Siebenbürgen, 1920: Hermann Oberth hat den Traum, eine Mondrakete zu bauen. Dafür geht er nach Göttingen, um Physik zu studieren. Als der Durchbruch zum Greifen nah ist, wird er von seinen Professoren fallen gelassen. Doch dann glaubt jemand an Hermanns Forschung: Wernher von Braun, Mitglied der SS. Statt der Mondrakete soll Hermann die V2 mitentwickeln, die sogenannte »Vergeltungswaffe« der Nazis. Mit voller Wucht stellt sich ihm und auch seiner Frau Tilla die Frage nach der eigenen Verantwortung vor der Geschichte, die immer von Menschen gemacht wird. Umso mehr, als sie zwei ihrer Kinder an den Krieg verlieren ...Ungekürzte Lesung mit Sebastian Rudolph1 mp3-CD ca. 9 h 0 min
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.10.2020Fünf, vier, drei, zwei, eins
Daniel Mellem erzählt von der „Erfindung des Countdowns“ und dem Leben des Raketenpioniers Hermann Oberth
Ein Countdown, was ist das eigentlich? Dieses übertrieben dramatische Herunterzählen zu einem besonderen Ereignis, einem Geburtstag, einem neuen Jahr oder dem Start von irgendetwas, meistens einer Rakete. Der Countdown ist die Ausrichtung der Gegenwart auf ein zukünftiges Ereignis, er ist die Feinjustierung des Jetzt, er richtet den Blick in die Zukunft.
Der erste überlieferte Countdown fand nicht bei einem Raketenstart in Cape Canaveral oder einem ähnlichen Ereignis statt, sondern im Kino. Der deutsche Filmpionier und -visionär Fritz Lang führte ihn 1929 als dramaturgisches Element zum damals noch rein fiktionalen Start einer Mondrakete in seinem Film „Frau im Mond“ ein. Mit dabei als Berater: Hermann Oberth, Raketenpionier und -visionär, der gerade den Bestseller „Wege zur Raumschiffahrt“ veröffentlicht hatte und seit seiner Jugend davon träumte, eine Maschine zu bauen, mit der sich der Weltraum erreichen ließe. Oder wenigstens die Post transportieren. Oder eine feindliche Hauptstadt in Schutt und Asche legen. Was genau man mit der Maschine machte, war für Oberth eigentlich zweitrangig, es ging ihm vor allem darum, überhaupt eine funktionstüchtige Rakete zu konstruieren.
So stellt es sich wenigstens der Physiker und Schriftsteller Daniel Mellem in seinem Debütroman „Die Erfindung des Countdowns“ vor. In der Schilderung der Dreharbeiten von „Frau im Mond“, einer Schlüsselszene des Romans, steht Hermann Oberth direkt neben Fritz Lang, der zum Start der Filmrakete anfängt zu zählen; und vom Kameramann bis zum Techniker weiß keiner, was eigentlich genau wann passieren soll. Oberth stellt in den Raum, ob man denn überhaupt rauf zählen müsse. Lang ist begeistert: „Das ist es – wir zählen runter! Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Dann ist jedem klar, dass die Rakete bei null starten wird. (…) Was für eine großartige Idee von mir.“
Nach dieser Szene hat Mellem seinen Roman benannt, in dem Oberth immer der ist, der danebensteht, wenn etwas passiert: der Erste Weltkrieg, die Entwicklung der V2-Rakete, der Zweite Weltkrieg, die Mondlandung und sogar seine eigene Familie. Mellems Buch ist eine Art Biografie Oberths in Romanform und nimmt sich deshalb auch einige Freiheiten, verdichtet Ereignisse oder lässt sie weg.
In elf Kapiteln – das Buch ist selbst ein Countdown – erzählt der Roman streng chronologisch exemplarische Episoden aus dem Leben Oberths, die immer irgendwie auf sein Lebensthema, die Konstruktion von Raketen anspielen: die Jugend im damaligen Siebenbürgen, Spiele und Wettrennen mit dem Bruder, bei denen noch zum Start bis drei gezählt wurde, Raumfahrtvisionen ausgehend von Jules-Verne-Romanen und viele schräge Gestalten, die Oberth während seiner Studienzeit in Göttingen traf.
