Der junge österreichische Autor Clemens J. Setz geht mit Sprache um wie ein Chirurg mit dem Seziermesser. Clemens J. Setz ist ein scharfer Beobachter, der hinter die Fassaden gepflegter Reihenhaussiedlungen schaut und menschliche Eigenarten und Abgründe mit gnadenlos präziser Genauigkeit schildert. Aber sein Blick kann auch zärtlich und liebevoll sein, was den Geschichten in seinem Band "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" einen faszinierenden Facettenreichtum verleiht. Diese Stories, manche voll grotesker Ideen, können durch subtilen Horror und gewalttätige Ausbrüche unter die Haut gehen. Doch sie verzaubern den Hörer auch durch die Ambivalenz zärtlicher Momente und Blicke.
buecher-magazin.deEin Hörbuch, das Neues entstehen lässt, ist ein Glücksfall. Wie diese Produktion mit Geschichten von Setz, der 2011 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Der Autor überrascht mit ungewohnten Metaphern, die die bedrückende Stimmung seiner Texte noch verstärken. Ob auf einem fernen Planeten oder im Waggon eines Riesenrads – immer geht es um Menschen, die in sich selbst gefangen sind. Setz‘ unglückliche Protagonisten eignen sich nicht zur Identifikation. Dennoch erzeugen die Geschichten einen Sog, der in die Handlung hineinzieht. Ehe man sich versieht, folgt man gebannt und wartet unwillkürlich auf die Pointe. Vergeblich. Stattdessen endet Setz meist mit einer überraschenden Wendung, die den Hörer mit mehr Fragen als Antworten zurücklässt und zum Weiterdenken auffordert.
Brandts Stimme ist wie ein Instrument, das die Geschichten in ihrer Mehrdeutigkeit zum Klingen bringt. Sorgfältig arbeitet er Nuancen und Stimmungen jeder einzelnen Passage heraus. Carsten Danes musikalische Impressionen schmiegen sich an die gesprochene Sprache und verstärken die Atmosphäre der Geschichten.
© BÜCHERmagazin, Ann-Kathrin Marr (akm)
Brandts Stimme ist wie ein Instrument, das die Geschichten in ihrer Mehrdeutigkeit zum Klingen bringt. Sorgfältig arbeitet er Nuancen und Stimmungen jeder einzelnen Passage heraus. Carsten Danes musikalische Impressionen schmiegen sich an die gesprochene Sprache und verstärken die Atmosphäre der Geschichten.
© BÜCHERmagazin, Ann-Kathrin Marr (akm)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2011Da
rumort
ein Kind
Der junge Grazer Autor
Clemens J. Setz öffnet seine
Kiste voller Schreckensbilder
und erreicht das Erzähllevel
jenseits des Realismus
Von Lothar Müller
Seit der große Bruder ausgezogen ist, hat der Junge jede Nacht Albträume – und Angst einzuschlafen. Wenn gar nichts mehr hilft, holt er unter seinem Bett die blaue Kiste hervor. Darin bewahrt er seine Bildersammlung auf. Die Kreuzigung auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars liegt darin neben dem Elefantenmenschen, vor dem Pestdoktor auf einem alten Stich liegt ein schwarzer Leichnam da „wie ein Büschel verbrannter Wolle“, vergreiste Elfen aus einem Kinderbuch, denen die Herzen als graue Pilze aus der Brust schlüpfen, gesellen sich zu einer Hölle von Hieronymus Bosch und ausrangierten Actionfiguren. Das sind seltsame Einschlafbilder, bestens geeignet, die Albträume hervorzurufen, denen der Junge zu entkommen sucht.
Der schlaflose Junge mit seiner blauen Kiste ist kein Unschuldslamm. Am Tag seiner ersten Kommunion wird er zum bösen Kind, zum gewalttätigen Peiniger seines sanft-wehrlosen Freundes. Und mit der Hostie treibt er seinen Schabernack. Diesen schlaflosen, bösen Jungen hat der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz erfunden und zur Portalfigur seines Erzählungsbandes „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ gemacht.
Clemens J. Setz, 1982 in Graz geboren, hat in seiner Heimatstadt Mathematik und Germanistik studiert. Der Selbstmörder, der in seinem Romandebüt „Söhne und Planeten“ (2007) im Konflikt mit dem Vater auf der Strecke blieb, ging nicht in den Himmel des Familienromans ein, und es stand nicht der psychologische Realismus trauernd an seinem Grabe. Er geriet vielmehr auf die Umlaufbahn im Kopf des Autors, der wie sein böses Kind über eine blaue Kiste voller Schreckensbilder verfügt, die mit einer Tonspur aus Filmen und Handys, Radios und Fernsehern unterlegt ist.
