Deutschland in naher Zukunft. Sabah Hussein kandidiert als erste Muslimin um das Amt der Bundeskanzlerin. Kurz vor der Wahl ist das Land tief gespalten. Linke und Rechte stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die einen sehen in Hussein das Gesicht für eine offene, multikulturelle Gesellschaft. Für die anderen steht die Kandidatin für den Verlust von Identität und für eine kulturelle Übernahme, durch die das traditionelle Deutschland abgeschafft wird.Husseins Chancen, die Wahl zu gewinnen, stehen gut. Doch plötzlich machen brisante E Mails zu Sabahs Leben jenseits der öffentlichen Darstellung die Runde. Wer steckt dahinter? Ihre linken Unterstützer sehen rechtsextreme Kräfte am Werk. Für die Konservativen ist Hussein als Heuchlerin enttarnt. Kurz vor dem Wahlabend entbrennt ein Kulturkampf, der das ganze Land zu zerreißen droht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.06.2021Heimatbeauftragter
„Tagesschau“-Sprecher Constantin Schreiber hat einen Roman voller Feindbilder
geschrieben. Sagen wir mal so: Der neue Houellebecq ist der Autor nicht
Im Oktober 2001 wäre der beliebteste deutsche Nachrichtensprecher einmal fast gefeuert worden. Ulrich Wickert hatte in einer Glosse die indische Schriftstellerin Arundhati Roy zitiert, die Osama bin Laden, den Drahtzieher der Anschläge von 9/11, als „dunklen Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“ George W. Bush bezeichnete. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hielt den armen Wickert daraufhin für „absolut nicht mehr tragbar als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.“ Mit einer Entschuldigung, in der er Bush als „Führer der freien Welt“ bezeichnete, gelang es Wickert so gerade noch, seine Entlassung zu verhindern.
Zwanzig Jahre später ist mit Constantin Schreiber ein neuer Anchor der ARD angetreten, um die politische Korrektheit herauszufordern. Diesmal freilich ist es die Korrektheit von links, und dass er sich dafür wird entschuldigen müssen, ist offenbar eher unwahrscheinlich. Im Unterschied zu Wickert ist Schreiber ein Großmeister des medialen Gaslighting. Er ist in verschiedenen Rollen auf etlichen Kanälen präsent und doch nirgendwo richtig zu greifen. Statt in einer Zeitung die eigene Meinung kundzutun, publiziert er lieber einen Roman. Darin steht vielleicht vieles, was der Autor immer schon loswerden wollte, doch niemand kann ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. „Alle Romanfiguren sind fiktiv“, sagte er in einem Streitgespräch in der Zeit.
Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ einen Roman zu nennen, ist eine real existierende Möglichkeit, jedoch keine überzeugende. Die großen Feuilletons der Republik haben das Anfang Mai erschienene Buch trotz der Prominenz des Autors bis jetzt ignoriert, womöglich aus Takt. Denn hinter der Fiktion verbirgt sich wenig mehr als ein rechtspopulistisches Pamphlet mit altbekannten Feindbildern: dem Islam und den Muslimen, den „Linken“ sowie allen, die mit ethnischer, religiöser oder sexueller Vielfalt kein Problem haben und diese verteidigen möchten.
Bei der nahen Zukunft, in der der Roman spielt, könnte es sich schon um den kommenden Herbst handeln: Bundestagswahlen stehen an, aussichtsreichste Kanzlerkandidatin ist die 44-jährige Muslimin Sabah Hussein von der „Ökologischen Partei“. „Die Kandidatin“ beginnt mit einem abgewandelten Goebbels-Zitat: „‚Wollt ihr absolute Diversität?‘ (…) ‚Ja‘, skandiert die Menge, klatscht und jubelt. ‚Ja!‘“
Wie ein Teppich mit schnell durchschautem Muster entrollt sich das Buch, sein Tenor und seine These, aus diesem ersten Satz, aus dieser ersten Szene: Diversität, Postkolonialismus, Identitätspolitik tendieren zu einem neuen Faschismus, wahlweise Kommunismus. Sie einzufordern und dafür einzutreten, kommt der Erklärung eines totalen Kriegs gegen alle Normalen, Alteingesessenen, Weißen gleich. Sie sind es, die verlieren werden, wenn Sabah Hussein gewinnt. Privilegien werden sozialistisch abgeschafft, auf dem Wohnungsmarkt und anderswo herrscht affirmative action. Gegen die „Heimatkämpfer“ treten die „Antifakämpfer und die muslimische Schariabrigade“ an. Nach diesem Auftakt kurz vor Verkündigung des Wahlergebnisses erzählt das Buch die Vorgeschichte, begleitet Sabah Hussein durch den Wahlkampf, schildert ihre Herkunft aus einem Flüchtlingslager, ihre Vorliebe für Luxus („teure Kleider, goldene Armreife“), die Verstrickung ihrer Familie in die libanesische Mafia, ihren Geltungsdrang, ihre Erfolgsverliebtheit.
