Einen großen Verleger kann man Heinrich Glück nicht nennen. Über vier dürftige Lyrikerinnen ist er mit seinem Wiener Verlag nicht hinausgekommen. Als er der jungen exzentrischen Dagmar begegnet, stellt er sein Leben auf den Kopf, um mit ihr zusammen zu sein. Nach seinem Tod schreibt Dagmar, die längst seine ganze Existenz in Besitz genommen hat, ein Buch über den Tod ihres Mannes. Doch dann weigert sich der langjährige Lektor, das Buch zu publizieren, wird entlassen und beschließt, seine ganze Wahrheit der Wahrheit Dagmars entgegenzustellen. In einem brillanten Vexierspiel zeichnet Gstrein das Porträt einer Frau, die nur noch an eine Wahrheit glauben will: an die ihre.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2010Den Teufel siezt man schließlich auch nicht
Der Kampf um das Nachleben wird in Schriftform ausgetragen: Norbert Gstreins Suhrkamp-Roman "Die ganze Wahrheit" ist ein sehr ernstes Spiel mit dem Genre des Schlüsselromans.
Von Richard Kämmerlings
Was, wenn dieser Roman gar kein Schlüsselroman wäre? Was wäre er, wenn er kein Schlüsselroman wäre? Wenn er nicht "die ganze Wahrheit" über den bedeutendsten deutschsprachigen Verlag des vergangenen Jahrhunderts verspräche, sondern nur "eine" Wahrheit? Jene Wahrheit der Literatur nämlich, die für ihre ganz besondere Erkenntnisweise keinerlei Übereinstimmungen mit "lebenden oder toten Personen" bedarf? Der kluge junge österreichische Autor Clemens J. Setz hat im vergangenen Jahr hinter seinen Roman "Die Frequenzen" einen lustigen Warnhinweis gesetzt: "Alle realen Personen, die sich in den Figuren dieses Romans wiederfinden, werden durch den Akt der Identifikation zwangsläufig fiktiv und zu einem reinen Produkt meiner Phantasie."
Was also, wenn es in Wirklichkeit keinen Suhrkamp Verlag gäbe, keinen Jahrhundertverleger wie Siegfried Unseld, keine Witwe, die als junge Autorin in den Verlag kam, das Herz des berühmten und imposanten Mannes eroberte und nach seinem Tod zur Überraschung der literarischen Öffentlichkeit selbst das Heft in die Hand nahm? Keine Witwe, um die sich die Gerüchte ranken, der Neigungen zum Aberglauben, zu Magiern und Wahrsagern zugeschrieben werden, die theatralische Auftritte liebt, die von jungen Jahren an vom Tod fasziniert ist, ihr eigenes Alter aber schon in ihrem Debüt um ein paar Jahre nach unten korrigierte, die den Namen ihrer jüdischen Großmutter annahm und die jüdische Mystik, die Kabbala, zum Kern ihres eigenen literarischen Werks gemacht hat? Die später ein ebenso faszinierendes wie abstoßendes Buch über das Sterben ihres Mannes veröffentlicht hat? Wenn es diese ganze Suhrkamp-Seifenoper nicht gäbe, die Rechtsstreitigkeiten um Einfluss und Besitz, den gefürchteten Hausanwalt, die vielen Verstoßenen und im Streit Geschiedenen?
All diese Dinge spielen in Norbert Gstreins neuem Roman eine Rolle - aber was, wenn sie überhaupt nur in der Fiktion ein Leben hätten? Spielen wir einmal dieses Gedankenspiel. Was bliebe dann von der "ganzen Wahrheit"? Es bliebe, erstens, ein klassischer Angestelltenroman mit einem bemerkenswert mediokren Personal. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist Wilfried, ehemaliger Lektor in einem Wiener Kleinverlag, mit dem sich der verstorbene Verleger Heinrich Glück in progressiven Literaturkreisen einen Namen machte. Seit langem schon zehrte der Verlag vom Vermögen von Glücks erster Frau; vom Glanz der frühen Zeit waren Jahre vor dessen Tod nur noch die Autorenposter in den Büroräumen und die Reihen der Belegexemplare im Flur übrig geblieben. Neben Wilfried gehören noch zum Personal: der zynische Routinier Broser, der den lieben langen Tag den Sportteil studiert; die beflissene und etwas unbedarfte Sekretärin Frau Hausner, die jedes Manuskript liest und deren Urteil von besonderem Gewicht ist, sowie die taffe, ehrgeizige Kollegin Bella, mit der Wilfried eine Affäre hat.
