Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs und drei junge Menschen am Abgrund der Katastrophe
Wien 1914: Das Zentrum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, steht Kopf. Noch sechsunddreißig Stunden, dann läuft das deutsche Ultimatum ab. Die Stadt ist ein reißender Strom, in allen Straßen bricht sich die Kriegsbegeisterung der jungen Generation Bahn. Mitten in diesen Taumel gerät Hans, ein Pferdeknecht aus Tirol, der sich auf den Weg in die Metropole gemacht hat, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufzusuchen. Dort angekommen trifft er auf Adam, einen musisch begabten Adligen, und Klara, die als eine der ersten Frauen an der Universität Wien im Fach Mathematik promovieren wird. Gemeinsam verbringen die drei jungen Menschen den letzten Abend vor der Mobilmachung - in einer Stadt, die sich ihrem Zugriff mehr und mehr zu entziehen droht.
Ungekürzte Lesung mit Cornelius Obonya
2 MP3-CDs, 10h 56min
Wien 1914: Das Zentrum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, steht Kopf. Noch sechsunddreißig Stunden, dann läuft das deutsche Ultimatum ab. Die Stadt ist ein reißender Strom, in allen Straßen bricht sich die Kriegsbegeisterung der jungen Generation Bahn. Mitten in diesen Taumel gerät Hans, ein Pferdeknecht aus Tirol, der sich auf den Weg in die Metropole gemacht hat, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufzusuchen. Dort angekommen trifft er auf Adam, einen musisch begabten Adligen, und Klara, die als eine der ersten Frauen an der Universität Wien im Fach Mathematik promovieren wird. Gemeinsam verbringen die drei jungen Menschen den letzten Abend vor der Mobilmachung - in einer Stadt, die sich ihrem Zugriff mehr und mehr zu entziehen droht.
Ungekürzte Lesung mit Cornelius Obonya
2 MP3-CDs, 10h 56min
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2023Geheimcodes aus dem Lumpenproletariat
Wie funktioniert die Manipulation der Massen – und wie verhält man sich zu ihr? Raphaela Edelbauers
glänzender Roman „Die Inkommensurablen“ über den Kriegsausbruch von 1914
VON HELMUT BÖTTIGER
Die Literatur hatte bereits im 20. Jahrhundert ein Legitimationsproblem. Davon wurde etwa Robert Musil in seinem berühmten „Mann ohne Eigenschaften“ umgetrieben. In der Zeit vor ihm konnte die Literatur noch vergleichbar leicht in die Leerstellen vordringen, die die üblichen Deutungs- und Welterklärungsversuche übrig ließen. Doch inzwischen übernahmen dies immer souveräner Naturwissenschaften, Mathematik oder die Psychoanalyse und drohten die Literatur zu einem unterhaltsamen Randphänomen zu machen. Musil wagte ein groß angelegtes Experiment. Er beschrieb in einer brillant-irrwitzigen Versuchsanordnung die Zustände in Wien kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und er tat das im Bewusstsein der Dreißigerjahre, als schon vieles auf einen Zweiten hindeutete. Sein „Mann ohne Eigenschaften“ zitierte und unterlief die Diskurse seiner Zeit – und war ihnen gleichzeitig voraus.
Die 1990 in Wien geborene Raphaela Edelbauer unternimmt jetzt eine genau durchdachte Parallelaktion. Sie dockt an Musil an, stellt den 1. August 1914, den Tag der deutschen Kriegserklärung, in den Mittelpunkt ihres neuen Romans und macht es sich zur Aufgabe, Musils Beweisführung, wozu Literatur trotz allem in der Lage sein könnte, unter heutigen Bedingungen zu wiederholen. Doch da der Umgang mit literarischen Techniken mittlerweile anders funktioniert, täuscht sie zunächst ein bisschen darüber hinweg, was sie da vorhat, und lockt mit einem dichten Erzählton.
Am Anfang sitzt der 17-jährige Bauernknecht Hans, der noch nie aus seinem Tiroler Tal herausgekommen ist, im Nachtzug von Innsbruck nach Wien, und die äußeren Umstände werden so packend und detailreich geschildert, dass man meinen könnte, in einen stimmungsvollen historischen Roman hineinversetzt zu werden: die rumänischen Waggongenossen, das habsburgische Vielvölkergemisch, die quirlige Metropole Wien mit ihren technischen Errungenschaften, den diversen Tageszeitungen und der modernen Trambepolsterung.
Hans ist von seinem Hof ausgebüchst und kommt fast mittellos in Wien an. In der Tasche hat er nur die Adresse einer Psychoanalytikerin namens Helene Cheresch, von ihr möchte er sich behandeln lassen. Das ist, angesichts dessen, wie Hans bisher ins Bild gerückt ist, eine erste Irritation, es verweist auf sein Geheimnis, und langsam greifen mehrere Räder ineinander: Raphaela Edelbauer will weit mehr, als bloß eine spannende Geschichte zu erzählen. Politische und wissenschaftliche Diskurse geraten in die Handlung, sodass das Geschehen an der Oberfläche vor allem ornamentale Reize für Unter- und Abgründiges liefert.