Das wird in einem nüchtern-realistischen Ton erzählt, in dem nur manchmal ganz leicht etwas Ironie aufscheint. Historische und erzählerische Details wie die Kleidungsstile der Studenten, Biergläser auf Tischen, ausführliche Beschreibungen der frühen, teils slapstick-artigen Raketentests, lassen die Erzählung etwas hipsterhaft erscheinen. Ein historischer Roman, leicht zu lesen, mit einem abseitigen Thema aber ohne allzu störende Exkurse oder Thesen. Mellem studierte nach seinem mit der Promotion abgeschlossenen Physikstudium am Literaturinstitut in Leipzig, und auch diese Schule merkt man seinem Text an. Fast programmatisch führt der Roman genau jenes filmische Erzählen vor, das den Schreibschulschülern immer vorgeworfen wird. Die Dramaturgie dieses Romans ist mehr an Hollywood-Biografien, als an Literatur geschult. Manche Figuren, wie der strenge Vater, die schweigsame Mutter und in der Bierkneipe raufende Studenten sind zur Karikatur geraten. Die meisten der kurzen Szenen laufen auf eine wenig überraschende Pointe heraus. Auch das erinnert an die Dramaturgie populärer Kinofilme. Formal wagt der Roman nichts, er ist sogar geradezu konventionell, vor allem gegenüber dem großen Raketenroman „Die Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon, der alle Regeln bricht, die hier so brav eingehalten werden.
Uninteressant ist „Die Erfindung des Countdowns“ trotzdem nicht. Immer wieder deutet er trotz der leichten Ironie und der unverkennbaren Sympathien für seine Hauptfigur dessen Ambivalenzen an, besonders in der zweiten Hälfte die rassistischen und rechtsradikalen Neigungen Oberths, der die an der Konstruktion der V2-Rakete beteiligten Zwangsarbeiter kritisch beäugte und als „Volksdeutscher“ aus Siebenbürgen Minderwertigkeitskomplexe hatte, nach dem Krieg aber dennoch in die NPD eintrat und immer wieder von einer Deutschen Weltherrschaft fantasierte, natürlich unter maßgeblicher Beteiligung seiner zu keiner Zeit einsatzfähigen Raketen.
Später, als er wie sein ehemaliger Schüler Wernher von Braun, in dessen Schatten er zeitlebens stand, in den USA weiter an Weltraumraketen forschen darf, wird er vom Ufo-Fieber erfasst und beginnt, Vorträge über fliegende Untertassen und ihre möglicherweise außerirdischen Piloten zu halten. Schön deutet der Roman hier manches nur an und überlässt Schlüsse dem Leser. So sucht der immer mehr zur Esoterik neigende Oberth ein Medium auf, das angeblich mit Toten kommunizieren kann. Seine Frau Tilla – im Roman als zeitlebens unter ihrem kauzigen Erfindergatten Leidende dargestellt – fragt im darauf folgenden Kapitel, wo denn die Alufolie sei. Das schlägt dann auch sanft einen Bogen in die Gegenwart, wo es von der Esoterik und den sogenannten Aluhutträgern zum Rechtsradikalismus derzeit oft auch nicht mehr weit ist, urteilt aber nicht und nimmt diese Fährten auch nicht mehr auf, obwohl man es sich als Leser zwischen all den streng realistischen Schilderungen der Ereignisse manchmal wünschen würde, dass dieser Roman einfach etwas mehr ausprobiert. Nach dem Eintritt in die NPD lässt der Roman die Ehefrau Tilla zumindest dem Rassismus und Nationalismus ihres Mannes vehement widersprechen.
Der Physiker und Raketeningenieur Hermann Oberth erscheint in dieser Erzählung seines Lebens vor allem als sturköpfiger und ignoranter Zukunftsoptimist, der vieles falsch machte, aber unbeirrt daran glaubte, Fortschritt bringe die Menschheit in eine bessere Zukunft. Und dieser Fortschritt müsse von Menschen gemacht werden. Das dachten die Nazis auch, das dachten die frühen Science-Fiction-Autoren, die Ideen von Raketen und Raumfahrt überhaupt erst in die Köpfe der Oberths und von Brauns setzten, das denkt auch heute Elon Musk, der große Raketenbauer der Gegenwart, an den man mehr als einmal beim Lesen erinnert wird.