Und dann ist da eben noch Dagmar, die divenhafte zweite Frau Glücks, die den dümpelnden Verlag zu ihrer Leidenschaft und zum Vehikel ihrer privaten Obsessionen macht. "Wilfredo", wie Dagmar ihn zärtlich und herablassend zugleich nennt, war stets ein treuer Trabant Glücks, sein Vertrauter und Privatsekretär, Dauergast in seiner Hietzinger Villa und schließlich sogar Gesellschafter seiner flatterhaften Frau. Doch nach Heinrich Glücks Tod schwingt sich der Literaturbeamte plötzlich zu tragischer Größe auf und beginnt einen erbitterten Kampf um die Erinnerung.
Gerade mit dieser gar nicht unkomischen Miniaturisierung der Suhrkamp-Kultur auf den Maßstab einer verschlafenen Wiener Provinzbühne wäre "Die ganze Wahrheit", zweitens, eine sehr böse Satire auf den Literaturbetrieb. Als die von esoterischen Jenseitsvorstellungen besessene Dagmar sich anschickt, das Leben des Verlegers und den Verlag auf Vordermann zu bringen, stößt sie auf die katholische Mystikerin Anabel Falkner, eine Backlist-Dichterin, die sich in jungen Jahren, von religiösen Wahnvorstellungen verfolgt, erhängt hatte und zum Mythos wurde. Wie Gstrein die Auswüchse dieses philosemitisch überhöhten Dichterkults beschreibt, macht ihm so schnell keiner nach. Dazu bedarf es einer quasikriminellen literarischen Energie, über die im deutschen Sprachraum nicht (mehr) viele verfügen.
Drittens haben wir es mit einem echten Gstrein zu tun. In jedem seiner Bücher stellt dieser Autor die Grundsatzfrage nach der Erzählbarkeit eines Lebens. Von den ersten aufsehenerregenden Werken Ende der achtziger Jahre an über seinen großen ersten Roman "Das Register" und das biographische Vexierspiel "Die englischen Jahre" bis zum "Handwerk des Tötens" könnte jedes auch - ironisch - "Die ganze Wahrheit" heißen. Während es aber früher darum ging, eine vermeintliche Gewissheit aufzulösen in der Vielfalt der Versionen, in einem Nebel von Gerüchten, Kolportage und Vermutungen, wird hier die Ausgangskonstellation umgekehrt: Denn "die ganze Wahrheit" über Heinrich Glück dargelegt zu haben, beansprucht ja schon die Witwe. Wilfried, der designierte Biograph, stellt sich ins Abseits, als er es ablehnt, Dagmars Manuskript über das Sterben ihres Mannes zu lektorieren. Er weiß, dass diese Illoyalität seine Entlassung bedeutet, und macht sich an eine eigene Darstellung, die ebendas vorliegende Buch ist. Der Erzähler tritt also als Korrektor an, der sich den Geschichtsklitterungen in seiner eigenen Erzählung mit behaupteter Augenzeugenschaft und in ständiger Verteidigungshaltung entgegenstellt.
Norbert Gstrein hat dieses für ihn so typische Erzählverfahren der integrierten Selbstkommentierung inzwischen zu einer handwerklichen Meisterschaft gebracht, die man nur bewundern kann. Ohne dass dies theoriebeladen oder gekünstelt wirken würde, liest man stets zwei Geschichten zugleich, deren Chronologie und deren Spiel mit Vorausdeutungen und Verzögerungen überaus komplex ist. Erzählung und Kommentar sind untrennbar verwoben, Unmittelbarkeit gibt es nicht, alles bleibt im Zwielicht einer literarischen Unschärferelation. Die ganze Biographie des Verlegers, seine umstrittene Vergangenheit im Krieg, seine dubiose Rolle beim Freitod Anabel Falkners, seine Frauengeschichten und schließlich sein Sterben, all das wird im Roman zum Schlachtfeld von Deutungen und Interpretationen, Umdeutungen und Fälschungen. So muss der Lektor eines Abends feststellen, dass Dagmar aus den Fotoalben alle Bilder entfernt hat, die Glück mit seinen Geliebten zeigten. "Ich konnte nur staunen über diese Unverfrorenheit und dieses Vermögen oder wie man es nennen will, diese Skrupellosigkeit, sich die Welt nach den eigenen Wünschen zurechtzuinterpretieren."