Wie traumwandlerisch lernt Hans zwei Freunde kennen, mit denen er die nächsten 24 Stunden verbringen wird, die geheimnisvolle Klara und den reichen Aristokratensohn Adam. Die beiden sind schon länger Analysanden bei Helene Cheresch. Ganz selbstverständlich nimmt der Bratschist Adam Hans mit zu einer Probe von Arnold Schönbergs skandalumwitterten Zweitem Streichquartett op. 10 und anschließend zu einem Abendessen in seinem konservativ-soignierten Elternhaus. Danach folgt ein orgiastischer Streifzug durch die nächtliche Wiener Halb- und Unterwelt.
Die drei Helden des Romans sind an diesem Tag der Kriegsbegeisterung offenkundig Inkommensurable, wie es der Titel programmatisch verheißt – ein gravitätisches Wort, das sofort in den ästhetischen Kosmos von Robert Musil führt. Nicht von ungefähr hebt die Musilforscherin Inka Mülder-Bach das „Inkommensurable und Unzugängliche seiner Prosa“ hervor, und Hartmut Böhme spricht davon, dass bei Musil „die Inkommensurabilität des Anderen zur Verzweiflung einer diesem gegenüber vermittlungslosen Vernunft“ wird – das muss man zweimal lesen, aber es handelt sich um genau das, was Raphaela Edelbauer in ungemein lebendigerer Sprache an ihren Figuren durchspielt. Bei ihr könnte „Die Inkommensurablen“ fast der Name einer Avantgarde-Pop-Band sein. Das Bestechende besteht jedoch darin, dass „Die Inkommensurablen“ auch der Titel des wörtlich wiedergegebenen Vortrags ist, den die Mathematikstudentin Klara in ihrem Rigorosum über die irrationalen Zahlen hält.
Mit ihren mathematischen, historischen und anderweitig theoretischen Exkursionen bewegt sich Raphaela Edelbauer in derselben essayistischen Sphäre, auf die schon das Erzählen Robert Musils hinsteuerte. Ab einem bestimmten Punkt, der für einen Schriftsteller aus Konkurrenzgründen besonders brisant ist, geraten die exakten Wissenschaften in die Zone des Imaginären. Und hier beweist die Autorin, dass das Fantastische das ureigene Heimspiel der Literatur ist. Sie verschiebt ständig die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, und mitunter agiert sie dabei hart realistisch. So wird die Probe der vier Schönberg-Interpreten mit pointierten Dialogen, der Beschwörung musikalischer Obsessionen und einer sekündlich bedrohlicher werdenden politischen Auseinandersetzung zwischen den Musikern zu einem intensiven Kammerspiel über die Atmosphäre von 1914. Oder die Abendgesellschaft im Haus der Grafen Jesenky – sie zeigt eine bis ins Satirische genaue Typologie der herrschenden Schicht vor dem Zerfall des Habsburgerreichs.
Ohne dass an irgendeiner Stelle konkrete Aktualitätsbezüge auftauchen, beleuchtet Raphaela Edelbauer den Tag des Kriegsausbruchs, der die bürgerliche Gesellschaft symbolhaft verdichtet, mit dem Erkenntnisinteresse von heute. Wie funktioniert die Manipulation der Massen – und wie verhält man sich zu ihr? Bei Hans prallen die Erfahrungen der bäuerlichen Unterschicht und die Riten der höheren Gesellschaft abrupt aufeinander, und die akademische Aufsteigerin Klara stammt aus dem Lumpenproletariat.
Ein besonderes Augenmerk legt dieser Roman neben der Klassenfrage auf die Abweichungen von den landläufigen sexuellen Praktiken: so im erotischen Spiel zwischen Klara und Elisabeth unter dem Tisch der Nachtspelunke „Meininger“ oder in den exzessiven Szenen im nur durch Geheimcodes erreichbaren Etablissement „Trabant“ in der Vorstadt, die nebenbei auch mit den Bühnenbildern von Schnitzlers „Traumnovelle“ kokettieren. „Die Inkommensurablen“ nehmen das Bewusstsein und Treiben des 1. August 1914 mit den Sinnen der Gegenwart wahr.
Es geht Schlag auf Schlag. Dass Hans, Klara und Adam auffällige psychische Dispositionen und eigenartige Geschichten haben, spielt für das Erzählen selbst eine große Rolle. Es gibt Traumsequenzen, die Thrillerelemente haben, wie sie bereits in Raphaela Edelbauers scheinbar völlig anders angelegtem Science-Fiction- und Programmier-Roman „Dave“ zu finden waren, und raffinierte mediale Inszenierungen. Diese Autorin ist eine virtuose Diskurs-Jongleurin. Sie stellt, im Zeitalter des digitalen Umbaus, die Musil’sche Frage an die Literatur neu: es geht um ihre Widerständigkeit gegen die IT-Logik, nach der nur ist, was schaltbar ist (so Friedrich Kittlers dystopische Formel).