Utopien und Zukunftsvisionen können etwas Totalitäres haben. Ein Countdown verengt die Zukunft auf ein einziges Ereignis. Aber er stellt die Zukunft auch als etwas Erstrebenswertes vor, als etwas, auf das es sich hinzufiebern lohnt. Besonders an dieses Gefühl erinnert der Roman.
NICOLAS FREUND
Die abseitigen historischen Details
und die leichte Ironie des Romans
lesen sich etwas hipsterhaft
Der ignorante Zukunftsoptimist
glaubt unbeirrt an den Fortschritt
und übersieht die totalitäre Seite
Flugplatz Reinickendorf: Links Rudolf Nebel, Kurt Heinrich (4.v.l.), daneben Hermann Oberth, rechts vorne Klaus Riedel und hinter ihm Wernher von Braun.Foto: SZ
Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns. Roman. Dtv, München 2020. 288 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Daniel Mellem erzählt von der „Erfindung des Countdowns“ und dem Leben des Raketenpioniers Hermann Oberth
Ein Countdown, was ist das eigentlich? Dieses übertrieben dramatische Herunterzählen zu einem besonderen Ereignis, einem Geburtstag, einem neuen Jahr oder dem Start von irgendetwas, meistens einer Rakete. Der Countdown ist die Ausrichtung der Gegenwart auf ein zukünftiges Ereignis, er ist die Feinjustierung des Jetzt, er richtet den Blick in die Zukunft.
Der erste überlieferte Countdown fand nicht bei einem Raketenstart in Cape Canaveral oder einem ähnlichen Ereignis statt, sondern im Kino. Der deutsche Filmpionier und -visionär Fritz Lang führte ihn 1929 als dramaturgisches Element zum damals noch rein fiktionalen Start einer Mondrakete in seinem Film „Frau im Mond“ ein. Mit dabei als Berater: Hermann Oberth, Raketenpionier und -visionär, der gerade den Bestseller „Wege zur Raumschiffahrt“ veröffentlicht hatte und seit seiner Jugend davon träumte, eine Maschine zu bauen, mit der sich der Weltraum erreichen ließe. Oder wenigstens die Post transportieren. Oder eine feindliche Hauptstadt in Schutt und Asche legen. Was genau man mit der Maschine machte, war für Oberth eigentlich zweitrangig, es ging ihm vor allem darum, überhaupt eine funktionstüchtige Rakete zu konstruieren.
So stellt es sich wenigstens der Physiker und Schriftsteller Daniel Mellem in seinem Debütroman „Die Erfindung des Countdowns“ vor. In der Schilderung der Dreharbeiten von „Frau im Mond“, einer Schlüsselszene des Romans, steht Hermann Oberth direkt neben Fritz Lang, der zum Start der Filmrakete anfängt zu zählen; und vom Kameramann bis zum Techniker weiß keiner, was eigentlich genau wann passieren soll. Oberth stellt in den Raum, ob man denn überhaupt rauf zählen müsse. Lang ist begeistert: „Das ist es – wir zählen runter! Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Dann ist jedem klar, dass die Rakete bei null starten wird. (…) Was für eine großartige Idee von mir.“
Nach dieser Szene hat Mellem seinen Roman benannt, in dem Oberth immer der ist, der danebensteht, wenn etwas passiert: der Erste Weltkrieg, die Entwicklung der V2-Rakete, der Zweite Weltkrieg, die Mondlandung und sogar seine eigene Familie. Mellems Buch ist eine Art Biografie Oberths in Romanform und nimmt sich deshalb auch einige Freiheiten, verdichtet Ereignisse oder lässt sie weg.
In elf Kapiteln – das Buch ist selbst ein Countdown – erzählt der Roman streng chronologisch exemplarische Episoden aus dem Leben Oberths, die immer irgendwie auf sein Lebensthema, die Konstruktion von Raketen anspielen: die Jugend im damaligen Siebenbürgen, Spiele und Wettrennen mit dem Bruder, bei denen noch zum Start bis drei gezählt wurde, Raumfahrtvisionen ausgehend von Jules-Verne-Romanen und viele schräge Gestalten, die Oberth während seiner Studienzeit in Göttingen traf.