Wer die politische Szene in Deutschland in den letzten Jahren verfolgt hat, kommt nicht umhin, in Sabah Hussein eine Karikatur der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli zu erkennen. Sie ist im selben Alter wie Schreibers „Kandidatin“, ihr Mentor (im Buch heißt er Reuter, wie der Berliner Nachkriegsbürgermeister Ernst Reuter; in Wirklichkeit ist es der Regierende Bürgermeister Müller) kreiert für sie den Posten einer „Sonderbeauftragten für öffentliche Dialoge“. Chebli, die echte, ist Staatssekretärin für „Bürgerschaftliches Engagement“. Vielleicht meint Schreiber es nicht böse und ist nur ein schlechter, der Ironie unfähiger Autor. Gleichwohl schafft er es, in einem einzigen Satz Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus und Spott gegen Behinderte zusammenzuspannen. Sabah, die James Bond liebt, „findet es prima, dass 007 jetzt eine diverse Agentin ist, eine schwarze, lesbische Frau mit Behinderung. So kommt die politische Agenda immer mehr im Mainstream an.“ Man kann sich schon vorstellen, dass es Leute gibt, die das lustig finden mit der Agentin und ihrer Agenda. Dass China in Schreibers Zukunft Taiwan erobert hat, lässt Sabah Hussein kalt, was den Erzähler zu folgender, schwerwiegender Überlegung für den Fall ihres Wahlsieges veranlasst: „Womit wird sie den Mächtigen der Welt gegenübertreten? Ihre Waffen sind auf der internationalen Bühne stumpf.“ Ein Blick auf Kamala Harris genügt, um zu ermessen, wie diese Waffen auch aussehen könnten.
Angesichts der Bedrohungen durch die „totale Diversität“ formiert sich im Roman weißer, biodeutscher Widerstand. Eine Leibwächterin feuert auf die Kandidatin und verletzt sie schwer. In Schreibers Romanweltlogik ist ihr Motiv natürlich nachvollziehbar, denn „zu den Verlierern (…) würde auch sie, die ostdeutsche blonde Frau gehören.“ Nicht nur an dieser Stelle funkt die Erinnerung an den Mord an Walter Lübcke hässlich in die Fiktion hinein: „Es geht nicht um Vielfalt. Nein, es geht um die Übernahme unseres Landes“. Pech für die „ostdeutsche, blonde Frau“, dass das Land längst übernommen ist. Die Richterin heißt Khadija Hatoum und trägt einen Hijab. Man ersehnt jetzt längst den Moment, an dem sich im Epischen Theater die Figuren an die Zuschauer wenden, um ihnen den illusionären Charakter des Gezeigten und ihre eigenen Vorurteile vor Augen zu führen. „Die Kandidatin“ aber verzichtet darauf.
Es gehört viel Disziplin dazu, diesen Text als Roman zu lesen. In diversen Blogs wurde als Referenzbuch Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ herangezogen, der seine Figuren in ein ähnliches politisches Szenario entlässt. Allerdings ist Houellebecq nicht nur ein großer Stilist, sondern auch ein Meister der Mehrdeutigkeit, er zeichnet den Übertritt seines Protagonisten zum Islam zu gleichen Teilen als feigen Opportunismus wie auch als Suche nach spiritueller Ganzheit. Dass es sich bei Houellebecqs Szenario um eine Dystopie handele, eine Warnung gar, steht dort nicht nur in keiner Zeile geschrieben, es wäre in seinem Fall die trivialste Lesart für einen Roman, der sich mit der Krise des Individualismus auseinandersetzt.
Aber nicht jeder Debütant ist ein Houellebecq, Schreibers Buch zumindest ist wirklich frei von etwaigen französischen Ambivalenzen. Auch in Deutschland haben Muslime ein Recht auf fundierte Kritik, aber an verknöchterter Thetik sind schon andere Romane gescheitert. Es ist sicher kein gutes Zeichen, dass der Autor so häufig darauf hinweisen muss, dass es sich bei dem Buch um eine „Fiktion mit satirischer Überspitzung“ handelt und er sich von rechts keinen Beifall wünsche, wie er auch der SZ auf Anfrage mitteilt. Zieht man allein den Text zurate, ist das Buch nur so zu verstehen: als reaktionäres Manifest.
„Die Kandidatin“ steht im Zusammenhang mit anderen Büchern desselben Autors, die auf ähnliche Weise darauf hinauslaufen, die Angst vor dem Islam zu schüren und Muslime zu diffamieren: „Die Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen“ über die sogenannte Ideologisierung von Kindern in vielen muslimisch geprägten Ländern. Und nach demselben Schema: „Inside Islam. Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“. Kritikwürdige Züge des zeitgenössischen Islams, mancher Muslime und vieler muslimischer Gesellschaften zeigt man verantwortungsvoll anders auf.
Schreiber ist auf dem Gebiet keineswegs Dilettant: Er spricht fließend arabisch, jahrelang berichtete er für das arabische Programm der Deutschen Welle aus dem Nahen Osten, in dem ägyptischen Sender ONTV moderierte er eine Wissenschaftssendung. 2016 wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, für die Moderation der deutsch-arabischen Sendung „Marhaba – Ankommen in Deutschland“.
Parallel zur umstrittenen österreichischen Seite islam-landkarte.at, auf die rechte, anti-islamische Aktivisten dankbar zurückgreifen, wie die Betreiber inzwischen selbst festgestellt haben, hat Schreiber aber eben auch die Seite moscheepedia.org initiiert und ruft dazu auf, Fotos, Videos und Beschreibungen von Moscheen hochzuladen. Welcher Zweck soll gut genug sein, um derartige Übergriffe auf fremde sakrale Räume zu rechtfertigen? „Solche Kartierungen stigmatisieren“, hält Reinhard Schulze, Berner Emeritus für Islamwissenschaften, in einem Tweet fest.