In den Augen des Erzählers ist Dagmar zweifellos eine dämonische Gestalt, die Figur ist umgeben von einer Aura des Satanischen und Hexenhaften: ",Du duzt sie?' - ,Natürlich', sagte ich. ,Warum auch nicht?' Ich lachte. ,Den Teufel siezt schließlich auch niemand.'" Da Wilfried einst selbst in den Bann d ieser Frau geriet, von ihr auch erotisch angezogen war, ihr zeitweise sogar als willenloses Werkzeug für ihre Intrigen diente, setzt sich sein ganzer Bericht dem Verdacht aus, seinerseits ein Zerrbild zu sein, ein Produkt enttäuschter Liebe: Jede Äußerung der Witwe muss richtiggestellt, ausradiert und überschrieben werden. Und so ist dieser Roman auch eine Schauergeschichte oder genauer: ein Exorzismus. Wer mit dem Teufel Brüderschaft getrunken hat, muss die Entgiftungsrituale bis zur letzten Konsequenz durchziehen und selbst seine Figuren mit dem bösen Blick aller echten Literatur betrachten.
Alle diese Lesarten sind möglich, alle haben ihren Reiz. Und doch wird niemand einen Roman nur so lesen können, der bereits im ersten Satz seine heikle Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion offenlegt: "Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben, und natürlich kenne ich Dagmar lange genug, um zu wissen, was mich erwartet, wenn nur etwas von dem, was ich über sie in die Welt setze, anfechtbar ist." Gstrein hat einen Schlüsselroman geschrieben, der seinen wahren Charakter auf jeder Seite zum Thema macht, der seinen Respekt vor den befürchteten Winkelzügen des Verlagsjuristen Dr. Mrak dauernd thematisiert, aber boshafteste Unterstellungen gerade dadurch kolportiert, dass er sie ausdrücklich ins Reich der Fabel verweist. Wie etwa das Gerücht, Dagmar könne ihren Mann vergiftet haben: "Ich sage lieber gleich, dass ich nichts davon halte, nicht aus Angst vor dem ehrenwerten Dr. Mrak und seiner Paragraphenreiterei, sondern weil die Sache komplizierter ist und man mit dem Schielen auf eine billige Sensation nur den Blick auf das Wesentliche verstellt." Das ist ein virtuoses, für den Leser auf Dauer freilich nicht unanstrengendes Spiel. Aber worum geht es Gstrein eigentlich?
1994 hat der Autor und Psychoanalytiker Tilmann Moser eine Streitschrift veröffentlicht: "Literaturkritik als Hexenjagd" hieß sie und war eine umfangreiche Kritik der überwiegend negativen Besprechungen, die Ulla Berkéwiczs Roman "Engel sind schwarz und weiß" bekommen hatte. Die Schriftstellerin, damals schon die Ehefrau Siegfried Unselds, hatte in diesem umfangreichen historischen Melodrama eine heilsgeschichtlich-dämonologische Deutung des Nationalsozialismus vorgelegt: die SS als eine Bande von Satansanbetern, die Deutschen als vom Teufel besessenes Volk, Krieg und Widerstand als Endkampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis, der weißen und schwarzen Engel eben.
Schwarze Magie und das Luziferische, Engel, Teufel und der ganze Zauberkram und Hexenkrempel sind einerseits Themen, die das literarische Werk Ulla Berkéwiczs durchziehen, andererseits auch Topoi, die seit langer Zeit zu ihrer Autorenperson gehören. Norbert Gstrein spielt mit diesen Versatzstücken. Das Schlüsselromanhafte findet daher kaum auf der Ebene biographischer Fakten statt, sondern viel subtiler in der Darstellung eines Gedankenkosmos, der eine unauflösliche Verbindung mit bestimmten Charakterzügen eingegangen ist.
Gstrein hat das Werk Ulla Berkéwiczs genau studiert und dessen Motive neu kombiniert. So findet sich der Wirbel um den "Engel"-Roman verfremdet in einem Theaterskandal wieder, als Dagmars krudes Nazi-Endzeit-Stück von Publikum und Kritik zerrissen wird. Der tatsächlich vollkommen verblendete Antiamerikanismus des Essays "Vielleicht werden wir ja verrückt" von 2002 spiegelt sich in dem irren Radiointerview, das Dagmar nach dem 11. September gibt. Der entscheidende Bezugspunkt aber ist "Überlebnis" (2008), Ulla Berkéwiczs autobiographischer Großessay über Tod, Sterben, jüdisch-kabbalistische Jenseitsvorstellungen und das Sterben Siegfried Unselds.