Zum Showdown kommt es draußen auf dem Land, in einem im Lauf des Textes visionär aufgebauten und dann plötzlich dekonstruierten Dorf, und damit wird die Anlage des Romans selbst kommentiert. Es gibt keine Gewissheiten. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und angesichts des Faschismus trieb viele Schriftsteller und Intellektuelle das Phänomen der Massensuggestion um. Raphaela Edelbauer bezieht es in ihrem glänzenden Roman auf die Gegenwart. In ihrem Sommer von 1914 kann man auch Donald Trump und andere, viel spätere politische Unfälle erkennen.
Ein orgiastischer Streifzug durch
die Wiener Halb- und Unterwelt
am Vorabend einer Zeitenwende
Raphaela Edelbauer:
Die Inkommensurablen. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2023.
352 Seiten, 25 Euro.
Weltausstellung in
Wien 1898: die aristokratische Zeit, die im Roman von
Raphaela Edelbauer (unten) gerade endet.
Foto: Fine Art Images/Heritage Images/
imago/R. Edelbauer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie funktioniert die Manipulation der Massen – und wie verhält man sich zu ihr? Raphaela Edelbauers
glänzender Roman „Die Inkommensurablen“ über den Kriegsausbruch von 1914
VON HELMUT BÖTTIGER
Die Literatur hatte bereits im 20. Jahrhundert ein Legitimationsproblem. Davon wurde etwa Robert Musil in seinem berühmten „Mann ohne Eigenschaften“ umgetrieben. In der Zeit vor ihm konnte die Literatur noch vergleichbar leicht in die Leerstellen vordringen, die die üblichen Deutungs- und Welterklärungsversuche übrig ließen. Doch inzwischen übernahmen dies immer souveräner Naturwissenschaften, Mathematik oder die Psychoanalyse und drohten die Literatur zu einem unterhaltsamen Randphänomen zu machen. Musil wagte ein groß angelegtes Experiment. Er beschrieb in einer brillant-irrwitzigen Versuchsanordnung die Zustände in Wien kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und er tat das im Bewusstsein der Dreißigerjahre, als schon vieles auf einen Zweiten hindeutete. Sein „Mann ohne Eigenschaften“ zitierte und unterlief die Diskurse seiner Zeit – und war ihnen gleichzeitig voraus.
Die 1990 in Wien geborene Raphaela Edelbauer unternimmt jetzt eine genau durchdachte Parallelaktion. Sie dockt an Musil an, stellt den 1. August 1914, den Tag der deutschen Kriegserklärung, in den Mittelpunkt ihres neuen Romans und macht es sich zur Aufgabe, Musils Beweisführung, wozu Literatur trotz allem in der Lage sein könnte, unter heutigen Bedingungen zu wiederholen. Doch da der Umgang mit literarischen Techniken mittlerweile anders funktioniert, täuscht sie zunächst ein bisschen darüber hinweg, was sie da vorhat, und lockt mit einem dichten Erzählton.
Am Anfang sitzt der 17-jährige Bauernknecht Hans, der noch nie aus seinem Tiroler Tal herausgekommen ist, im Nachtzug von Innsbruck nach Wien, und die äußeren Umstände werden so packend und detailreich geschildert, dass man meinen könnte, in einen stimmungsvollen historischen Roman hineinversetzt zu werden: die rumänischen Waggongenossen, das habsburgische Vielvölkergemisch, die quirlige Metropole Wien mit ihren technischen Errungenschaften, den diversen Tageszeitungen und der modernen Trambepolsterung.
Hans ist von seinem Hof ausgebüchst und kommt fast mittellos in Wien an. In der Tasche hat er nur die Adresse einer Psychoanalytikerin namens Helene Cheresch, von ihr möchte er sich behandeln lassen. Das ist, angesichts dessen, wie Hans bisher ins Bild gerückt ist, eine erste Irritation, es verweist auf sein Geheimnis, und langsam greifen mehrere Räder ineinander: Raphaela Edelbauer will weit mehr, als bloß eine spannende Geschichte zu erzählen. Politische und wissenschaftliche Diskurse geraten in die Handlung, sodass das Geschehen an der Oberfläche vor allem ornamentale Reize für Unter- und Abgründiges liefert.
Wie traumwandlerisch lernt Hans zwei Freunde kennen, mit denen er die nächsten 24 Stunden verbringen wird, die geheimnisvolle Klara und den reichen Aristokratensohn Adam. Die beiden sind schon länger Analysanden bei Helene Cheresch. Ganz selbstverständlich nimmt der Bratschist Adam Hans mit zu einer Probe von Arnold Schönbergs skandalumwitterten Zweitem Streichquartett op. 10 und anschließend zu einem Abendessen in seinem konservativ-soignierten Elternhaus. Danach folgt ein orgiastischer Streifzug durch die nächtliche Wiener Halb- und Unterwelt.