Alle diese Nebentätigkeiten geschehen nicht unabhängig von Schreibers eigentlichen Arbeitgebern, ARD-aktuell und NDR, sondern ebendort im besten Wechselspiel von Tweet und Retweet, von Talkshowauftritten und „Tagesschau“-Präsenz. Und so ist „Die Kandidatin“ womöglich mehr als nur ein schlechtes Buch.
STEFAN WEIDNER
Die Hauptfigur teilt sehr
viele Merkmale mit der
SPD-Politikerin Sawsan Chebli
„Die Kandidatin“ ist
nicht sein einzige Buch
zu diesem Thema
Foto: imago/Sven Simon
Constantin Schreiber:
Die Kandidatin.
Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2021.
208 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Tagesschau“-Sprecher Constantin Schreiber hat einen Roman voller Feindbilder
geschrieben. Sagen wir mal so: Der neue Houellebecq ist der Autor nicht
Im Oktober 2001 wäre der beliebteste deutsche Nachrichtensprecher einmal fast gefeuert worden. Ulrich Wickert hatte in einer Glosse die indische Schriftstellerin Arundhati Roy zitiert, die Osama bin Laden, den Drahtzieher der Anschläge von 9/11, als „dunklen Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“ George W. Bush bezeichnete. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hielt den armen Wickert daraufhin für „absolut nicht mehr tragbar als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.“ Mit einer Entschuldigung, in der er Bush als „Führer der freien Welt“ bezeichnete, gelang es Wickert so gerade noch, seine Entlassung zu verhindern.
Zwanzig Jahre später ist mit Constantin Schreiber ein neuer Anchor der ARD angetreten, um die politische Korrektheit herauszufordern. Diesmal freilich ist es die Korrektheit von links, und dass er sich dafür wird entschuldigen müssen, ist offenbar eher unwahrscheinlich. Im Unterschied zu Wickert ist Schreiber ein Großmeister des medialen Gaslighting. Er ist in verschiedenen Rollen auf etlichen Kanälen präsent und doch nirgendwo richtig zu greifen. Statt in einer Zeitung die eigene Meinung kundzutun, publiziert er lieber einen Roman. Darin steht vielleicht vieles, was der Autor immer schon loswerden wollte, doch niemand kann ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. „Alle Romanfiguren sind fiktiv“, sagte er in einem Streitgespräch in der Zeit.
Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ einen Roman zu nennen, ist eine real existierende Möglichkeit, jedoch keine überzeugende. Die großen Feuilletons der Republik haben das Anfang Mai erschienene Buch trotz der Prominenz des Autors bis jetzt ignoriert, womöglich aus Takt. Denn hinter der Fiktion verbirgt sich wenig mehr als ein rechtspopulistisches Pamphlet mit altbekannten Feindbildern: dem Islam und den Muslimen, den „Linken“ sowie allen, die mit ethnischer, religiöser oder sexueller Vielfalt kein Problem haben und diese verteidigen möchten.
Bei der nahen Zukunft, in der der Roman spielt, könnte es sich schon um den kommenden Herbst handeln: Bundestagswahlen stehen an, aussichtsreichste Kanzlerkandidatin ist die 44-jährige Muslimin Sabah Hussein von der „Ökologischen Partei“. „Die Kandidatin“ beginnt mit einem abgewandelten Goebbels-Zitat: „‚Wollt ihr absolute Diversität?‘ (…) ‚Ja‘, skandiert die Menge, klatscht und jubelt. ‚Ja!‘“
Wie ein Teppich mit schnell durchschautem Muster entrollt sich das Buch, sein Tenor und seine These, aus diesem ersten Satz, aus dieser ersten Szene: Diversität, Postkolonialismus, Identitätspolitik tendieren zu einem neuen Faschismus, wahlweise Kommunismus. Sie einzufordern und dafür einzutreten, kommt der Erklärung eines totalen Kriegs gegen alle Normalen, Alteingesessenen, Weißen gleich. Sie sind es, die verlieren werden, wenn Sabah Hussein gewinnt. Privilegien werden sozialistisch abgeschafft, auf dem Wohnungsmarkt und anderswo herrscht affirmative action. Gegen die „Heimatkämpfer“ treten die „Antifakämpfer und die muslimische Schariabrigade“ an. Nach diesem Auftakt kurz vor Verkündigung des Wahlergebnisses erzählt das Buch die Vorgeschichte, begleitet Sabah Hussein durch den Wahlkampf, schildert ihre Herkunft aus einem Flüchtlingslager, ihre Vorliebe für Luxus („teure Kleider, goldene Armreife“), die Verstrickung ihrer Familie in die libanesische Mafia, ihren Geltungsdrang, ihre Erfolgsverliebtheit.