Das wird in einem nüchtern-realistischen Ton erzählt, in dem nur manchmal ganz leicht etwas Ironie aufscheint. Historische und erzählerische Details wie die Kleidungsstile der Studenten, Biergläser auf Tischen, ausführliche Beschreibungen der frühen, teils slapstick-artigen Raketentests, lassen die Erzählung etwas hipsterhaft erscheinen. Ein historischer Roman, leicht zu lesen, mit einem abseitigen Thema aber ohne allzu störende Exkurse oder Thesen. Mellem studierte nach seinem mit der Promotion abgeschlossenen Physikstudium am Literaturinstitut in Leipzig, und auch diese Schule merkt man seinem Text an. Fast programmatisch führt der Roman genau jenes filmische Erzählen vor, das den Schreibschulschülern immer vorgeworfen wird. Die Dramaturgie dieses Romans ist mehr an Hollywood-Biografien, als an Literatur geschult. Manche Figuren, wie der strenge Vater, die schweigsame Mutter und in der Bierkneipe raufende Studenten sind zur Karikatur geraten. Die meisten der kurzen Szenen laufen auf eine wenig überraschende Pointe heraus. Auch das erinnert an die Dramaturgie populärer Kinofilme. Formal wagt der Roman nichts, er ist sogar geradezu konventionell, vor allem gegenüber dem großen Raketenroman „Die Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon, der alle Regeln bricht, die hier so brav eingehalten werden.
Uninteressant ist „Die Erfindung des Countdowns“ trotzdem nicht. Immer wieder deutet er trotz der leichten Ironie und der unverkennbaren Sympathien für seine Hauptfigur dessen Ambivalenzen an, besonders in der zweiten Hälfte die rassistischen und rechtsradikalen Neigungen Oberths, der die an der Konstruktion der V2-Rakete beteiligten Zwangsarbeiter kritisch beäugte und als „Volksdeutscher“ aus Siebenbürgen Minderwertigkeitskomplexe hatte, nach dem Krieg aber dennoch in die NPD eintrat und immer wieder von einer Deutschen Weltherrschaft fantasierte, natürlich unter maßgeblicher Beteiligung seiner zu keiner Zeit einsatzfähigen Raketen.
Später, als er wie sein ehemaliger Schüler Wernher von Braun, in dessen Schatten er zeitlebens stand, in den USA weiter an Weltraumraketen forschen darf, wird er vom Ufo-Fieber erfasst und beginnt, Vorträge über fliegende Untertassen und ihre möglicherweise außerirdischen Piloten zu halten. Schön deutet der Roman hier manches nur an und überlässt Schlüsse dem Leser. So sucht der immer mehr zur Esoterik neigende Oberth ein Medium auf, das angeblich mit Toten kommunizieren kann. Seine Frau Tilla – im Roman als zeitlebens unter ihrem kauzigen Erfindergatten Leidende dargestellt – fragt im darauf folgenden Kapitel, wo denn die Alufolie sei. Das schlägt dann auch sanft einen Bogen in die Gegenwart, wo es von der Esoterik und den sogenannten Aluhutträgern zum Rechtsradikalismus derzeit oft auch nicht mehr weit ist, urteilt aber nicht und nimmt diese Fährten auch nicht mehr auf, obwohl man es sich als Leser zwischen all den streng realistischen Schilderungen der Ereignisse manchmal wünschen würde, dass dieser Roman einfach etwas mehr ausprobiert. Nach dem Eintritt in die NPD lässt der Roman die Ehefrau Tilla zumindest dem Rassismus und Nationalismus ihres Mannes vehement widersprechen.
Der Physiker und Raketeningenieur Hermann Oberth erscheint in dieser Erzählung seines Lebens vor allem als sturköpfiger und ignoranter Zukunftsoptimist, der vieles falsch machte, aber unbeirrt daran glaubte, Fortschritt bringe die Menschheit in eine bessere Zukunft. Und dieser Fortschritt müsse von Menschen gemacht werden. Das dachten die Nazis auch, das dachten die frühen Science-Fiction-Autoren, die Ideen von Raketen und Raumfahrt überhaupt erst in die Köpfe der Oberths und von Brauns setzten, das denkt auch heute Elon Musk, der große Raketenbauer der Gegenwart, an den man mehr als einmal beim Lesen erinnert wird.