Die drei Helden des Romans sind an diesem Tag der Kriegsbegeisterung offenkundig Inkommensurable, wie es der Titel programmatisch verheißt – ein gravitätisches Wort, das sofort in den ästhetischen Kosmos von Robert Musil führt. Nicht von ungefähr hebt die Musilforscherin Inka Mülder-Bach das „Inkommensurable und Unzugängliche seiner Prosa“ hervor, und Hartmut Böhme spricht davon, dass bei Musil „die Inkommensurabilität des Anderen zur Verzweiflung einer diesem gegenüber vermittlungslosen Vernunft“ wird – das muss man zweimal lesen, aber es handelt sich um genau das, was Raphaela Edelbauer in ungemein lebendigerer Sprache an ihren Figuren durchspielt. Bei ihr könnte „Die Inkommensurablen“ fast der Name einer Avantgarde-Pop-Band sein. Das Bestechende besteht jedoch darin, dass „Die Inkommensurablen“ auch der Titel des wörtlich wiedergegebenen Vortrags ist, den die Mathematikstudentin Klara in ihrem Rigorosum über die irrationalen Zahlen hält.
Mit ihren mathematischen, historischen und anderweitig theoretischen Exkursionen bewegt sich Raphaela Edelbauer in derselben essayistischen Sphäre, auf die schon das Erzählen Robert Musils hinsteuerte. Ab einem bestimmten Punkt, der für einen Schriftsteller aus Konkurrenzgründen besonders brisant ist, geraten die exakten Wissenschaften in die Zone des Imaginären. Und hier beweist die Autorin, dass das Fantastische das ureigene Heimspiel der Literatur ist. Sie verschiebt ständig die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, und mitunter agiert sie dabei hart realistisch. So wird die Probe der vier Schönberg-Interpreten mit pointierten Dialogen, der Beschwörung musikalischer Obsessionen und einer sekündlich bedrohlicher werdenden politischen Auseinandersetzung zwischen den Musikern zu einem intensiven Kammerspiel über die Atmosphäre von 1914. Oder die Abendgesellschaft im Haus der Grafen Jesenky – sie zeigt eine bis ins Satirische genaue Typologie der herrschenden Schicht vor dem Zerfall des Habsburgerreichs.
Ohne dass an irgendeiner Stelle konkrete Aktualitätsbezüge auftauchen, beleuchtet Raphaela Edelbauer den Tag des Kriegsausbruchs, der die bürgerliche Gesellschaft symbolhaft verdichtet, mit dem Erkenntnisinteresse von heute. Wie funktioniert die Manipulation der Massen – und wie verhält man sich zu ihr? Bei Hans prallen die Erfahrungen der bäuerlichen Unterschicht und die Riten der höheren Gesellschaft abrupt aufeinander, und die akademische Aufsteigerin Klara stammt aus dem Lumpenproletariat.
Ein besonderes Augenmerk legt dieser Roman neben der Klassenfrage auf die Abweichungen von den landläufigen sexuellen Praktiken: so im erotischen Spiel zwischen Klara und Elisabeth unter dem Tisch der Nachtspelunke „Meininger“ oder in den exzessiven Szenen im nur durch Geheimcodes erreichbaren Etablissement „Trabant“ in der Vorstadt, die nebenbei auch mit den Bühnenbildern von Schnitzlers „Traumnovelle“ kokettieren. „Die Inkommensurablen“ nehmen das Bewusstsein und Treiben des 1. August 1914 mit den Sinnen der Gegenwart wahr.
Es geht Schlag auf Schlag. Dass Hans, Klara und Adam auffällige psychische Dispositionen und eigenartige Geschichten haben, spielt für das Erzählen selbst eine große Rolle. Es gibt Traumsequenzen, die Thrillerelemente haben, wie sie bereits in Raphaela Edelbauers scheinbar völlig anders angelegtem Science-Fiction- und Programmier-Roman „Dave“ zu finden waren, und raffinierte mediale Inszenierungen. Diese Autorin ist eine virtuose Diskurs-Jongleurin. Sie stellt, im Zeitalter des digitalen Umbaus, die Musil’sche Frage an die Literatur neu: es geht um ihre Widerständigkeit gegen die IT-Logik, nach der nur ist, was schaltbar ist (so Friedrich Kittlers dystopische Formel).
Zum Showdown kommt es draußen auf dem Land, in einem im Lauf des Textes visionär aufgebauten und dann plötzlich dekonstruierten Dorf, und damit wird die Anlage des Romans selbst kommentiert. Es gibt keine Gewissheiten. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und angesichts des Faschismus trieb viele Schriftsteller und Intellektuelle das Phänomen der Massensuggestion um. Raphaela Edelbauer bezieht es in ihrem glänzenden Roman auf die Gegenwart. In ihrem Sommer von 1914 kann man auch Donald Trump und andere, viel spätere politische Unfälle erkennen.
