemaligen Niederlanden schwimmenden Floß stammende Jan. Er ist Vorweiner und somit Angehöriger eines neuen Berufsstands.
Angesichts des Sterbens ringsum hat Resteuropa das Trauern kurzerhand abgeschafft. Für A wie Anna ist dies ein revolutionärer Akt geistiger Hygiene, für ihre Tochter B wie Berta Ausdruck kollektiver Konzentrationsschwäche. Begräbnisse sind ebenso verboten wie Friedhöfe. In doppelsinnigen Zerstreuungsfeiern wird vor wenigen physisch Anwesenden die Asche der Verstorbenen ausgestreut, während alle anderen sich via Internet mit blinder Kamera zuschalten und parallel Hausarbeiten erledigen. Niemand will sich die Blöße des Trauerns geben, gleichwohl jeder formvollendet betrauert werden. Wer also nicht von einer amtlich zugeteilten Nachbarin beschluchzt werden will, legt sich beizeiten einen persönlichen Vorweiner zu, so wie A es mit Jan tut.
Nur die perfekte Performance der Vorweiner sorgt für ein Nachleben via Klicks. Dialektisch kehrt die abgeschaffte Trauer wieder als Luxusgut, das die Oberschicht hartnäckig gegen Begehrlichkeiten der Niederschicht verteidigt. Die Klageweiber traditioneller Gesellschaften haben das Geschlecht gewechselt. Das passt zu einer Geschichte, die vor allem unter Frauen spielt, die den patriarchalen Kapitalismus verinnerlicht haben. Zwischen ihnen und ihren stets aus dem Ausland stammenden Vorweinern herrscht eine Beziehung asexueller, pseudokindlicher Hingabe. Hündisch abgerichtet auf die für Trauer notwendige "Bindung" - und zu diesem Zweck regelmäßig mit ihren untergegangenen Nationalgerichten gefüttert -, investieren die Vorweiner ihr Leben als leeres Warten auf den fremden Tod. In der Hoffnung, vor dem eigenen noch einen Rest Leben in Wohlstand führen zu können. Bis dahin bleiben sie, wie Jan, eine Leerstelle.
Das verdrängte Sterben bestimmt das gesamte "resteuropäische" Leben. Alle Nachrichten, die A im Autoradioradio hastig wegdrückt, berichten über Tode und enden mit Schreien der Hinterbliebenen. Die meisten stammen von ihrer Tochter B., einer studierten Meisterin des modern journalism. In einem vom Dauerregen gefluteten Neuhamburger Kellerappartement entwirft die angeblich viel gebuchte, tatsächlich aber unter dem Existenzminimum lebende Klickbeuterin die Meldungen aus dem Kopf nach wiederkehrender Systematik. Dass sie sich dabei als letzte Quelle für "seriöse Nachrichten" definiert, ist eine Warnung, denn sie erzählt die vorliegende Geschichte. Aus räumlicher Froschperspektive, aber dem Blickwinkel der herrschenden Klasse betrachtet sie kühl ihren Niederschichten-Lover "Pizza-Pete" und beseitigt ihn am Ende genauso wie ehedem A ihren gewalttätigen Mann, B's Vater.
In der Niederschicht - sonst bei Bjerg mitunter Hoffnungsschimmer - sind die oberschichtlichen Verhaltenslehren der Kälte lediglich um ein Grad Körpertemperatur zu stumpfer Brutalität erhitzt. Und nun begehrt die aus Sicht der Oberschicht stumpfe, mit eigens für sie produziertem Bier stillgehaltene Masse auch noch die vermeintlich lukrativen Vorweinerstellen: "Die Niederschicht glaubt tatsächlich, sie könne diese Arbeit so gut machen wie die Ausländer. Sie verstehen nicht, dass sie gar nicht verzweifelt genug sind."
Im Vorweinen erkennt man unschwer eine Poetik der Wahrhaftigkeit und kunstvollen Überformung. Vieles in diesem pandemieversehrten brandaktuellen und hochpolitischen Roman mit seiner mehrfach geschichteten Zeitstruktur ist so fulminant, witzig und bitterböse erzählt wie die Zerstreuungsfeier einer "ewigen Kanzlerin", exquisit beweint von einem Vorweiner-Chor "lauter Staatsbeamte im Offiziersrang . . . sämtlich aufgewachsen in Kamerun und Nigeria", dessen Lebensgrundlage ihre Politik zerstört hat.