Als Sohn seiner Stadt hat Clemens J. Setz diese Kiste gefüllt. Sie enthält das Stimmengewirr der österreichischen Moderne, die in Graz eines ihrer Hauptquartiere aufschlug, als Peter Handke dort ins Kino ging, Alfred Kolleritsch die Zeitschrift manuskripte gründete. Setz, der Nachgeborene, hat nicht als Stimmenimitator der Literatur seinen Ton gefunden. Als er 2008 unter dem Titel „Der Mann aus dem Fegefeuer“ den Roman „Entering Hades“ des amerikanischen Autors John Leakes übersetzte. Der Serienmörder Jack Unterweger, von dem das Buch handelte, stammte aus der Steiermark und trieb sein Unwesen nicht in Amerika, sondern in Österreich, auch in Graz, wo er sich 1994 im Gefängnis erhängte, nachdem er zum zweiten Mal als Frauenmörder verurteilt worden war.
Während der Verbüßung seiner ersten Haftstraße hatte Unterweger zu schreiben begonnen und war durch seine Autobiographie („Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“) berühmt geworden. Zahlreiche österreichische Intellektuelle hatten sich dafür eingesetzt, dass er 1990 entlassen wurde, statt in Sicherungsverwahrung zu verbleiben. Kaum war er frei, begann er wieder zu morden.
Als Clemens J. Setz 2009 den Roman „Die Frequenzen“ veröffentlichte, war darin der Grazer Stadtpark ein Ort, an dem man mit Wiedergängern von Jack Unterweger rechnen musste. Eine Gewalttat, plötzlich hereinbrechend wie ein Verkehrsunfall, auf wackligen Handybildern festgehalten, ließ ihr Opfer im Koma zurück. Ein Höhepunkt des Romans war das „Solo für Nokia 6151“, in dem ein junger Mann mit Headset durch Graz läuft, aber nicht in ein Handy spricht. Sein Monolog, ein Delirium aus Wahrnehmungen und Gedanken, ließ die Stärke des Autors Setz erkennen: die Bilder und Töne seiner blauen Kiste in Sprache, in Prosa zu bannen.
In diesem neuen Erzählband gibt es eine Schlüsselgeschichte, „Kleine braune Tiere“. Sie stellt in Form eines fußnotengespickten Essays einen Nerd namens M.D. Regan vor, der ein undurchschaubares surreales Computerspiel entwickelt und sich dann umgebracht hat. Er ist noch mit den Spielen aus der Steinzeit des elektronischen Zeitalters aufgewachsen, mit Super Mario , Sokoban und Doom . Sein Nachlass enthält eine hinreißend komisch-exakte Beschreibung der herabfallenden Steine im Spiel Tetris .
Dieser Nerd ist das, was die Amerikaner „Omnivore“ nennen, einen Allesfresser. In seinem Universum gibt es keine Niveauunterschiede zwischen Trash und hoher Kunst. Im pornographischen Film einer amerikanischen „Extrem-Performerin“ will er die Stadien der Selbstaufgabe in der Tragödie „Antigone“ wiedererkennen. Die Figuren in Sokoban oder Super Mario sind für ihn Verwandte der bunten Kapuzenmänner, die in Samuel Becketts später TV-Sequenz „Quadrat 1+2“ in den immer gleichen Bewegungsabläufen über die Grundfläche huschen. Für sein eigenes Spiel hat er den Surrealismus geplündert.
Der Autor Clemens J. Setz ist ein Verwandter des fiktiven Nerd. Die Obsession aller Computerspiele, das Erreichen des nächsthöheren Levels ist in seine Erzählungen eingewandert. Das gilt vor allem dort, wo die Figuren die Grenze zur Lust an der Gewalt überschreiten wie der böse schlaflose Junge aus der ersten Erzählung, der seinen sanften Spielfreund quält, die Arbeitskollegen, die einen neuen Mitarbeiter erniedrigen oder das Paar, das Herr und Sklave spielt, nachdem die junge Frau einen Käfig erstanden hat.