Ein orgiastischer Streifzug durch
die Wiener Halb- und Unterwelt
am Vorabend einer Zeitenwende
Raphaela Edelbauer:
Die Inkommensurablen. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2023.
352 Seiten, 25 Euro.
Weltausstellung in
Wien 1898: die aristokratische Zeit, die im Roman von
Raphaela Edelbauer (unten) gerade endet.
Foto: Fine Art Images/Heritage Images/
imago/R. Edelbauer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2023Keine Poesie!
Desillusionierung auf allen Ebenen im Wien von 1914: Der Roman "Die Inkommensurablen" von Raphaela Edelbauer.
Dies ist der Roman über den Schlusspunkt hinters überlange neunzehnte Jahrhundert. Die Julikrise geht nicht nur kalendarisch dem Ende entgegen: Raphaela Edelbauer beginnt ihre Handlung am frühen Morgen des 30. Julis 1914, da ist noch Frieden, und beendet ihn einen Tag später, da ist Krieg. Dazwischen liegen die Irrwege des siebzehnjährigen Hans Ranftler durch ein elektrisiertes Wien. Am 30. Juli lässt der Zar in Russland mobil machen, um dem mit seinem Land verbündeten Serbien beizuspringen, dem Österreich-Ungarn zwei Tage zuvor den Krieg erklärt hat. Darauf verlangt das mit Österreich verbündete Deutsche Reich in einem auf die Mittagsstunde des Folgetags terminierten Ultimatum von der russischen Regierung, diese Mobilmachung wieder zurückzunehmen. Die denkt gar nicht daran, also erklärt Deutschland Russland nach Ablauf den Krieg. An ihm - Bündnisfall! - ist dann sofort auch Österreich beteiligt. In Wien strömen die Männer genauso begeistert zu den Meldestellen der Armee wie in Berlin. "Das Ultimatum war verstrichen; die Geschichte ereilte die Menschen."
So lakonisch lässt Edelbauer das Fallbeil aufs menschliche Schlachtvieh niedersausen. Und viel mehr Worte macht sie auch gar nicht um die internationale Wetterlage dieser paar Jahrhundertsommertage. Sie erzählt stattdessen über eine minderjährige Unschuld vom Lande, die mit dem Leben und Lieben in der Metropole konfrontiert wird: Hans, durch den frühen Tod seines Vaters aus bürgerlicher Sorglosigkeit gefallen, musste jahrelang als Knecht auf einem Tiroler Bauernhof sein Dasein fristen, bis er just in dem Moment, als die große Politik verrücktspielt, sein kleines Schicksal in die eigene Hand nimmt und nach Wien durchbrennt. Einen Tag währt seine Freiheit, dann holt ihn die Geschichte ein. Am Ende wird er uns wie Hans Castorp aus den Augen gehen. Aber das braucht Raphaela Edelbauer gar nicht mehr zu erzählen. Sie verlässt ihre Hauptfigur, als die vor dem Musterungsbüro ankommt.
Edelbauers Roman "Die Inkommensurablen" ist mit allen literarischen Wassern gewaschen. Natürlich auch mit denen der großen Weltkriegsliteratur. Vorlauf zum Kriege in Wien? Dafür steht in den Literaturgeschichtsbüchern der Kolosstorso des "Manns ohne Eigenschaften", der ein Jahr vor "Die Inkommensurablen" einsetzt, aber eine ähnlich somnambul arglose Gesellschaft vorstellt. Und ja: Das durch Christopher Clarke geprägte Bild der "Schlafwandler" für die in den Krieg taumelnden Europäer des Jahres 1914 fällt bei Edelbauer einmal sogar explizit.
Sie nimmt es auch insofern wörtlich, als zwei weitere Figuren des Romans - die miteinander befreundeten Klara Nemec und Adam Graf Jesensky von Vezmarck, die den ein paar Jahre jüngeren Hans unter ihre Fittiche nehmen - Teil eines von der Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufgespürten Clusters junger Menschen (angeblich zehntausend) sind, die Nacht für Nacht dasselbe träumen: von einem verwunschenen Dorf. In das schließlich auch Hans im Schlaf gelangt. Träumerisch ist vieles in der Anlage der "Inkommensurablen", und das beschwört unweigerlich den Vergleich mit einem weitereren Zentralmassiv des literarischen Wiener Vorkriegsgesellschaftsporträts herauf: der "Traumnovelle".