Wer die politische Szene in Deutschland in den letzten Jahren verfolgt hat, kommt nicht umhin, in Sabah Hussein eine Karikatur der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli zu erkennen. Sie ist im selben Alter wie Schreibers „Kandidatin“, ihr Mentor (im Buch heißt er Reuter, wie der Berliner Nachkriegsbürgermeister Ernst Reuter; in Wirklichkeit ist es der Regierende Bürgermeister Müller) kreiert für sie den Posten einer „Sonderbeauftragten für öffentliche Dialoge“. Chebli, die echte, ist Staatssekretärin für „Bürgerschaftliches Engagement“. Vielleicht meint Schreiber es nicht böse und ist nur ein schlechter, der Ironie unfähiger Autor. Gleichwohl schafft er es, in einem einzigen Satz Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus und Spott gegen Behinderte zusammenzuspannen. Sabah, die James Bond liebt, „findet es prima, dass 007 jetzt eine diverse Agentin ist, eine schwarze, lesbische Frau mit Behinderung. So kommt die politische Agenda immer mehr im Mainstream an.“ Man kann sich schon vorstellen, dass es Leute gibt, die das lustig finden mit der Agentin und ihrer Agenda. Dass China in Schreibers Zukunft Taiwan erobert hat, lässt Sabah Hussein kalt, was den Erzähler zu folgender, schwerwiegender Überlegung für den Fall ihres Wahlsieges veranlasst: „Womit wird sie den Mächtigen der Welt gegenübertreten? Ihre Waffen sind auf der internationalen Bühne stumpf.“ Ein Blick auf Kamala Harris genügt, um zu ermessen, wie diese Waffen auch aussehen könnten.
Angesichts der Bedrohungen durch die „totale Diversität“ formiert sich im Roman weißer, biodeutscher Widerstand. Eine Leibwächterin feuert auf die Kandidatin und verletzt sie schwer. In Schreibers Romanweltlogik ist ihr Motiv natürlich nachvollziehbar, denn „zu den Verlierern (…) würde auch sie, die ostdeutsche blonde Frau gehören.“ Nicht nur an dieser Stelle funkt die Erinnerung an den Mord an Walter Lübcke hässlich in die Fiktion hinein: „Es geht nicht um Vielfalt. Nein, es geht um die Übernahme unseres Landes“. Pech für die „ostdeutsche, blonde Frau“, dass das Land längst übernommen ist. Die Richterin heißt Khadija Hatoum und trägt einen Hijab. Man ersehnt jetzt längst den Moment, an dem sich im Epischen Theater die Figuren an die Zuschauer wenden, um ihnen den illusionären Charakter des Gezeigten und ihre eigenen Vorurteile vor Augen zu führen. „Die Kandidatin“ aber verzichtet darauf.
Es gehört viel Disziplin dazu, diesen Text als Roman zu lesen. In diversen Blogs wurde als Referenzbuch Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ herangezogen, der seine Figuren in ein ähnliches politisches Szenario entlässt. Allerdings ist Houellebecq nicht nur ein großer Stilist, sondern auch ein Meister der Mehrdeutigkeit, er zeichnet den Übertritt seines Protagonisten zum Islam zu gleichen Teilen als feigen Opportunismus wie auch als Suche nach spiritueller Ganzheit. Dass es sich bei Houellebecqs Szenario um eine Dystopie handele, eine Warnung gar, steht dort nicht nur in keiner Zeile geschrieben, es wäre in seinem Fall die trivialste Lesart für einen Roman, der sich mit der Krise des Individualismus auseinandersetzt.
Aber nicht jeder Debütant ist ein Houellebecq, Schreibers Buch zumindest ist wirklich frei von etwaigen französischen Ambivalenzen. Auch in Deutschland haben Muslime ein Recht auf fundierte Kritik, aber an verknöchterter Thetik sind schon andere Romane gescheitert. Es ist sicher kein gutes Zeichen, dass der Autor so häufig darauf hinweisen muss, dass es sich bei dem Buch um eine „Fiktion mit satirischer Überspitzung“ handelt und er sich von rechts keinen Beifall wünsche, wie er auch der SZ auf Anfrage mitteilt. Zieht man allein den Text zurate, ist das Buch nur so zu verstehen: als reaktionäres Manifest.
„Die Kandidatin“ steht im Zusammenhang mit anderen Büchern desselben Autors, die auf ähnliche Weise darauf hinauslaufen, die Angst vor dem Islam zu schüren und Muslime zu diffamieren: „Die Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen“ über die sogenannte Ideologisierung von Kindern in vielen muslimisch geprägten Ländern. Und nach demselben Schema: „Inside Islam. Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“. Kritikwürdige Züge des zeitgenössischen Islams, mancher Muslime und vieler muslimischer Gesellschaften zeigt man verantwortungsvoll anders auf.
Schreiber ist auf dem Gebiet keineswegs Dilettant: Er spricht fließend arabisch, jahrelang berichtete er für das arabische Programm der Deutschen Welle aus dem Nahen Osten, in dem ägyptischen Sender ONTV moderierte er eine Wissenschaftssendung. 2016 wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, für die Moderation der deutsch-arabischen Sendung „Marhaba – Ankommen in Deutschland“.
Parallel zur umstrittenen österreichischen Seite islam-landkarte.at, auf die rechte, anti-islamische Aktivisten dankbar zurückgreifen, wie die Betreiber inzwischen selbst festgestellt haben, hat Schreiber aber eben auch die Seite moscheepedia.org initiiert und ruft dazu auf, Fotos, Videos und Beschreibungen von Moscheen hochzuladen. Welcher Zweck soll gut genug sein, um derartige Übergriffe auf fremde sakrale Räume zu rechtfertigen? „Solche Kartierungen stigmatisieren“, hält Reinhard Schulze, Berner Emeritus für Islamwissenschaften, in einem Tweet fest.
Alle diese Nebentätigkeiten geschehen nicht unabhängig von Schreibers eigentlichen Arbeitgebern, ARD-aktuell und NDR, sondern ebendort im besten Wechselspiel von Tweet und Retweet, von Talkshowauftritten und „Tagesschau“-Präsenz. Und so ist „Die Kandidatin“ womöglich mehr als nur ein schlechtes Buch.