Setz geht in den Clinch mit einem Urmodell des Voranschreitens von Level zu Level der Grausamkeit, dem Marquis de Sade. Er erfindet ein gebildetes Lehrerpaar, das seine physische Lust nach den Regeln des Marquis steigert und durch die Lust an der eigenen Amoral, an der Demütigung einer Hure und Zerstörung einer jungen Unschuld krönt – und zahlt für die Vorführung des abstoßenden Paares einen hohen Preis. Er opfert in dieser Rollenprosa seine eigene Sprache, die doch das Zeug zur Unruhestifterin und ironischen Vernichterin hätte, dem biederen Realismus landläufiger, leicht anklickbarer Pornographie.
Immer dann gelingen Setz seine Grotesken, wenn er zur eigenen Sprache, zur eigenen Spielanleitung findet. David Lynch, dessen Filme – „Der Elefantenmensch“, „Eraserhead“, „Blue Velvet“ – sich in der blauen Setz-Kiste über Kafkas „Verwandlung“ und „Strafkolonie“ und seinen abgründigen Satz „Das Böse ist der Sternhimmel des Guten“ legen, steht dabei eher im Weg, gerade weil die Geschichte von den Visitenkarten, über die sich schwärende Pusteln legen und als ansteckende Krankheit verbreiten, wie eine Lynch-Paraphrase wirken.
Wie freischwebend wirkt demgegenüber die kleine Erzählung, in der ein Musikliebhaber auf einen Planeten ausgewandert ist, um einen musikempfänglichen Roboter zu basteln. Der extraterrestrische Plot ist hier nur die Rampe für einen Prosaflug über die zurückgelassenen alteuropäischen Städte und die Musik ihrer Glocken: „in Krisenzeiten klangen sie anders, wälzten sich unruhiger von der einen auf die andere Seite, wie Schläfer mit schrecklichen Träumen.“ In einer anderen Erzählung wird derweil ein Dichter in der Kapelle, in der seine tote Mutter aufgebahrt ist, zur Spukgestalt.
Eine große alte Waage, die plötzlich im Hof steht, greift umso unwiderstehlicher ins Leben eines Paares ein, je weniger die Erzählung sie mit symbolischem Gewicht ausstattet. Und in einer Coming-of-Age-Geschichte wird die plötzlich einsetzende Empfindlichkeit gegenüber dem sexuellen Zynismus ganz ohne moralischen Zeigefinger zum Zeichen des Erwachsenwerdens.
Seltsame surrealistische Kisten sind die „boxes“ des amerikanischen Bildhauers Joseph Cornell, denen der amerikanische Autor Robert Coover einen schmalen Prosaband gewidmet. In der Titelgeschichte seines Bandes zitiert Setz daraus: „ich schlief in einem der kleinen hotels / aus den Kästen Joseph Cornells.“ „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ handelt von einer Skulptur. Sie ist aus Lehm und sehr weich, sehr formbar, ein interaktives Kunstwerk, das mit Schlägen, Tritten oder Werkzeugen aller Art „in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes“ gebracht werden soll.
Noch schwankt Clemens J. Setz bei seiner Suche nach einer surrealistisch gefärbten deutschen Prosa, und manchmal stürzt er ab. Aber eines hat er schon erreicht: Man spürt, dass in seiner blauen Kiste ein leibhaftiges Kind rumort.
Gleichen die Figuren in Sokoban
nicht den Kapuzenmännern im
TV-Clip von Samuel Beckett?
„In Krisenzeiten wälzten sich
die Glocken unruhiger von
der einen auf die andere Seite“
Aus Fundstücken eine Guckkastenbühne der Kindheit bauen: Box aus dem „Soap Bubble Set“ (1949) des Bildhauers Joseph Cornell (1903-72) Foto: bridgemanart/VG Bild-Kunst, Bonn 2011
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rumort
ein Kind
Der junge Grazer Autor
Clemens J. Setz öffnet seine
Kiste voller Schreckensbilder
und erreicht das Erzähllevel
jenseits des Realismus
Von Lothar Müller
Seit der große Bruder ausgezogen ist, hat der Junge jede Nacht Albträume – und Angst einzuschlafen. Wenn gar nichts mehr hilft, holt er unter seinem Bett die blaue Kiste hervor. Darin bewahrt er seine Bildersammlung auf. Die Kreuzigung auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars liegt darin neben dem Elefantenmenschen, vor dem Pestdoktor auf einem alten Stich liegt ein schwarzer Leichnam da „wie ein Büschel verbrannter Wolle“, vergreiste Elfen aus einem Kinderbuch, denen die Herzen als graue Pilze aus der Brust schlüpfen, gesellen sich zu einer Hölle von Hieronymus Bosch und ausrangierten Actionfiguren. Das sind seltsame Einschlafbilder, bestens geeignet, die Albträume hervorzurufen, denen der Junge zu entkommen sucht.