Utopien und Zukunftsvisionen können etwas Totalitäres haben. Ein Countdown verengt die Zukunft auf ein einziges Ereignis. Aber er stellt die Zukunft auch als etwas Erstrebenswertes vor, als etwas, auf das es sich hinzufiebern lohnt. Besonders an dieses Gefühl erinnert der Roman.
NICOLAS FREUND
Die abseitigen historischen Details
und die leichte Ironie des Romans
lesen sich etwas hipsterhaft
Der ignorante Zukunftsoptimist
glaubt unbeirrt an den Fortschritt
und übersieht die totalitäre Seite
Flugplatz Reinickendorf: Links Rudolf Nebel, Kurt Heinrich (4.v.l.), daneben Hermann Oberth, rechts vorne Klaus Riedel und hinter ihm Wernher von Braun.Foto: SZ
Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns. Roman. Dtv, München 2020. 288 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2020Wie der Raketenmann zu Boden geht
Existenz im Rückwärtsgang: Daniel Mellems Roman "Die Erfindung des Countdowns" erzählt die Geschichte des Technikpioniers Hermann Oberth
Hermann Oberth (1894 bis 1989), der Raketenpionier aus Siebenbürgen, stand immer im Schatten Wernher von Brauns. Von Braun, der Opportunist mit dem Charme des weltläufigen Aristokraten, ließ sich nach 1945 nur zu gern von den Siegern auf die hellere Seite des Mondes ziehen: Der Mann, der die V2, also Hitlers Wunderwaffe, mitgebaut hatte, organisierte fortan das Raumfahrtprogramm der Nasa. Oberth hatte es nicht so leicht und machte es sich oft auch selbst schwer: Er war Wissenschaftler, Techniker, Sterngucker, Esoteriker, zeitweilig auch NPD-Mitglied und saß so immer zwischen allen Stühlen.
Nicht zufällig hat Rolf Hochhuth 1961 aus dieser klassischen deutschen Wissenschaftlerbiographie ein Theaterstück namens "Hitlers Dr. Faust" gemacht. Romane und Biopics über sinistre Erfinder, Wissenschaftler und Mathematiker wie Tesla oder Edison haben derzeit ohnehin Konjunktur, und so hat sich jetzt auch der promovierte Physiker Daniel Mellem an dem Stoff versucht. "Die Erfindung des Countdowns" ist die Geschichte eines Himmelsstürmers, der nicht abheben durfte und konnte, und das gilt auch ein wenig für Mellems Prosadebüt. Es verlässt kaum einmal die ausgetreten Pfade der Romanbiographie und orchestriert mit Sätzen wie "Niemand verstand ihn, er war allein" den altbekannten Sound des verkannten Genies.
Man suchte dessen Rat, aber der "Weltraumprofessor" wurde eher belächelt als bewundert und fasste nirgends lange Fuß auf Erden. Fritz Lang engagierte ihn 1928 als Berater für seine "Frau im Mond": ein kurioses Missverständnis. Oberth sollte eine funktionsfähige Technik-Attrappe für eine abenteuerliche Romanze bauen, aber der Start der Filmrakete missglückte. Nach dem Scheitern solcher hochfliegenden Ambitionen arbeitete Oberth dann wieder als Lehrer in der siebenbürgischen Provinz, bis ihm der Krieg unverhofft eine zweite Chance bot: 1941 holte ihn Wernher von Braun an die Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Mit seiner Besserwisserei erarbeitete sich Oberth dort rasch den Ruf eines Querulanten und Amateurs: "Die Zeit des Tüftelns ist vorbei", warnte ihn von Braun, aber Oberth hielt die V2 für technisch, physikalisch und ästhetisch verfehlt. In den fünfziger Jahren holte von Braun ihn dann trotzdem auch zur Nasa, aber selbst im fortschrittsgläubigen Amerika wurde Oberth nicht recht glücklich.