STEFAN WEIDNER
Die Hauptfigur teilt sehr
viele Merkmale mit der
SPD-Politikerin Sawsan Chebli
„Die Kandidatin“ ist
nicht sein einzige Buch
zu diesem Thema
Foto: imago/Sven Simon
Constantin Schreiber:
Die Kandidatin.
Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2021.
208 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Heimatbeauftragter
„Tagesschau“-Sprecher Constantin Schreiber hat einen Roman voller Feindbilder
geschrieben. Sagen wir mal so: Der neue Houellebecq ist der Autor nicht
Im Oktober 2001 wäre der beliebteste deutsche Nachrichtensprecher einmal fast gefeuert worden. Ulrich Wickert hatte in einer Glosse die indische Schriftstellerin Arundhati Roy zitiert, die Osama bin Laden, den Drahtzieher der Anschläge von 9/11, als „dunklen Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“ George W. Bush bezeichnete. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hielt den armen Wickert daraufhin für „absolut nicht mehr tragbar als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.“ Mit einer Entschuldigung, in der er Bush als „Führer der freien Welt“ bezeichnete, gelang es Wickert so gerade noch, seine Entlassung zu verhindern.
Zwanzig Jahre später ist mit Constantin Schreiber ein neuer Anchor der ARD angetreten, um die politische Korrektheit herauszufordern. Diesmal freilich ist es die Korrektheit von links, und dass er sich dafür wird entschuldigen müssen, ist offenbar eher unwahrscheinlich. Im Unterschied zu Wickert ist Schreiber ein Großmeister des medialen Gaslighting. Er ist in verschiedenen Rollen auf etlichen Kanälen präsent und doch nirgendwo richtig zu greifen. Statt in einer Zeitung die eigene Meinung kundzutun, publiziert er lieber einen Roman. Darin steht vielleicht vieles, was der Autor immer schon loswerden wollte, doch niemand kann ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. „Alle Romanfiguren sind fiktiv“, sagte er in einem Streitgespräch in der Zeit.
Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ einen Roman zu nennen, ist eine real existierende Möglichkeit, jedoch keine überzeugende. Die großen Feuilletons der Republik haben das Anfang Mai erschienene Buch trotz der Prominenz des Autors bis jetzt ignoriert, womöglich aus Takt. Denn hinter der Fiktion verbirgt sich wenig mehr als ein rechtspopulistisches Pamphlet mit altbekannten Feindbildern: dem Islam und den Muslimen, den „Linken“ sowie allen, die mit ethnischer, religiöser oder sexueller Vielfalt kein Problem haben und diese verteidigen möchten.
Bei der nahen Zukunft, in der der Roman spielt, könnte es sich schon um den kommenden Herbst handeln: Bundestagswahlen stehen an, aussichtsreichste Kanzlerkandidatin ist die 44-jährige Muslimin Sabah Hussein von der „Ökologischen Partei“. „Die Kandidatin“ beginnt mit einem abgewandelten Goebbels-Zitat: „‚Wollt ihr absolute Diversität?‘ (…) ‚Ja‘, skandiert die Menge, klatscht und jubelt. ‚Ja!‘“
Wie ein Teppich mit schnell durchschautem Muster entrollt sich das Buch, sein Tenor und seine These, aus diesem ersten Satz, aus dieser ersten Szene: Diversität, Postkolonialismus, Identitätspolitik tendieren zu einem neuen Faschismus, wahlweise Kommunismus. Sie einzufordern und dafür einzutreten, kommt der Erklärung eines totalen Kriegs gegen alle Normalen, Alteingesessenen, Weißen gleich. Sie sind es, die verlieren werden, wenn Sabah Hussein gewinnt. Privilegien werden sozialistisch abgeschafft, auf dem Wohnungsmarkt und anderswo herrscht affirmative action. Gegen die „Heimatkämpfer“ treten die „Antifakämpfer und die muslimische Schariabrigade“ an. Nach diesem Auftakt kurz vor Verkündigung des Wahlergebnisses erzählt das Buch die Vorgeschichte, begleitet Sabah Hussein durch den Wahlkampf, schildert ihre Herkunft aus einem Flüchtlingslager, ihre Vorliebe für Luxus („teure Kleider, goldene Armreife“), die Verstrickung ihrer Familie in die libanesische Mafia, ihren Geltungsdrang, ihre Erfolgsverliebtheit.
Wer die politische Szene in Deutschland in den letzten Jahren verfolgt hat, kommt nicht umhin, in Sabah Hussein eine Karikatur der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli zu erkennen. Sie ist im selben Alter wie Schreibers „Kandidatin“, ihr Mentor (im Buch heißt er Reuter, wie der Berliner Nachkriegsbürgermeister Ernst Reuter; in Wirklichkeit ist es der Regierende Bürgermeister Müller) kreiert für sie den Posten einer „Sonderbeauftragten für öffentliche Dialoge“. Chebli, die echte, ist Staatssekretärin für „Bürgerschaftliches Engagement“. Vielleicht meint Schreiber es nicht böse und ist nur ein schlechter, der Ironie unfähiger Autor. Gleichwohl schafft er es, in einem einzigen Satz Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus und Spott gegen Behinderte zusammenzuspannen. Sabah, die James Bond liebt, „findet es prima, dass 007 jetzt eine diverse Agentin ist, eine schwarze, lesbische Frau mit Behinderung. So kommt die politische Agenda immer mehr im Mainstream an.“ Man kann sich schon vorstellen, dass es Leute gibt, die das lustig finden mit der Agentin und ihrer Agenda. Dass China in Schreibers Zukunft Taiwan erobert hat, lässt Sabah Hussein kalt, was den Erzähler zu folgender, schwerwiegender Überlegung für den Fall ihres Wahlsieges veranlasst: „Womit wird sie den Mächtigen der Welt gegenübertreten? Ihre Waffen sind auf der internationalen Bühne stumpf.“ Ein Blick auf Kamala Harris genügt, um zu ermessen, wie diese Waffen auch aussehen könnten.
