Emma Stonex nimmt ihre Leser mit auf einen Leuchtturm an die Küste Cornwalls. "Ein Fischer hat einmal gesagt, das Meer habe zwei Gesichter. Man müsse sie annehmen... das gute wie das böse, und darf keinem von beiden den Rücken zuwenden."
Jory kennt das Meer wie seine Westentasche – heute ist es
spiegelglatt. Heute werden sie hinausfahren, hinaus auf den Maiden Rock, dem Turm im Meer. Das…mehrEmma Stonex nimmt ihre Leser mit auf einen Leuchtturm an die Küste Cornwalls. "Ein Fischer hat einmal gesagt, das Meer habe zwei Gesichter. Man müsse sie annehmen... das gute wie das böse, und darf keinem von beiden den Rücken zuwenden."
Jory kennt das Meer wie seine Westentasche – heute ist es spiegelglatt. Heute werden sie hinausfahren, hinaus auf den Maiden Rock, dem Turm im Meer. Das Anlanden dauert, endlich erreichen sie die Tür, die jedoch von innen abgeschlossen ist. Die Stahlplatte muss aufgebrochen werden, drinnen sehen sie, dass der Tisch für zwei gedeckt ist, sie aber waren drei Mann. Warum? Eine der vielen Fragen, die nicht beantwortet werden kann. Das Ölzeug der Männer hängt am Haken, die beiden Wanduhren sind stehengeblieben: Viertel vor neun zeigen sie an – ein Zufall? Ein Mysterium, das auch zwanzig Jahre später nicht geklärt ist. Ein Schriftsteller nimmt sich der Geschichte an, will von den Frauen mehr wissen. Sie jedoch haben zwar ihre Vermutungen, aber sie wissen nichts.
Emma Stonex entführt ihre Leser in eine Zeit, in der die Leuchttürme noch nicht automatisiert waren. Ihre fiktive Geschichte lehnt sich an das spurlose Verschwinden dreier Männer von einem Leuchtturm, deren Verbleib nie aufgeklärt wurde, an. Sie erzählt ihre Geschichte einmal aus Sicht der Wärter. 1972 war ihr letztes Jahr auf dem Leuchtturm, sie mussten klarkommen mit dem mitunter sehr stürmischen Meer, waren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, mussten sich über viele Wochen ergänzen, sich aufeinander verlassen können. Es war kein leichtes Leben, auch wenn sie viel Zeit hatten, ein Tag war lang. Trotzdem musste rund um die Uhr einer da sein, das Meer und die Schiffe beobachten und diese leiten. Zwanzig Jahre später sind die Frauen an der Reihe, jede hat ihre eigene Betrachtungsweise auf damals, hat ihre eigenen Erklärungen. Der Leser lernt Helen, Jenny und Michelle immer besser kennen und im Laufe des Buches hat sich meine Einstellung ihnen gegenüber grundlegend geändert. Von den Wärtern Arthur, Bill und Vincent erfährt der Leser viel, ihre Gemütsverfassung, ihre Lieben, ihre Abneigungen sind bald vertraut, man schätzt den einen mehr, verurteilt das Tun des anderen. Ihre Vergangenheit wird nach und nach sichtbarer, keiner kommt ungeschoren davon. Ihre Ängste und Sehnsüchte, ihre Beziehungen, die erlittenen Verluste – all das kommt zur Sprache.
Eine zuweilen mystische Atmosphäre herrscht im Turm, der man sich als Leser nicht entziehen kann. So etliche Szenen sind geheimnisvoll, unerklärbar angelegt, dass man Schein und Sein nur erahnen kann, wenn überhaupt. War das wirklich so oder bildet man sich das nur ein? Diese illusorischen Momente mochte ich sehr, die Perspektiven wechseln vom Gestern zum Heute. Mit viel Gespür führt die Autorin durch ihre Geschichte, lässt viel Spielraum für Vermutungen.
Das Ende kam zu abrupt, einer Auflösung hätte es nicht bedurft. Hier, und nur hier, war ich etwas enttäuscht. Mir hätte es sehr viel besser gefallen, wenn all diese Mystik in der Schwebe geblieben wäre. So wäre der nicht ganz greifbare, ja surreale Charakter erhalten geblieben.
Diese Erzählung ist wie eine gewaltige Woge, unbezwingbar wie das Meer, das so manches mit sich reißt - und mich hat dieser außergewöhnliche Roman mitgerissen. Ein Leseerlebnis, das nachhallt.