"Ich zweifle, ob ich damit durchkomme, aber sollte es nötig sein, ist das meine Verteidigungsstrategie, würde ich sagen, es ist nichts, was ich in die Welt gebracht habe, es steht alles in ihrem Buch, alles und noch mehr, und wer lesen kann, der lese." Auch das wird zwar im Rahmen der Fiktion gesagt, ist aber doch auch eine unmissverständliche Lektüreanweisung: Man sollte die mystisch verbrämten Intimitäten auf dem Sterbebett kennen, die Ulla Berkéwicz in "Überlebnis" ausgebreitet hat, bevor man Gstrein Geschmacklosigkeit oder Übertreibungen vorwirft. "Die doppelte Pointe und die doppelte Ironie ist, dass ich nichts erfinde und dass sie hingegen alles erfunden hat und man es, wie gesagt, nur nachlesen muss, um sich ein Bild davon zu machen." Die irritierende Bezeichnung "Sterber" jedenfalls findet sich genau so im Buch der Witwe.
Norbert Gstrein hat sich gut abgesichert; aus dem Rechtsstreit um Maxim Billers Roman "Esra" hat er seine Schlüsse gezogen. Bei den überprüfbaren Fakten hat er so viel wie möglich verändert - der bemitleidenswerte Heinrich Glück hat mit dem "ins Gelingen verliebten" Siegfried Unseld beinahe gar nichts mehr zu tun -, um in der Hauptsache ganz entschieden sein zu können: dass die Stilisierung des Todes zum ekstatisch er- und "überlebten" Höhepunkt des Daseins eine Ungeheuerlichkeit ist. Dieses Motiv sollte man ernst nehmen - welche sonstigen Gründe auch immer Gstrein, den langjährigen Suhrkamp-Autor, bewogen haben mögen, diesen gewaltigen artistischen Aufwand für seinen biographischen Revisionismus zu betreiben.
Einen Hinweis gibt der Roman durch etwas, was so auffällig fehlt, dass es gerade dadurch sehr präsent ist. Glück hat keine Kinder; das ganze unseldsche Vater-Sohn-Drama hat kein direktes Pendant gefunden. Denn es ist der Erzähler selbst, der die Position des Sohnes einnimmt, ohne das dies ausgesprochen wird. Er war in den letzten Stunden bei dem Sterbenden - jedenfalls ist das seine Version. Gstrein setzt mit seinem Roman der Vaterfigur seines Verlegers ein Epitaph. Auf der letzten Seite wird das reale Ehrengrab Siegfried Unselds auf dem Frankfurter Hauptfriedhof erwähnt, ein letzter, schneidender, treffender Hieb der Fiktion in die offene Flanke der Wirklichkeit. Der Kampf um das Nachleben wird auf dem Feld der Schrift ausgetragen.
Norbert Gstrein: "Die ganze Wahrheit". Roman. Hanser Verlag, München 2010. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Kampf um das Nachleben wird in Schriftform ausgetragen: Norbert Gstreins Suhrkamp-Roman "Die ganze Wahrheit" ist ein sehr ernstes Spiel mit dem Genre des Schlüsselromans.
Von Richard Kämmerlings
Was, wenn dieser Roman gar kein Schlüsselroman wäre? Was wäre er, wenn er kein Schlüsselroman wäre? Wenn er nicht "die ganze Wahrheit" über den bedeutendsten deutschsprachigen Verlag des vergangenen Jahrhunderts verspräche, sondern nur "eine" Wahrheit? Jene Wahrheit der Literatur nämlich, die für ihre ganz besondere Erkenntnisweise keinerlei Übereinstimmungen mit "lebenden oder toten Personen" bedarf? Der kluge junge österreichische Autor Clemens J. Setz hat im vergangenen Jahr hinter seinen Roman "Die Frequenzen" einen lustigen Warnhinweis gesetzt: "Alle realen Personen, die sich in den Figuren dieses Romans wiederfinden, werden durch den Akt der Identifikation zwangsläufig fiktiv und zu einem reinen Produkt meiner Phantasie."