Mann, Musil, Clarke, Schnitzler - die Fußstapfen, in denen Edelbauer unterwegs ist, sind groß. Sie beschreitet diesen Pfad indes selbst schlafwandlerisch sicher, insofern sie sich zwar zeitthematisch, aber nicht formal oder inhaltlich mit den Vorläufern misst. Edelbauer, Jahrgang 1990, benutzt für ihren Historienroman auch keine historisierende Sprache, sondern eine "gewählte": Sie schreibt in einem Duktus an, der zeitenthoben wirkt durch Eleganz und Wortvariationen, und so löst sie das Geschehen immer wieder aus seinem zeitgeschichtlichen Rahmen und bringt uns die Akteure als durchaus gegenwärtige nahe. Die Verunsicherungen der drei jungen Leute im Zentrum des Romans sind allgemeingültig noch heute. Und das liegt nicht daran, dass gerade wieder Krieg in Europa geführt wird.
Es hat seinen Grund auch darin, dass Hans eben Landflüchtling ist, Klara eine der seinerzeit wenigen Studentinnen der Mathematik und Adam ein Adelsabkömmling, dem die gesellschaftliche Rolle seiner Klasse suspekt ist. Alle sind ihrer Zeit also bereits voraus. Als "Inkommensurable" kann man sie somit gut bezeichnen, wobei der Romantitel auch auf Klaras akademisches Betätigungsfeld verweist: Sie beschäftigt sich mit irrationalen Zahlen. Die entstehen aus dem Verhältnis zweier reeller Zahlen zueinander, die keinen gemeinsamen Teiler besitzen. "Sie sind unendlich, manchmal transzendent und können doch von jedem Kind mit einem Dreieck gezeichnet werden" - diese Charakterisierung der aus Inkommensurabilität resultierenden Zahlen passt auch aufs Buch selbst, das scheinbar leicht, nämlich als historischer Roman, daherkommt, aber in Abgründe der Rationalität blicken lässt.
Inkommensurable sind Hans, Klara und Adam zudem in ihrer scheinbar harmonischen Dreisamkeit: "Hans fand sich ganz und gar außerstande, es sich vorzustellen - wie es ein Leben geben könnte ohne diese beiden." Doch jeweils zwei von ihnen fehlt das gemeinsame Maß des dritten; sie können zusammen nicht kommen, sind somit selbst wie Irrationalzahlen. In Claras Rigorosum, das ausgerechnet auf den Tag des Ablaufs des deutschen Ultimatums angesetzt ist, stellt sie mit Blick auf die antike Behandlung des von ihr untersuchten mathematischen Problems fest: "Man konnte mit dem Konzept der Inkommensurabilität nicht theoretisch, wohl aber anschaulich umgehen." Was in Platons Dialogen die Geometrie bereitstellte, leistet in "Die Inkommensurablen" die personale Dreieckskonstellation.
Es ist bezeichnend für Edelbauers Erzählhaltung einer Verstörung, dass sie Hans einmal so auf seine Kindheit zurückblicken (oder -träumen) lässt: "Er hatte - glaubte er - an diesem Tag mit nie empfundener Zärtlichkeit die zögerlich aufbrechenden Knospen und die aus dem Boden hervorlugenden Wurzeln betrachtet. Auf einmal hatte er sich vorstellen können, wie tief die Pflanzen die Erde anfassten - und dass ihre Vorfahren für Äonen in einer reichen Sprache die Natur geformt hatte." Es wäre angesichts der paradox anmutenden Sprachzuschreibung an die stumme Pflanzenwelt naheliegend, darin ein poetisches Programm des Romans zu vermuten: quasi als Naturereignis auf der Grundlage literarischer Blüten und Wurzeln. Doch Hans hat sich diese Wahrnehmung nur eingebildet: "In Wirklichkeit hatte er einfach dagesessen und an einer Wursthaut gekaut, weil er frustriert war, die vorbeifahrende Kutsche verpasst zu haben . . . Keine Poesie."
Edelbauer legt die Desillusionierung offen, und das auf den unterschiedlichsten Ebenen. Am drastischsten betreffs des gemeinsamen Traumerlebnisses der Zehntausend, das genauso als Gegenstand einer Suggestion entlarvt wird wie der Massentaumel des Kriegsausbruchs. Und dass der Roman sein Ende am 31. Juli nimmt, ist ein souveräner Verweis auf seine Fiktionalität. Die russische Mobilisierung vom 30. Juli wurde erst einen Tag später bekannt, und deshalb lief das deutsche Ultimatum am 1. August ab. Erst dann konnte der Kriegstaumel einsetzen, von dem "Die Inkommensurablen" erzählen. Noch eine Suggestion. ANDREAS PLATTHAUS
Raphaela Edelbauer: "Die Inkommensurablen". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2023.
352 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Desillusionierung auf allen Ebenen im Wien von 1914: Der Roman "Die Inkommensurablen" von Raphaela Edelbauer.