Mellems Roman begleitet Oberth auf zehn Stationen seines Lebenswegs, die brav nach vorne erzählt, aber wie beim Countdown rückwärts heruntergezählt werden. Am Anfang steht naturgemäß die erste Liebe ("Was war ein Mädchen gegen den Mond?"), am Ende der finale Lift-off, der Raketenstart als Sinnbild später Versöhnung: Hermann Oberth und seine Frau Tilla (im wahren Leben, von dessen unspektakulärem Gang Mellem gelegentlich abweicht, hieß sie Mathilda) finden als Ehrengäste beim Start der Apollo-11-Rakete nach Jahren der Entfremdung in Cape Canaveral zögernd wieder zusammen. Die Rollen sind klar verteilt: Hermann ist der lebensuntüchtige Träumer, zerstreute Professor und Bastel-Nerd, der Frau und Kinder um der großen Sache willen vernachlässigt. Tilla bringt robusten Humor und Lockerheit, weibliche Lebensklugheit und politische Weitsicht mit in die Ehe. Schon immer selbstbewusst und politisch klüger, reift sie in Amerika vollends zur emanzipierten Frau und Pazifistin, die ihren rückständigen Gatten vor die Alternative NPD oder Scheidung stellt.
Als Physiker kennt Mellem die Naturgesetze von Wissenschaftlerbiographie und Melodram, er kann gefällig erzählen und Spannung aufbauen. Aber Sasa Stanisics Blurb "Daniel Mellem hat nicht nur einen mitreißenden Roman geschrieben - er hat eine Rakete gezündet!" ist dann doch zu viel. Die Jugenderinnerungen Oberths sind eher romantisch-betulich und bedeutungsschwanger, die Dialoge oft hölzern. "Ganze Großstädte mit der Rakete zerstören? Wünschst du dir das für deine Kinder?", schimpft Tilla. "Früher ging es dir um den Weltraum. Heute geht es dir nur noch um die Rakete." Aus Oberths Ausflug in die Glitzerwelt der Ufa hätte man leicht hellere Funken schlagen können; sein Abdriften ins rechte Milieu wird halb verharmlosend, halb verständnislos beschrieben, die Ethik der Wissenschaft dafür ordnungsgemäß abgehandelt.
Statt gegen Zeit und Logik bis null zu zählen und auch mal fünfe gerade sein zu lassen, folgt Mellem chronologisch brav den Spuren seines Helden. Ursprünglich wollte er Oberth als "idealtypischen Wissenschaftler" zeichnen; von dieser Reißbrettidee kam er zum Glück wieder ab. So ist sein Raketenmann jetzt der deutsche Idealist, der von planetarischen Höhenflügen, Ionentriebwerken, Weltraumspiegeln und Staurohrhubschraubern träumt, aber nur als Zweifelnder, Stürzender und Scheiternder kurz die Schwerkraft der Verhältnisse überwindet.
MARTIN HALTER
Daniel Mellem:
"Die Erfindung des
Countdowns". Roman.
dtv, München 2020. 288 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Existenz im Rückwärtsgang: Daniel Mellems Roman "Die Erfindung des Countdowns" erzählt die Geschichte des Technikpioniers Hermann Oberth
Hermann Oberth (1894 bis 1989), der Raketenpionier aus Siebenbürgen, stand immer im Schatten Wernher von Brauns. Von Braun, der Opportunist mit dem Charme des weltläufigen Aristokraten, ließ sich nach 1945 nur zu gern von den Siegern auf die hellere Seite des Mondes ziehen: Der Mann, der die V2, also Hitlers Wunderwaffe, mitgebaut hatte, organisierte fortan das Raumfahrtprogramm der Nasa. Oberth hatte es nicht so leicht und machte es sich oft auch selbst schwer: Er war Wissenschaftler, Techniker, Sterngucker, Esoteriker, zeitweilig auch NPD-Mitglied und saß so immer zwischen allen Stühlen.
Nicht zufällig hat Rolf Hochhuth 1961 aus dieser klassischen deutschen Wissenschaftlerbiographie ein Theaterstück namens "Hitlers Dr. Faust" gemacht. Romane und Biopics über sinistre Erfinder, Wissenschaftler und Mathematiker wie Tesla oder Edison haben derzeit ohnehin Konjunktur, und so hat sich jetzt auch der promovierte Physiker Daniel Mellem an dem Stoff versucht. "Die Erfindung des Countdowns" ist die Geschichte eines Himmelsstürmers, der nicht abheben durfte und konnte, und das gilt auch ein wenig für Mellems Prosadebüt. Es verlässt kaum einmal die ausgetreten Pfade der Romanbiographie und orchestriert mit Sätzen wie "Niemand verstand ihn, er war allein" den altbekannten Sound des verkannten Genies.