Was also, wenn es in Wirklichkeit keinen Suhrkamp Verlag gäbe, keinen Jahrhundertverleger wie Siegfried Unseld, keine Witwe, die als junge Autorin in den Verlag kam, das Herz des berühmten und imposanten Mannes eroberte und nach seinem Tod zur Überraschung der literarischen Öffentlichkeit selbst das Heft in die Hand nahm? Keine Witwe, um die sich die Gerüchte ranken, der Neigungen zum Aberglauben, zu Magiern und Wahrsagern zugeschrieben werden, die theatralische Auftritte liebt, die von jungen Jahren an vom Tod fasziniert ist, ihr eigenes Alter aber schon in ihrem Debüt um ein paar Jahre nach unten korrigierte, die den Namen ihrer jüdischen Großmutter annahm und die jüdische Mystik, die Kabbala, zum Kern ihres eigenen literarischen Werks gemacht hat? Die später ein ebenso faszinierendes wie abstoßendes Buch über das Sterben ihres Mannes veröffentlicht hat? Wenn es diese ganze Suhrkamp-Seifenoper nicht gäbe, die Rechtsstreitigkeiten um Einfluss und Besitz, den gefürchteten Hausanwalt, die vielen Verstoßenen und im Streit Geschiedenen?
All diese Dinge spielen in Norbert Gstreins neuem Roman eine Rolle - aber was, wenn sie überhaupt nur in der Fiktion ein Leben hätten? Spielen wir einmal dieses Gedankenspiel. Was bliebe dann von der "ganzen Wahrheit"? Es bliebe, erstens, ein klassischer Angestelltenroman mit einem bemerkenswert mediokren Personal. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist Wilfried, ehemaliger Lektor in einem Wiener Kleinverlag, mit dem sich der verstorbene Verleger Heinrich Glück in progressiven Literaturkreisen einen Namen machte. Seit langem schon zehrte der Verlag vom Vermögen von Glücks erster Frau; vom Glanz der frühen Zeit waren Jahre vor dessen Tod nur noch die Autorenposter in den Büroräumen und die Reihen der Belegexemplare im Flur übrig geblieben. Neben Wilfried gehören noch zum Personal: der zynische Routinier Broser, der den lieben langen Tag den Sportteil studiert; die beflissene und etwas unbedarfte Sekretärin Frau Hausner, die jedes Manuskript liest und deren Urteil von besonderem Gewicht ist, sowie die taffe, ehrgeizige Kollegin Bella, mit der Wilfried eine Affäre hat.
Und dann ist da eben noch Dagmar, die divenhafte zweite Frau Glücks, die den dümpelnden Verlag zu ihrer Leidenschaft und zum Vehikel ihrer privaten Obsessionen macht. "Wilfredo", wie Dagmar ihn zärtlich und herablassend zugleich nennt, war stets ein treuer Trabant Glücks, sein Vertrauter und Privatsekretär, Dauergast in seiner Hietzinger Villa und schließlich sogar Gesellschafter seiner flatterhaften Frau. Doch nach Heinrich Glücks Tod schwingt sich der Literaturbeamte plötzlich zu tragischer Größe auf und beginnt einen erbitterten Kampf um die Erinnerung.
Gerade mit dieser gar nicht unkomischen Miniaturisierung der Suhrkamp-Kultur auf den Maßstab einer verschlafenen Wiener Provinzbühne wäre "Die ganze Wahrheit", zweitens, eine sehr böse Satire auf den Literaturbetrieb. Als die von esoterischen Jenseitsvorstellungen besessene Dagmar sich anschickt, das Leben des Verlegers und den Verlag auf Vordermann zu bringen, stößt sie auf die katholische Mystikerin Anabel Falkner, eine Backlist-Dichterin, die sich in jungen Jahren, von religiösen Wahnvorstellungen verfolgt, erhängt hatte und zum Mythos wurde. Wie Gstrein die Auswüchse dieses philosemitisch überhöhten Dichterkults beschreibt, macht ihm so schnell keiner nach. Dazu bedarf es einer quasikriminellen literarischen Energie, über die im deutschen Sprachraum nicht (mehr) viele verfügen.
Drittens haben wir es mit einem echten Gstrein zu tun. In jedem seiner Bücher stellt dieser Autor die Grundsatzfrage nach der Erzählbarkeit eines Lebens. Von den ersten aufsehenerregenden Werken Ende der achtziger Jahre an über seinen großen ersten Roman "Das Register" und das biographische Vexierspiel "Die englischen Jahre" bis zum "Handwerk des Tötens" könnte jedes auch - ironisch - "Die ganze Wahrheit" heißen. Während es aber früher darum ging, eine vermeintliche Gewissheit aufzulösen in der Vielfalt der Versionen, in einem Nebel von Gerüchten, Kolportage und Vermutungen, wird hier die Ausgangskonstellation umgekehrt: Denn "die ganze Wahrheit" über Heinrich Glück dargelegt zu haben, beansprucht ja schon die Witwe. Wilfried, der designierte Biograph, stellt sich ins Abseits, als er es ablehnt, Dagmars Manuskript über das Sterben ihres Mannes zu lektorieren. Er weiß, dass diese Illoyalität seine Entlassung bedeutet, und macht sich an eine eigene Darstellung, die ebendas vorliegende Buch ist. Der Erzähler tritt also als Korrektor an, der sich den Geschichtsklitterungen in seiner eigenen Erzählung mit behaupteter Augenzeugenschaft und in ständiger Verteidigungshaltung entgegenstellt.