Angesichts der Bedrohungen durch die „totale Diversität“ formiert sich im Roman weißer, biodeutscher Widerstand. Eine Leibwächterin feuert auf die Kandidatin und verletzt sie schwer. In Schreibers Romanweltlogik ist ihr Motiv natürlich nachvollziehbar, denn „zu den Verlierern (…) würde auch sie, die ostdeutsche blonde Frau gehören.“ Nicht nur an dieser Stelle funkt die Erinnerung an den Mord an Walter Lübcke hässlich in die Fiktion hinein: „Es geht nicht um Vielfalt. Nein, es geht um die Übernahme unseres Landes“. Pech für die „ostdeutsche, blonde Frau“, dass das Land längst übernommen ist. Die Richterin heißt Khadija Hatoum und trägt einen Hijab. Man ersehnt jetzt längst den Moment, an dem sich im Epischen Theater die Figuren an die Zuschauer wenden, um ihnen den illusionären Charakter des Gezeigten und ihre eigenen Vorurteile vor Augen zu führen. „Die Kandidatin“ aber verzichtet darauf.
Es gehört viel Disziplin dazu, diesen Text als Roman zu lesen. In diversen Blogs wurde als Referenzbuch Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ herangezogen, der seine Figuren in ein ähnliches politisches Szenario entlässt. Allerdings ist Houellebecq nicht nur ein großer Stilist, sondern auch ein Meister der Mehrdeutigkeit, er zeichnet den Übertritt seines Protagonisten zum Islam zu gleichen Teilen als feigen Opportunismus wie auch als Suche nach spiritueller Ganzheit. Dass es sich bei Houellebecqs Szenario um eine Dystopie handele, eine Warnung gar, steht dort nicht nur in keiner Zeile geschrieben, es wäre in seinem Fall die trivialste Lesart für einen Roman, der sich mit der Krise des Individualismus auseinandersetzt.
Aber nicht jeder Debütant ist ein Houellebecq, Schreibers Buch zumindest ist wirklich frei von etwaigen französischen Ambivalenzen. Auch in Deutschland haben Muslime ein Recht auf fundierte Kritik, aber an verknöchterter Thetik sind schon andere Romane gescheitert. Es ist sicher kein gutes Zeichen, dass der Autor so häufig darauf hinweisen muss, dass es sich bei dem Buch um eine „Fiktion mit satirischer Überspitzung“ handelt und er sich von rechts keinen Beifall wünsche, wie er auch der SZ auf Anfrage mitteilt. Zieht man allein den Text zurate, ist das Buch nur so zu verstehen: als reaktionäres Manifest.
„Die Kandidatin“ steht im Zusammenhang mit anderen Büchern desselben Autors, die auf ähnliche Weise darauf hinauslaufen, die Angst vor dem Islam zu schüren und Muslime zu diffamieren: „Die Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen“ über die sogenannte Ideologisierung von Kindern in vielen muslimisch geprägten Ländern. Und nach demselben Schema: „Inside Islam. Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“. Kritikwürdige Züge des zeitgenössischen Islams, mancher Muslime und vieler muslimischer Gesellschaften zeigt man verantwortungsvoll anders auf.
Schreiber ist auf dem Gebiet keineswegs Dilettant: Er spricht fließend arabisch, jahrelang berichtete er für das arabische Programm der Deutschen Welle aus dem Nahen Osten, in dem ägyptischen Sender ONTV moderierte er eine Wissenschaftssendung. 2016 wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, für die Moderation der deutsch-arabischen Sendung „Marhaba – Ankommen in Deutschland“.
Parallel zur umstrittenen österreichischen Seite islam-landkarte.at, auf die rechte, anti-islamische Aktivisten dankbar zurückgreifen, wie die Betreiber inzwischen selbst festgestellt haben, hat Schreiber aber eben auch die Seite moscheepedia.org initiiert und ruft dazu auf, Fotos, Videos und Beschreibungen von Moscheen hochzuladen. Welcher Zweck soll gut genug sein, um derartige Übergriffe auf fremde sakrale Räume zu rechtfertigen? „Solche Kartierungen stigmatisieren“, hält Reinhard Schulze, Berner Emeritus für Islamwissenschaften, in einem Tweet fest.
Alle diese Nebentätigkeiten geschehen nicht unabhängig von Schreibers eigentlichen Arbeitgebern, ARD-aktuell und NDR, sondern ebendort im besten Wechselspiel von Tweet und Retweet, von Talkshowauftritten und „Tagesschau“-Präsenz. Und so ist „Die Kandidatin“ womöglich mehr als nur ein schlechtes Buch.
STEFAN WEIDNER
Die Hauptfigur teilt sehr
viele Merkmale mit der
SPD-Politikerin Sawsan Chebli
„Die Kandidatin“ ist
nicht sein einzige Buch
zu diesem Thema
Foto: imago/Sven Simon
Constantin Schreiber:
Die Kandidatin.
Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2021.
208 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Tagesschau“-Sprecher Constantin Schreiber hat einen Roman voller Feindbilder
geschrieben. Sagen wir mal so: Der neue Houellebecq ist der Autor nicht
Im Oktober 2001 wäre der beliebteste deutsche Nachrichtensprecher einmal fast gefeuert worden. Ulrich Wickert hatte in einer Glosse die indische Schriftstellerin Arundhati Roy zitiert, die Osama bin Laden, den Drahtzieher der Anschläge von 9/11, als „dunklen Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“ George W. Bush bezeichnete. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hielt den armen Wickert daraufhin für „absolut nicht mehr tragbar als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.“ Mit einer Entschuldigung, in der er Bush als „Führer der freien Welt“ bezeichnete, gelang es Wickert so gerade noch, seine Entlassung zu verhindern.
Zwanzig Jahre später ist mit Constantin Schreiber ein neuer Anchor der ARD angetreten, um die politische Korrektheit herauszufordern. Diesmal freilich ist es die Korrektheit von links, und dass er sich dafür wird entschuldigen müssen, ist offenbar eher unwahrscheinlich. Im Unterschied zu Wickert ist Schreiber ein Großmeister des medialen Gaslighting. Er ist in verschiedenen Rollen auf etlichen Kanälen präsent und doch nirgendwo richtig zu greifen. Statt in einer Zeitung die eigene Meinung kundzutun, publiziert er lieber einen Roman. Darin steht vielleicht vieles, was der Autor immer schon loswerden wollte, doch niemand kann ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. „Alle Romanfiguren sind fiktiv“, sagte er in einem Streitgespräch in der Zeit.
Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ einen Roman zu nennen, ist eine real existierende Möglichkeit, jedoch keine überzeugende. Die großen Feuilletons der Republik haben das Anfang Mai erschienene Buch trotz der Prominenz des Autors bis jetzt ignoriert, womöglich aus Takt. Denn hinter der Fiktion verbirgt sich wenig mehr als ein rechtspopulistisches Pamphlet mit altbekannten Feindbildern: dem Islam und den Muslimen, den „Linken“ sowie allen, die mit ethnischer, religiöser oder sexueller Vielfalt kein Problem haben und diese verteidigen möchten.
Bei der nahen Zukunft, in der der Roman spielt, könnte es sich schon um den kommenden Herbst handeln: Bundestagswahlen stehen an, aussichtsreichste Kanzlerkandidatin ist die 44-jährige Muslimin Sabah Hussein von der „Ökologischen Partei“. „Die Kandidatin“ beginnt mit einem abgewandelten Goebbels-Zitat: „‚Wollt ihr absolute Diversität?‘ (…) ‚Ja‘, skandiert die Menge, klatscht und jubelt. ‚Ja!‘“
Wie ein Teppich mit schnell durchschautem Muster entrollt sich das Buch, sein Tenor und seine These, aus diesem ersten Satz, aus dieser ersten Szene: Diversität, Postkolonialismus, Identitätspolitik tendieren zu einem neuen Faschismus, wahlweise Kommunismus. Sie einzufordern und dafür einzutreten, kommt der Erklärung eines totalen Kriegs gegen alle Normalen, Alteingesessenen, Weißen gleich. Sie sind es, die verlieren werden, wenn Sabah Hussein gewinnt. Privilegien werden sozialistisch abgeschafft, auf dem Wohnungsmarkt und anderswo herrscht affirmative action. Gegen die „Heimatkämpfer“ treten die „Antifakämpfer und die muslimische Schariabrigade“ an. Nach diesem Auftakt kurz vor Verkündigung des Wahlergebnisses erzählt das Buch die Vorgeschichte, begleitet Sabah Hussein durch den Wahlkampf, schildert ihre Herkunft aus einem Flüchtlingslager, ihre Vorliebe für Luxus („teure Kleider, goldene Armreife“), die Verstrickung ihrer Familie in die libanesische Mafia, ihren Geltungsdrang, ihre Erfolgsverliebtheit.
Wer die politische Szene in Deutschland in den letzten Jahren verfolgt hat, kommt nicht umhin, in Sabah Hussein eine Karikatur der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli zu erkennen. Sie ist im selben Alter wie Schreibers „Kandidatin“, ihr Mentor (im Buch heißt er Reuter, wie der Berliner Nachkriegsbürgermeister Ernst Reuter; in Wirklichkeit ist es der Regierende Bürgermeister Müller) kreiert für sie den Posten einer „Sonderbeauftragten für öffentliche Dialoge“. Chebli, die echte, ist Staatssekretärin für „Bürgerschaftliches Engagement“. Vielleicht meint Schreiber es nicht böse und ist nur ein schlechter, der Ironie unfähiger Autor. Gleichwohl schafft er es, in einem einzigen Satz Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus und Spott gegen Behinderte zusammenzuspannen. Sabah, die James Bond liebt, „findet es prima, dass 007 jetzt eine diverse Agentin ist, eine schwarze, lesbische Frau mit Behinderung. So kommt die politische Agenda immer mehr im Mainstream an.“ Man kann sich schon vorstellen, dass es Leute gibt, die das lustig finden mit der Agentin und ihrer Agenda. Dass China in Schreibers Zukunft Taiwan erobert hat, lässt Sabah Hussein kalt, was den Erzähler zu folgender, schwerwiegender Überlegung für den Fall ihres Wahlsieges veranlasst: „Womit wird sie den Mächtigen der Welt gegenübertreten? Ihre Waffen sind auf der internationalen Bühne stumpf.“ Ein Blick auf Kamala Harris genügt, um zu ermessen, wie diese Waffen auch aussehen könnten.