Man suchte dessen Rat, aber der "Weltraumprofessor" wurde eher belächelt als bewundert und fasste nirgends lange Fuß auf Erden. Fritz Lang engagierte ihn 1928 als Berater für seine "Frau im Mond": ein kurioses Missverständnis. Oberth sollte eine funktionsfähige Technik-Attrappe für eine abenteuerliche Romanze bauen, aber der Start der Filmrakete missglückte. Nach dem Scheitern solcher hochfliegenden Ambitionen arbeitete Oberth dann wieder als Lehrer in der siebenbürgischen Provinz, bis ihm der Krieg unverhofft eine zweite Chance bot: 1941 holte ihn Wernher von Braun an die Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Mit seiner Besserwisserei erarbeitete sich Oberth dort rasch den Ruf eines Querulanten und Amateurs: "Die Zeit des Tüftelns ist vorbei", warnte ihn von Braun, aber Oberth hielt die V2 für technisch, physikalisch und ästhetisch verfehlt. In den fünfziger Jahren holte von Braun ihn dann trotzdem auch zur Nasa, aber selbst im fortschrittsgläubigen Amerika wurde Oberth nicht recht glücklich.
Mellems Roman begleitet Oberth auf zehn Stationen seines Lebenswegs, die brav nach vorne erzählt, aber wie beim Countdown rückwärts heruntergezählt werden. Am Anfang steht naturgemäß die erste Liebe ("Was war ein Mädchen gegen den Mond?"), am Ende der finale Lift-off, der Raketenstart als Sinnbild später Versöhnung: Hermann Oberth und seine Frau Tilla (im wahren Leben, von dessen unspektakulärem Gang Mellem gelegentlich abweicht, hieß sie Mathilda) finden als Ehrengäste beim Start der Apollo-11-Rakete nach Jahren der Entfremdung in Cape Canaveral zögernd wieder zusammen. Die Rollen sind klar verteilt: Hermann ist der lebensuntüchtige Träumer, zerstreute Professor und Bastel-Nerd, der Frau und Kinder um der großen Sache willen vernachlässigt. Tilla bringt robusten Humor und Lockerheit, weibliche Lebensklugheit und politische Weitsicht mit in die Ehe. Schon immer selbstbewusst und politisch klüger, reift sie in Amerika vollends zur emanzipierten Frau und Pazifistin, die ihren rückständigen Gatten vor die Alternative NPD oder Scheidung stellt.
Als Physiker kennt Mellem die Naturgesetze von Wissenschaftlerbiographie und Melodram, er kann gefällig erzählen und Spannung aufbauen. Aber Sasa Stanisics Blurb "Daniel Mellem hat nicht nur einen mitreißenden Roman geschrieben - er hat eine Rakete gezündet!" ist dann doch zu viel. Die Jugenderinnerungen Oberths sind eher romantisch-betulich und bedeutungsschwanger, die Dialoge oft hölzern. "Ganze Großstädte mit der Rakete zerstören? Wünschst du dir das für deine Kinder?", schimpft Tilla. "Früher ging es dir um den Weltraum. Heute geht es dir nur noch um die Rakete." Aus Oberths Ausflug in die Glitzerwelt der Ufa hätte man leicht hellere Funken schlagen können; sein Abdriften ins rechte Milieu wird halb verharmlosend, halb verständnislos beschrieben, die Ethik der Wissenschaft dafür ordnungsgemäß abgehandelt.
Statt gegen Zeit und Logik bis null zu zählen und auch mal fünfe gerade sein zu lassen, folgt Mellem chronologisch brav den Spuren seines Helden. Ursprünglich wollte er Oberth als "idealtypischen Wissenschaftler" zeichnen; von dieser Reißbrettidee kam er zum Glück wieder ab. So ist sein Raketenmann jetzt der deutsche Idealist, der von planetarischen Höhenflügen, Ionentriebwerken, Weltraumspiegeln und Staurohrhubschraubern träumt, aber nur als Zweifelnder, Stürzender und Scheiternder kurz die Schwerkraft der Verhältnisse überwindet.
MARTIN HALTER
Daniel Mellem:
"Die Erfindung des
Countdowns". Roman.
dtv, München 2020. 288 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Daniel Mellem hat nicht nur einen mitreißenden Roman geschrieben - er hat eine Rakete gezündet!« Sasa Stanisic