Norbert Gstrein hat dieses für ihn so typische Erzählverfahren der integrierten Selbstkommentierung inzwischen zu einer handwerklichen Meisterschaft gebracht, die man nur bewundern kann. Ohne dass dies theoriebeladen oder gekünstelt wirken würde, liest man stets zwei Geschichten zugleich, deren Chronologie und deren Spiel mit Vorausdeutungen und Verzögerungen überaus komplex ist. Erzählung und Kommentar sind untrennbar verwoben, Unmittelbarkeit gibt es nicht, alles bleibt im Zwielicht einer literarischen Unschärferelation. Die ganze Biographie des Verlegers, seine umstrittene Vergangenheit im Krieg, seine dubiose Rolle beim Freitod Anabel Falkners, seine Frauengeschichten und schließlich sein Sterben, all das wird im Roman zum Schlachtfeld von Deutungen und Interpretationen, Umdeutungen und Fälschungen. So muss der Lektor eines Abends feststellen, dass Dagmar aus den Fotoalben alle Bilder entfernt hat, die Glück mit seinen Geliebten zeigten. "Ich konnte nur staunen über diese Unverfrorenheit und dieses Vermögen oder wie man es nennen will, diese Skrupellosigkeit, sich die Welt nach den eigenen Wünschen zurechtzuinterpretieren."
In den Augen des Erzählers ist Dagmar zweifellos eine dämonische Gestalt, die Figur ist umgeben von einer Aura des Satanischen und Hexenhaften: ",Du duzt sie?' - ,Natürlich', sagte ich. ,Warum auch nicht?' Ich lachte. ,Den Teufel siezt schließlich auch niemand.'" Da Wilfried einst selbst in den Bann d ieser Frau geriet, von ihr auch erotisch angezogen war, ihr zeitweise sogar als willenloses Werkzeug für ihre Intrigen diente, setzt sich sein ganzer Bericht dem Verdacht aus, seinerseits ein Zerrbild zu sein, ein Produkt enttäuschter Liebe: Jede Äußerung der Witwe muss richtiggestellt, ausradiert und überschrieben werden. Und so ist dieser Roman auch eine Schauergeschichte oder genauer: ein Exorzismus. Wer mit dem Teufel Brüderschaft getrunken hat, muss die Entgiftungsrituale bis zur letzten Konsequenz durchziehen und selbst seine Figuren mit dem bösen Blick aller echten Literatur betrachten.
Alle diese Lesarten sind möglich, alle haben ihren Reiz. Und doch wird niemand einen Roman nur so lesen können, der bereits im ersten Satz seine heikle Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion offenlegt: "Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben, und natürlich kenne ich Dagmar lange genug, um zu wissen, was mich erwartet, wenn nur etwas von dem, was ich über sie in die Welt setze, anfechtbar ist." Gstrein hat einen Schlüsselroman geschrieben, der seinen wahren Charakter auf jeder Seite zum Thema macht, der seinen Respekt vor den befürchteten Winkelzügen des Verlagsjuristen Dr. Mrak dauernd thematisiert, aber boshafteste Unterstellungen gerade dadurch kolportiert, dass er sie ausdrücklich ins Reich der Fabel verweist. Wie etwa das Gerücht, Dagmar könne ihren Mann vergiftet haben: "Ich sage lieber gleich, dass ich nichts davon halte, nicht aus Angst vor dem ehrenwerten Dr. Mrak und seiner Paragraphenreiterei, sondern weil die Sache komplizierter ist und man mit dem Schielen auf eine billige Sensation nur den Blick auf das Wesentliche verstellt." Das ist ein virtuoses, für den Leser auf Dauer freilich nicht unanstrengendes Spiel. Aber worum geht es Gstrein eigentlich?