Ein raffiniertes Vexierspiel spiegelt unsere Gegenwart als unferne Zukunft einer barocken Vergangenheit und langt dabei ordentlich zu - von Sex mit einem Pizzakarton über diverse Morde an Menschen, Schnecken und einem Schwein. Nicht zufällig evozieren die den Kapiteln vorangestellten Inhaltsangaben sowohl Grimmelshausen als auch Döblin. Barockmusik berieselt die rokokohafte Bootsfahrt der alphabetisch aufgereihten Freundinnen von A, Kirchenlieder Paul Gerhardts die Zerstreuungsfeiern, und A redet ihren Vorweiner Jan mit "er" an, wie die Herrinnen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ihre Domestiken. Die winzigen Kartoffeln, nach denen A in verzweifelter Suche nach der authentischen Erfahrung ihrer kleinbürgerlichen Datschen-Vergangenheit im ausgedörrten märkischen Boden gräbt, mit dem Vorweiner schält und isst, evozieren nicht nur den ebenso kartoffel- wie barockseligen Günter Grass. Als dicke Supermarktware holen sie B schließlich am heimischen Herd ein, lassen sie ihr Picaro-Dasein abschließen und das Erbe der Mutter antreten.
"Die zerfransten Bilder und Gedanken, die Anna in Zeitlupe erlebte, gehörten nicht zusammen und passten nicht aneinander", heißt es am Ende, und tatsächlich bleibt nicht nur das Verhältnis zwischen Memento mori und emotionaler Verweigerung rätselhaft. Womit prosperiert dieses verewigte Deutschland als einsame Insel einer fast vollständig untergegangenen Welt? Woher stammen angesichts eines Klimas, in dem nichts mehr wachsen oder reifen kann, die exquisiten Lebensmittel, die A und B sich von ihrer Köchin zubereiten lassen? Ist die Niederschicht ausgehaltene oder doch ausgebeutete Masse? Bjergs "hohe Kunst der Verknappung" (Jan Wiele) wird angesichts der thematischen Fülle einer dystopischen Welt zum Hemmschuh, und dem barocken Text fehlt eine ebenbürtige Fabulierlust. Oft gerinnt die Lakonie zum Aperçu, und die satirischen Skizzen im letzten Drittel bremsen den Text dabei aus, von der hellsichtigen, aber auch durchsichtigen Allegorie auf unsere Gegenwart zu einem seiner Poetik ebenbürtigen Menetekel zu werden. TINA HARTMANN
Bov Bjerg: "Der Vorweiner". Roman.
Claassen Verlag, München 2023. 240 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Hanna Engelmeier wirkt nicht unbedingt überrascht, aber dennoch gut unterhalten von Bov Bjerks satirischer Dystopie. In der betreffenden Zukunft herrscht in einem Kontinent namens "Resteuropa" Wasserknappheit, die Menschen begegnen sich oft als Mörder und haben große Emotionen wie Trauer auf sogenannte Vorweiner, meist aus südlicheren Gebieten Geflüchtete, quasi outgesourced. Dabei gehe es in der eher lose verknüpften, szenenartigen Zusammenstellung "wenig zimperlich" zu. Vom Hineinlegen in Schweinekadaver liest Engelmeier etwa oder vom pragmatischen Mord zur Risikominimierung. Allzu düster werde es aber doch nie, was Engelmeier auf einen lakonischen, zuweilen "aufgekratzten" Erzählton vor allem in kurzen Zusammenfassungen vor jedem Kapitel zurückführt. Ein "enormes komisches Talent" gesteht sie dem Autor hier zu, gewinnt ab und an aber auch den Eindruck eines großen Poetry-Slam-Beitrags. Wie viel sie mit dieser Abgeklärtheit des Grotesken im Blick auf die Zukunft letztlich anfangen kann, bleibt offen, zumindest Bjerks handwerkliches Können scheint die Kritikerin aber zu schätzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Bov Bjerg hat ein neobarockes Kunstwerk verfasst, das in der zeitgenössischen Literatur seinesgleichen sucht.« Carsten Otte SWR
Rezensent Carsten Otte liest Bov Bjergs dystopischen Roman mit großem Interesse: Die Welt ist durch Naturkatastrophen und Kriege zerstört worden, nur noch wenige Orte auf der Welt sind bewohnbar, es gibt eine Unterschicht, bestehend aus Flüchtlingen und Ausgebeuteten, und eine Elite, die dazu angehalten wird, sich politisch-korrekt zu verhalten, zu echter Empathie aber nicht mehr fähig ist, lesen wir. Die Protagonistinnen, Anna und Berta, sind wie der Rest der Elite, auf der Suche nach Erlebnissen und echten Gefühlen, so Otte. Anna arbeitet für eine Nachrichtenagentur und produziert pseudo-wahre Geschichten, die das Mitleid der Eliten-Mitglieder anregen sollen - zum Beispiel die ausführliche Schilderung von der Gefühlswelt einer Mutter, die ihr Kind verliert. Im Todesfall holen sich die Reichen laut Otte einen Vorweiner, der mit seinem Weinen den Tränenfluss der anderen Teilnehmer anregen soll. Bjerg die achtsame Elite aufs Korn nimmt, erweist er sich für den begeisterten Kritiker als "gnadenloser Diskurskiller" - aber mit Tiefe.
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