Angesichts der Bedrohungen durch die „totale Diversität“ formiert sich im Roman weißer, biodeutscher Widerstand. Eine Leibwächterin feuert auf die Kandidatin und verletzt sie schwer. In Schreibers Romanweltlogik ist ihr Motiv natürlich nachvollziehbar, denn „zu den Verlierern (…) würde auch sie, die ostdeutsche blonde Frau gehören.“ Nicht nur an dieser Stelle funkt die Erinnerung an den Mord an Walter Lübcke hässlich in die Fiktion hinein: „Es geht nicht um Vielfalt. Nein, es geht um die Übernahme unseres Landes“. Pech für die „ostdeutsche, blonde Frau“, dass das Land längst übernommen ist. Die Richterin heißt Khadija Hatoum und trägt einen Hijab. Man ersehnt jetzt längst den Moment, an dem sich im Epischen Theater die Figuren an die Zuschauer wenden, um ihnen den illusionären Charakter des Gezeigten und ihre eigenen Vorurteile vor Augen zu führen. „Die Kandidatin“ aber verzichtet darauf.
Es gehört viel Disziplin dazu, diesen Text als Roman zu lesen. In diversen Blogs wurde als Referenzbuch Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ herangezogen, der seine Figuren in ein ähnliches politisches Szenario entlässt. Allerdings ist Houellebecq nicht nur ein großer Stilist, sondern auch ein Meister der Mehrdeutigkeit, er zeichnet den Übertritt seines Protagonisten zum Islam zu gleichen Teilen als feigen Opportunismus wie auch als Suche nach spiritueller Ganzheit. Dass es sich bei Houellebecqs Szenario um eine Dystopie handele, eine Warnung gar, steht dort nicht nur in keiner Zeile geschrieben, es wäre in seinem Fall die trivialste Lesart für einen Roman, der sich mit der Krise des Individualismus auseinandersetzt.
Aber nicht jeder Debütant ist ein Houellebecq, Schreibers Buch zumindest ist wirklich frei von etwaigen französischen Ambivalenzen. Auch in Deutschland haben Muslime ein Recht auf fundierte Kritik, aber an verknöchterter Thetik sind schon andere Romane gescheitert. Es ist sicher kein gutes Zeichen, dass der Autor so häufig darauf hinweisen muss, dass es sich bei dem Buch um eine „Fiktion mit satirischer Überspitzung“ handelt und er sich von rechts keinen Beifall wünsche, wie er auch der SZ auf Anfrage mitteilt. Zieht man allein den Text zurate, ist das Buch nur so zu verstehen: als reaktionäres Manifest.
„Die Kandidatin“ steht im Zusammenhang mit anderen Büchern desselben Autors, die auf ähnliche Weise darauf hinauslaufen, die Angst vor dem Islam zu schüren und Muslime zu diffamieren: „Die Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen“ über die sogenannte Ideologisierung von Kindern in vielen muslimisch geprägten Ländern. Und nach demselben Schema: „Inside Islam. Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“. Kritikwürdige Züge des zeitgenössischen Islams, mancher Muslime und vieler muslimischer Gesellschaften zeigt man verantwortungsvoll anders auf.
Schreiber ist auf dem Gebiet keineswegs Dilettant: Er spricht fließend arabisch, jahrelang berichtete er für das arabische Programm der Deutschen Welle aus dem Nahen Osten, in dem ägyptischen Sender ONTV moderierte er eine Wissenschaftssendung. 2016 wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, für die Moderation der deutsch-arabischen Sendung „Marhaba – Ankommen in Deutschland“.
Parallel zur umstrittenen österreichischen Seite islam-landkarte.at, auf die rechte, anti-islamische Aktivisten dankbar zurückgreifen, wie die Betreiber inzwischen selbst festgestellt haben, hat Schreiber aber eben auch die Seite moscheepedia.org initiiert und ruft dazu auf, Fotos, Videos und Beschreibungen von Moscheen hochzuladen. Welcher Zweck soll gut genug sein, um derartige Übergriffe auf fremde sakrale Räume zu rechtfertigen? „Solche Kartierungen stigmatisieren“, hält Reinhard Schulze, Berner Emeritus für Islamwissenschaften, in einem Tweet fest.
Alle diese Nebentätigkeiten geschehen nicht unabhängig von Schreibers eigentlichen Arbeitgebern, ARD-aktuell und NDR, sondern ebendort im besten Wechselspiel von Tweet und Retweet, von Talkshowauftritten und „Tagesschau“-Präsenz. Und so ist „Die Kandidatin“ womöglich mehr als nur ein schlechtes Buch.
STEFAN WEIDNER
Die Hauptfigur teilt sehr
viele Merkmale mit der
SPD-Politikerin Sawsan Chebli
„Die Kandidatin“ ist
nicht sein einzige Buch
zu diesem Thema
Foto: imago/Sven Simon
Constantin Schreiber:
Die Kandidatin.
Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2021.
208 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Constantin Schreiber hat ein tolles Buch geschrieben.« Hubertus Meyer-Burckhardt NDR "Talk Show" 20210514