1994 hat der Autor und Psychoanalytiker Tilmann Moser eine Streitschrift veröffentlicht: "Literaturkritik als Hexenjagd" hieß sie und war eine umfangreiche Kritik der überwiegend negativen Besprechungen, die Ulla Berkéwiczs Roman "Engel sind schwarz und weiß" bekommen hatte. Die Schriftstellerin, damals schon die Ehefrau Siegfried Unselds, hatte in diesem umfangreichen historischen Melodrama eine heilsgeschichtlich-dämonologische Deutung des Nationalsozialismus vorgelegt: die SS als eine Bande von Satansanbetern, die Deutschen als vom Teufel besessenes Volk, Krieg und Widerstand als Endkampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis, der weißen und schwarzen Engel eben.
Schwarze Magie und das Luziferische, Engel, Teufel und der ganze Zauberkram und Hexenkrempel sind einerseits Themen, die das literarische Werk Ulla Berkéwiczs durchziehen, andererseits auch Topoi, die seit langer Zeit zu ihrer Autorenperson gehören. Norbert Gstrein spielt mit diesen Versatzstücken. Das Schlüsselromanhafte findet daher kaum auf der Ebene biographischer Fakten statt, sondern viel subtiler in der Darstellung eines Gedankenkosmos, der eine unauflösliche Verbindung mit bestimmten Charakterzügen eingegangen ist.
Gstrein hat das Werk Ulla Berkéwiczs genau studiert und dessen Motive neu kombiniert. So findet sich der Wirbel um den "Engel"-Roman verfremdet in einem Theaterskandal wieder, als Dagmars krudes Nazi-Endzeit-Stück von Publikum und Kritik zerrissen wird. Der tatsächlich vollkommen verblendete Antiamerikanismus des Essays "Vielleicht werden wir ja verrückt" von 2002 spiegelt sich in dem irren Radiointerview, das Dagmar nach dem 11. September gibt. Der entscheidende Bezugspunkt aber ist "Überlebnis" (2008), Ulla Berkéwiczs autobiographischer Großessay über Tod, Sterben, jüdisch-kabbalistische Jenseitsvorstellungen und das Sterben Siegfried Unselds.
"Ich zweifle, ob ich damit durchkomme, aber sollte es nötig sein, ist das meine Verteidigungsstrategie, würde ich sagen, es ist nichts, was ich in die Welt gebracht habe, es steht alles in ihrem Buch, alles und noch mehr, und wer lesen kann, der lese." Auch das wird zwar im Rahmen der Fiktion gesagt, ist aber doch auch eine unmissverständliche Lektüreanweisung: Man sollte die mystisch verbrämten Intimitäten auf dem Sterbebett kennen, die Ulla Berkéwicz in "Überlebnis" ausgebreitet hat, bevor man Gstrein Geschmacklosigkeit oder Übertreibungen vorwirft. "Die doppelte Pointe und die doppelte Ironie ist, dass ich nichts erfinde und dass sie hingegen alles erfunden hat und man es, wie gesagt, nur nachlesen muss, um sich ein Bild davon zu machen." Die irritierende Bezeichnung "Sterber" jedenfalls findet sich genau so im Buch der Witwe.
Norbert Gstrein hat sich gut abgesichert; aus dem Rechtsstreit um Maxim Billers Roman "Esra" hat er seine Schlüsse gezogen. Bei den überprüfbaren Fakten hat er so viel wie möglich verändert - der bemitleidenswerte Heinrich Glück hat mit dem "ins Gelingen verliebten" Siegfried Unseld beinahe gar nichts mehr zu tun -, um in der Hauptsache ganz entschieden sein zu können: dass die Stilisierung des Todes zum ekstatisch er- und "überlebten" Höhepunkt des Daseins eine Ungeheuerlichkeit ist. Dieses Motiv sollte man ernst nehmen - welche sonstigen Gründe auch immer Gstrein, den langjährigen Suhrkamp-Autor, bewogen haben mögen, diesen gewaltigen artistischen Aufwand für seinen biographischen Revisionismus zu betreiben.
Einen Hinweis gibt der Roman durch etwas, was so auffällig fehlt, dass es gerade dadurch sehr präsent ist. Glück hat keine Kinder; das ganze unseldsche Vater-Sohn-Drama hat kein direktes Pendant gefunden. Denn es ist der Erzähler selbst, der die Position des Sohnes einnimmt, ohne das dies ausgesprochen wird. Er war in den letzten Stunden bei dem Sterbenden - jedenfalls ist das seine Version. Gstrein setzt mit seinem Roman der Vaterfigur seines Verlegers ein Epitaph. Auf der letzten Seite wird das reale Ehrengrab Siegfried Unselds auf dem Frankfurter Hauptfriedhof erwähnt, ein letzter, schneidender, treffender Hieb der Fiktion in die offene Flanke der Wirklichkeit. Der Kampf um das Nachleben wird auf dem Feld der Schrift ausgetragen.