Dies ist der Roman über den Schlusspunkt hinters überlange neunzehnte Jahrhundert. Die Julikrise geht nicht nur kalendarisch dem Ende entgegen: Raphaela Edelbauer beginnt ihre Handlung am frühen Morgen des 30. Julis 1914, da ist noch Frieden, und beendet ihn einen Tag später, da ist Krieg. Dazwischen liegen die Irrwege des siebzehnjährigen Hans Ranftler durch ein elektrisiertes Wien. Am 30. Juli lässt der Zar in Russland mobil machen, um dem mit seinem Land verbündeten Serbien beizuspringen, dem Österreich-Ungarn zwei Tage zuvor den Krieg erklärt hat. Darauf verlangt das mit Österreich verbündete Deutsche Reich in einem auf die Mittagsstunde des Folgetags terminierten Ultimatum von der russischen Regierung, diese Mobilmachung wieder zurückzunehmen. Die denkt gar nicht daran, also erklärt Deutschland Russland nach Ablauf den Krieg. An ihm - Bündnisfall! - ist dann sofort auch Österreich beteiligt. In Wien strömen die Männer genauso begeistert zu den Meldestellen der Armee wie in Berlin. "Das Ultimatum war verstrichen; die Geschichte ereilte die Menschen."
So lakonisch lässt Edelbauer das Fallbeil aufs menschliche Schlachtvieh niedersausen. Und viel mehr Worte macht sie auch gar nicht um die internationale Wetterlage dieser paar Jahrhundertsommertage. Sie erzählt stattdessen über eine minderjährige Unschuld vom Lande, die mit dem Leben und Lieben in der Metropole konfrontiert wird: Hans, durch den frühen Tod seines Vaters aus bürgerlicher Sorglosigkeit gefallen, musste jahrelang als Knecht auf einem Tiroler Bauernhof sein Dasein fristen, bis er just in dem Moment, als die große Politik verrücktspielt, sein kleines Schicksal in die eigene Hand nimmt und nach Wien durchbrennt. Einen Tag währt seine Freiheit, dann holt ihn die Geschichte ein. Am Ende wird er uns wie Hans Castorp aus den Augen gehen. Aber das braucht Raphaela Edelbauer gar nicht mehr zu erzählen. Sie verlässt ihre Hauptfigur, als die vor dem Musterungsbüro ankommt.
Edelbauers Roman "Die Inkommensurablen" ist mit allen literarischen Wassern gewaschen. Natürlich auch mit denen der großen Weltkriegsliteratur. Vorlauf zum Kriege in Wien? Dafür steht in den Literaturgeschichtsbüchern der Kolosstorso des "Manns ohne Eigenschaften", der ein Jahr vor "Die Inkommensurablen" einsetzt, aber eine ähnlich somnambul arglose Gesellschaft vorstellt. Und ja: Das durch Christopher Clarke geprägte Bild der "Schlafwandler" für die in den Krieg taumelnden Europäer des Jahres 1914 fällt bei Edelbauer einmal sogar explizit.
Sie nimmt es auch insofern wörtlich, als zwei weitere Figuren des Romans - die miteinander befreundeten Klara Nemec und Adam Graf Jesensky von Vezmarck, die den ein paar Jahre jüngeren Hans unter ihre Fittiche nehmen - Teil eines von der Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufgespürten Clusters junger Menschen (angeblich zehntausend) sind, die Nacht für Nacht dasselbe träumen: von einem verwunschenen Dorf. In das schließlich auch Hans im Schlaf gelangt. Träumerisch ist vieles in der Anlage der "Inkommensurablen", und das beschwört unweigerlich den Vergleich mit einem weitereren Zentralmassiv des literarischen Wiener Vorkriegsgesellschaftsporträts herauf: der "Traumnovelle".
Mann, Musil, Clarke, Schnitzler - die Fußstapfen, in denen Edelbauer unterwegs ist, sind groß. Sie beschreitet diesen Pfad indes selbst schlafwandlerisch sicher, insofern sie sich zwar zeitthematisch, aber nicht formal oder inhaltlich mit den Vorläufern misst. Edelbauer, Jahrgang 1990, benutzt für ihren Historienroman auch keine historisierende Sprache, sondern eine "gewählte": Sie schreibt in einem Duktus an, der zeitenthoben wirkt durch Eleganz und Wortvariationen, und so löst sie das Geschehen immer wieder aus seinem zeitgeschichtlichen Rahmen und bringt uns die Akteure als durchaus gegenwärtige nahe. Die Verunsicherungen der drei jungen Leute im Zentrum des Romans sind allgemeingültig noch heute. Und das liegt nicht daran, dass gerade wieder Krieg in Europa geführt wird.
Es hat seinen Grund auch darin, dass Hans eben Landflüchtling ist, Klara eine der seinerzeit wenigen Studentinnen der Mathematik und Adam ein Adelsabkömmling, dem die gesellschaftliche Rolle seiner Klasse suspekt ist. Alle sind ihrer Zeit also bereits voraus. Als "Inkommensurable" kann man sie somit gut bezeichnen, wobei der Romantitel auch auf Klaras akademisches Betätigungsfeld verweist: Sie beschäftigt sich mit irrationalen Zahlen. Die entstehen aus dem Verhältnis zweier reeller Zahlen zueinander, die keinen gemeinsamen Teiler besitzen. "Sie sind unendlich, manchmal transzendent und können doch von jedem Kind mit einem Dreieck gezeichnet werden" - diese Charakterisierung der aus Inkommensurabilität resultierenden Zahlen passt auch aufs Buch selbst, das scheinbar leicht, nämlich als historischer Roman, daherkommt, aber in Abgründe der Rationalität blicken lässt.