Der schlaflose Junge mit seiner blauen Kiste ist kein Unschuldslamm. Am Tag seiner ersten Kommunion wird er zum bösen Kind, zum gewalttätigen Peiniger seines sanft-wehrlosen Freundes. Und mit der Hostie treibt er seinen Schabernack. Diesen schlaflosen, bösen Jungen hat der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz erfunden und zur Portalfigur seines Erzählungsbandes „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ gemacht.
Clemens J. Setz, 1982 in Graz geboren, hat in seiner Heimatstadt Mathematik und Germanistik studiert. Der Selbstmörder, der in seinem Romandebüt „Söhne und Planeten“ (2007) im Konflikt mit dem Vater auf der Strecke blieb, ging nicht in den Himmel des Familienromans ein, und es stand nicht der psychologische Realismus trauernd an seinem Grabe. Er geriet vielmehr auf die Umlaufbahn im Kopf des Autors, der wie sein böses Kind über eine blaue Kiste voller Schreckensbilder verfügt, die mit einer Tonspur aus Filmen und Handys, Radios und Fernsehern unterlegt ist.
Als Sohn seiner Stadt hat Clemens J. Setz diese Kiste gefüllt. Sie enthält das Stimmengewirr der österreichischen Moderne, die in Graz eines ihrer Hauptquartiere aufschlug, als Peter Handke dort ins Kino ging, Alfred Kolleritsch die Zeitschrift manuskripte gründete. Setz, der Nachgeborene, hat nicht als Stimmenimitator der Literatur seinen Ton gefunden. Als er 2008 unter dem Titel „Der Mann aus dem Fegefeuer“ den Roman „Entering Hades“ des amerikanischen Autors John Leakes übersetzte. Der Serienmörder Jack Unterweger, von dem das Buch handelte, stammte aus der Steiermark und trieb sein Unwesen nicht in Amerika, sondern in Österreich, auch in Graz, wo er sich 1994 im Gefängnis erhängte, nachdem er zum zweiten Mal als Frauenmörder verurteilt worden war.
Während der Verbüßung seiner ersten Haftstraße hatte Unterweger zu schreiben begonnen und war durch seine Autobiographie („Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“) berühmt geworden. Zahlreiche österreichische Intellektuelle hatten sich dafür eingesetzt, dass er 1990 entlassen wurde, statt in Sicherungsverwahrung zu verbleiben. Kaum war er frei, begann er wieder zu morden.
Als Clemens J. Setz 2009 den Roman „Die Frequenzen“ veröffentlichte, war darin der Grazer Stadtpark ein Ort, an dem man mit Wiedergängern von Jack Unterweger rechnen musste. Eine Gewalttat, plötzlich hereinbrechend wie ein Verkehrsunfall, auf wackligen Handybildern festgehalten, ließ ihr Opfer im Koma zurück. Ein Höhepunkt des Romans war das „Solo für Nokia 6151“, in dem ein junger Mann mit Headset durch Graz läuft, aber nicht in ein Handy spricht. Sein Monolog, ein Delirium aus Wahrnehmungen und Gedanken, ließ die Stärke des Autors Setz erkennen: die Bilder und Töne seiner blauen Kiste in Sprache, in Prosa zu bannen.
In diesem neuen Erzählband gibt es eine Schlüsselgeschichte, „Kleine braune Tiere“. Sie stellt in Form eines fußnotengespickten Essays einen Nerd namens M.D. Regan vor, der ein undurchschaubares surreales Computerspiel entwickelt und sich dann umgebracht hat. Er ist noch mit den Spielen aus der Steinzeit des elektronischen Zeitalters aufgewachsen, mit Super Mario , Sokoban und Doom . Sein Nachlass enthält eine hinreißend komisch-exakte Beschreibung der herabfallenden Steine im Spiel Tetris .
Dieser Nerd ist das, was die Amerikaner „Omnivore“ nennen, einen Allesfresser. In seinem Universum gibt es keine Niveauunterschiede zwischen Trash und hoher Kunst. Im pornographischen Film einer amerikanischen „Extrem-Performerin“ will er die Stadien der Selbstaufgabe in der Tragödie „Antigone“ wiedererkennen. Die Figuren in Sokoban oder Super Mario sind für ihn Verwandte der bunten Kapuzenmänner, die in Samuel Becketts später TV-Sequenz „Quadrat 1+2“ in den immer gleichen Bewegungsabläufen über die Grundfläche huschen. Für sein eigenes Spiel hat er den Surrealismus geplündert.