Norbert Gstrein: "Die ganze Wahrheit". Roman. Hanser Verlag, München 2010. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ein schlüssiger, ja "virtuoser" Roman - wenn man ihn im Kontext von Gstreins bisherigem Schaffen betrachtet, meint Rezensent Andreas Breitenstein. Denn Gstrein habe sich schon immer mit Rollenspielen und wechselnden Identitäten auseinandergesetzt. Wer kennt schon die ganze Wahrheit über eine Person? Man merkt Breitensteins Rezension an, dass er diesen Pfad eigentlich gern weiterverfolgt hätte, aber er kann es nicht, wie er zugibt. Die "erkennbar realen Bezüge" zur Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkewicz schieben sich ihm immer davor. Statt zu spekulieren, was "stimmt", beschränkt sich der Rezensent von da an aufs Nacherzählen und dabei findet er auch einige Schwachpunkte im Roman: Zum Beispiel, dass die Verlegerin keinen echten Gegenspieler hat. Der Erzähler, ein Lektor des Verlags, hat nicht das "Format" dazu, und auch der verstorbene Verleger-Ehemann bleibe eher blass. Dennoch gelingen dem Autor immer wieder "glänzende Szenen", so Breitenstein, der sich für die Besprechung gern etwas mehr Zeit gelassen hätte. "Doch wer hat die schon?"
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Man liest das Buch mit Vergnügen. Norbert Gstrein ist hier ein sehr souveräner Erzähler. Dabei zuzusehen, wie er zwischen Schärfe, Ironie und Hingabe schwankt, ist eine Freude." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 14.08.10
"Man liest Gstreins Geschichte einer ehrgeizigen und okkultistisch-diabolisch begabten Frau, die durch Heirat einen Verlag enterte und ihren Mann schon zu dessen Lebzeiten zum "Jenseitsraben" verklärte, ehe sie sich in einen regelrechten Sterbe- und Todeskultus hineinsteigerte, mit Vergnügen." Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 14.08.10
"Norbert Gstrein hat einen im Kontext seines Schaffens typischen, stringent gedachten und virtous durchgeführten Roman vorgelegt." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 14.08.10
"Was das Werk leistet, geht über bloße Enthüllungen weit hinaus. Eine Satire auf den Literaturbetrieb, ein echter Gstrein. In jedem seiner Bücher stellt er die Grundsatzfragen nach der Erzählbarkeit eines Lebens." Richard Kämmerlings, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.08.10
"Als Norbert Gstreins Roman erschien, wurde er vor allem als ein Buch gelesen, das sich nur leicht verbrämt mit der Person von Ulla Unseld-Berkéwicz beschäftigt. Damit tut man dem Text Unrecht. ... Das Buch erweist sich als ebenso gewagtes wie gekonntes Romanexperiment, das es jetzt, jenseits des Skandals, zu entdecken gilt." Christian Metz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.10.10
"Man liest Gstreins Geschichte einer ehrgeizigen und okkultistisch-diabolisch begabten Frau, die durch Heirat einen Verlag enterte und ihren Mann schon zu dessen Lebzeiten zum "Jenseitsraben" verklärte, ehe sie sich in einen regelrechten Sterbe- und Todeskultus hineinsteigerte, mit Vergnügen." Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 14.08.10
"Norbert Gstrein hat einen im Kontext seines Schaffens typischen, stringent gedachten und virtous durchgeführten Roman vorgelegt." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 14.08.10
"Was das Werk leistet, geht über bloße Enthüllungen weit hinaus. Eine Satire auf den Literaturbetrieb, ein echter Gstrein. In jedem seiner Bücher stellt er die Grundsatzfragen nach der Erzählbarkeit eines Lebens." Richard Kämmerlings, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.08.10
"Als Norbert Gstreins Roman erschien, wurde er vor allem als ein Buch gelesen, das sich nur leicht verbrämt mit der Person von Ulla Unseld-Berkéwicz beschäftigt. Damit tut man dem Text Unrecht. ... Das Buch erweist sich als ebenso gewagtes wie gekonntes Romanexperiment, das es jetzt, jenseits des Skandals, zu entdecken gilt." Christian Metz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.10.10