Inkommensurable sind Hans, Klara und Adam zudem in ihrer scheinbar harmonischen Dreisamkeit: "Hans fand sich ganz und gar außerstande, es sich vorzustellen - wie es ein Leben geben könnte ohne diese beiden." Doch jeweils zwei von ihnen fehlt das gemeinsame Maß des dritten; sie können zusammen nicht kommen, sind somit selbst wie Irrationalzahlen. In Claras Rigorosum, das ausgerechnet auf den Tag des Ablaufs des deutschen Ultimatums angesetzt ist, stellt sie mit Blick auf die antike Behandlung des von ihr untersuchten mathematischen Problems fest: "Man konnte mit dem Konzept der Inkommensurabilität nicht theoretisch, wohl aber anschaulich umgehen." Was in Platons Dialogen die Geometrie bereitstellte, leistet in "Die Inkommensurablen" die personale Dreieckskonstellation.
Es ist bezeichnend für Edelbauers Erzählhaltung einer Verstörung, dass sie Hans einmal so auf seine Kindheit zurückblicken (oder -träumen) lässt: "Er hatte - glaubte er - an diesem Tag mit nie empfundener Zärtlichkeit die zögerlich aufbrechenden Knospen und die aus dem Boden hervorlugenden Wurzeln betrachtet. Auf einmal hatte er sich vorstellen können, wie tief die Pflanzen die Erde anfassten - und dass ihre Vorfahren für Äonen in einer reichen Sprache die Natur geformt hatte." Es wäre angesichts der paradox anmutenden Sprachzuschreibung an die stumme Pflanzenwelt naheliegend, darin ein poetisches Programm des Romans zu vermuten: quasi als Naturereignis auf der Grundlage literarischer Blüten und Wurzeln. Doch Hans hat sich diese Wahrnehmung nur eingebildet: "In Wirklichkeit hatte er einfach dagesessen und an einer Wursthaut gekaut, weil er frustriert war, die vorbeifahrende Kutsche verpasst zu haben . . . Keine Poesie."
Edelbauer legt die Desillusionierung offen, und das auf den unterschiedlichsten Ebenen. Am drastischsten betreffs des gemeinsamen Traumerlebnisses der Zehntausend, das genauso als Gegenstand einer Suggestion entlarvt wird wie der Massentaumel des Kriegsausbruchs. Und dass der Roman sein Ende am 31. Juli nimmt, ist ein souveräner Verweis auf seine Fiktionalität. Die russische Mobilisierung vom 30. Juli wurde erst einen Tag später bekannt, und deshalb lief das deutsche Ultimatum am 1. August ab. Erst dann konnte der Kriegstaumel einsetzen, von dem "Die Inkommensurablen" erzählen. Noch eine Suggestion. ANDREAS PLATTHAUS
Raphaela Edelbauer: "Die Inkommensurablen". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2023.
352 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Von Cornelius Obonya mit großer Variabilität der Stimme beeindruckend interpretiert.« hr2-Hörbuchbestenliste April 2023
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dieses Buch treibt die "professionelle Kritik in den Wahnsinn", lobt Rezensent Paul Jandl den Roman von Raphaela Edelbauer, der von den Stunden zwischen Frieden und Kriegsbeginn 1914 handelt. Die Protagonisten seien ein "Trio infernale der Sonderbegabung", schreibt der Rezensent, und freut sich über dieses literarische "Monument des Zungezeigens und der hinterlistigen Nonchalance", das sich bereits im Titel des Buchs andeute. Die österreichische Autorin schaffe es, die Atmosphäre des nachtbesoffenen Wien mit einer Wissenschaftlerin, einem Adligen und einem belesenen Landei fulminant zu beschreiben. Ihre "Kunstsprache", merkt Jandl dabei warnend und zugleich begeistert an, sei einmal mehr nichts für Warmduscher. Mit großer Kompetenz lehne sich Edelbauer an die großen Österreicher der bröselnden Monarchie, in gleichem Maße witzig wie ernsthaft. Sehr schön sei es, so Jandl, sich mit diesem verpixelten Gesellschaftsroman zu fühlen, als schaue man einen Sissi-Film auf Drogen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Man [lässt] sich gerne auf Edelbauers Schnellstrundgang durch das kaiserlich-königliche Metropolenleben ein: Sinnlicher wurde es noch nie nachgebaut. Die Autorin tuscht das Zeitkolorit mit feinem Pinsel, aber breiter Geste.« Florian Eichel, Die Zeit, 09. Februar 2023 Florian Eichel Die Zeit 20230209