Der Autor Clemens J. Setz ist ein Verwandter des fiktiven Nerd. Die Obsession aller Computerspiele, das Erreichen des nächsthöheren Levels ist in seine Erzählungen eingewandert. Das gilt vor allem dort, wo die Figuren die Grenze zur Lust an der Gewalt überschreiten wie der böse schlaflose Junge aus der ersten Erzählung, der seinen sanften Spielfreund quält, die Arbeitskollegen, die einen neuen Mitarbeiter erniedrigen oder das Paar, das Herr und Sklave spielt, nachdem die junge Frau einen Käfig erstanden hat.
Setz geht in den Clinch mit einem Urmodell des Voranschreitens von Level zu Level der Grausamkeit, dem Marquis de Sade. Er erfindet ein gebildetes Lehrerpaar, das seine physische Lust nach den Regeln des Marquis steigert und durch die Lust an der eigenen Amoral, an der Demütigung einer Hure und Zerstörung einer jungen Unschuld krönt – und zahlt für die Vorführung des abstoßenden Paares einen hohen Preis. Er opfert in dieser Rollenprosa seine eigene Sprache, die doch das Zeug zur Unruhestifterin und ironischen Vernichterin hätte, dem biederen Realismus landläufiger, leicht anklickbarer Pornographie.
Immer dann gelingen Setz seine Grotesken, wenn er zur eigenen Sprache, zur eigenen Spielanleitung findet. David Lynch, dessen Filme – „Der Elefantenmensch“, „Eraserhead“, „Blue Velvet“ – sich in der blauen Setz-Kiste über Kafkas „Verwandlung“ und „Strafkolonie“ und seinen abgründigen Satz „Das Böse ist der Sternhimmel des Guten“ legen, steht dabei eher im Weg, gerade weil die Geschichte von den Visitenkarten, über die sich schwärende Pusteln legen und als ansteckende Krankheit verbreiten, wie eine Lynch-Paraphrase wirken.
Wie freischwebend wirkt demgegenüber die kleine Erzählung, in der ein Musikliebhaber auf einen Planeten ausgewandert ist, um einen musikempfänglichen Roboter zu basteln. Der extraterrestrische Plot ist hier nur die Rampe für einen Prosaflug über die zurückgelassenen alteuropäischen Städte und die Musik ihrer Glocken: „in Krisenzeiten klangen sie anders, wälzten sich unruhiger von der einen auf die andere Seite, wie Schläfer mit schrecklichen Träumen.“ In einer anderen Erzählung wird derweil ein Dichter in der Kapelle, in der seine tote Mutter aufgebahrt ist, zur Spukgestalt.
Eine große alte Waage, die plötzlich im Hof steht, greift umso unwiderstehlicher ins Leben eines Paares ein, je weniger die Erzählung sie mit symbolischem Gewicht ausstattet. Und in einer Coming-of-Age-Geschichte wird die plötzlich einsetzende Empfindlichkeit gegenüber dem sexuellen Zynismus ganz ohne moralischen Zeigefinger zum Zeichen des Erwachsenwerdens.
Seltsame surrealistische Kisten sind die „boxes“ des amerikanischen Bildhauers Joseph Cornell, denen der amerikanische Autor Robert Coover einen schmalen Prosaband gewidmet. In der Titelgeschichte seines Bandes zitiert Setz daraus: „ich schlief in einem der kleinen hotels / aus den Kästen Joseph Cornells.“ „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ handelt von einer Skulptur. Sie ist aus Lehm und sehr weich, sehr formbar, ein interaktives Kunstwerk, das mit Schlägen, Tritten oder Werkzeugen aller Art „in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes“ gebracht werden soll.
Noch schwankt Clemens J. Setz bei seiner Suche nach einer surrealistisch gefärbten deutschen Prosa, und manchmal stürzt er ab. Aber eines hat er schon erreicht: Man spürt, dass in seiner blauen Kiste ein leibhaftiges Kind rumort.
Gleichen die Figuren in Sokoban
nicht den Kapuzenmännern im
TV-Clip von Samuel Beckett?
„In Krisenzeiten wälzten sich
die Glocken unruhiger von
der einen auf die andere Seite“
Aus Fundstücken eine Guckkastenbühne der Kindheit bauen: Box aus dem „Soap Bubble Set“ (1949) des Bildhauers Joseph Cornell (1903-72) Foto: bridgemanart/VG Bild-Kunst, Bonn 2011
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