Dies ist die Geschichte einer maßlosen und erschreckenden Verstrickung: Ein Vater, der freiwillig aus dem Westen kam, um dem Land seiner Hoffnungen zu dienen - und bei der Stasi anheuert. Ein Sohn, der als Komponist die Sounds seiner Generation einfängt und sich zugleich mit der Zensur arrangiert. Als der Sohn Karriere macht, steht der Vater plötzlich vor der Tür. Sie beginnen einander zu umkreisen. Nur langsam ahnt man, welchen Kampf sie miteinander führen. Und dass er länger als lebenslang dauern wird. Ein sensibler Roman, der die existentielle Frage stellt, wie viel Lüge ein Leben verträgt.Gekürzte Lesung mit Markus Meyer, Joachim Schönfeld6 Audio-CDs ca. 8 h 0 min
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2014Ein Heldenlied aus Untererde
Ein Buch, das bei allem lyrischen Gefunkel auch zu schuften weiß: Uwe Kolbes Roman "Die Lüge" über einen Stasi-Vater und dessen komponierenden Sohn.
Von Gerhard Stadelmaier
Um es kurz zu machen: Dieses Buch ist - seid ehrlich! - unlesbar. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre. Es enthält wunderbare Formulierungen, wie zum Beispiel, dass in und um Berlin die Flüsse nicht fließen, sondern "nur sickerten, sich vergaßen in Seen". Obwohl: Es enthält auch wunderliche bis peinliche Formulierungen, vor allem, wenn es in sexibus schwelgt, und das tut es häufig, denn die beiden Generationsprotagonisten des Romans, Vater und Sohn, wechseln äußerst häufig die Frauen. Den Alten "schauten" da schon mal "Beate Brinkmanns kleine, auf den Rippen stehende Brüste mit steifen Warzen aufmerksam an, während er in dem kleinen Kanal unter ihrer flachen Bauchdecke kam." So viel Kanalarbeit war nie.
Aber wenn man nicht gerade die Perspektive von Beates Brüsten einzunehmen oder deren "geruchsintensive Stellen" wahrzunehmen gezwungen ist, das "Stallhafte" in "ihrem filigran ausrasierten Nacken" oder ihrem "kräftig behaarten Schoß" (was für ein Schmock, um den Genossen-Odeur zwischen SED-treuen Kommunisten zu schnuppern!), bieten sich dem Auge des Lesers häufig auch prunkvoll expressionistelnd-lyrische Funkelfunde. Wunderbar, wie die "schwarzen Wände der abendschwarzen Häuser" (im Trakl-Ton) oder die "glitschigen Pflastersteine in den Schluchten der Stadt", durch die der Sohn zieht "als ein heulender Wolf" (im Jakob-van-Hoddis-Sound), dem pastosen Sprachfarbauftrag sich anschmiegen.
Ganz zu schweigen von den tief empfundenen Unterirdischkeiten: das Unter-die-Haut-Gehen im Geographischen, das Aufritzen der Erdoberfläche, das Erkunden des Schrundigen im blätternden Putz, in der Gräue, im Sumpf und Moder und Glanz und Gurgeln von Landschaft und Wasser und Wald. Der Autor Uwe Kolbe ist von Hause aus Lyriker. Natur- und Landschaftsdurchdringer (aber ein Personenplakatierer). Das merkt man jeder Zeile an. Ein Verdichter. Das merkt man auch jeder Zeile an. Er macht sie dicht. Man kommt nicht in sie rein.
"Die Lüge" ist der erste Roman des Siebenundfünfzigjährigen. Er ist unlesbar. Weil er eine Mauer um sich herum gezogen hat. Die ungefähr identisch mit der Mauer ist, die um die uralte, längst untergegangene DDR errichtet ward. Uwe Kolbe ist in der DDR (Ost-Berlin) aufgewachsen, hatte als Junglyriker Schwierigkeiten mit der SED, für deren Staatssicherheit sein Vater als verdeckte hauptamtliche Führungskraft arbeitete.
Der junge Held des Romans ist wie Kolbe Jahrgang 1957, nur dass er nicht Lyriker, sondern Komponist ist, der "dem Sound der Welt", vorzüglich in einem "Konzert für Straßenbahn und Schienenschleife", hinterher ist. Sein Vater ist verdeckter Kulturaufpasser der Stasi. Wobei am Ende Vater und Sohn sich nicht nur dieselben Frauen teilen (des Vaters Beate geht an des Sohnes Hosenlatz, und die vom Vater hochschwangere Wiebke wird vom Sohne unter der Dusche "durchdrungen"), sondern auch dieselben Schwammigkeiten: der Sohn schwammig widerständig, im Untergrund herumkomponierend (und -vögelnd), der Vater schwammig linientreu, im Obergrund herumtaktierend (und -vögelnd). Zwei Lebenslügner, zwei Sich-was-Vormacher - aus der uralten, längst vergangenen DDR. Vielleicht wäre uns so ein Buch 1994 brisant vorgekommen. Zwanzig Jahre später wirkt das nichts als ranzig bis abgeschmackt. Etwas, das sich erübrigt hat.
Der Romancier arbeitet hier was ab. Und er schuftet schwer: in Wechselschichten. Was das Ganze sehr vorhersehbar macht. Man blättert sozusagen vorgewarnt. Denn einmal ist der Vater dran: in Er-Erzählhaltung. Im nächsten Kapitel der Sohn: in Ich-Erzählhaltung. Im 63. und 64. Kapitel, man schreibt das Jahr 1984, der Junge ist siebenundzwanzig, kommen die beiden zum großen biographischen Ich-Einerlei zusammen. Wobei die Karriere des Vaters, der von Westdeutschland nach "drüben" ging, um dort etwas "aufzubauen", "seinen Schwanz nicht beherrschen kann" und deshalb seine Stasi-Deckung gefährdet, und die Karriere des Sohnes, der dort mitsamt seiner in die Psychiatrie abgehenden Mutter vom Vater sofort verlassen, aber aus der Ferne überwacht wird in seinem Sich-treiben-Lassen, doch sehr nach Partei- und Gegenpartei-Papiergeraschel klingen. Klischee-Figuren. Pappkameraden.
Dem Ganzen schaut man wie von einer der Plattformen zu, wie sie zum Teil im guten alten West-Berlin vor der bösen alten Mauer aufgestellt waren. Von denen aus man "nach drüben" schaute: wie in einen Zoo hinein. In ein Land, das Oberfläche ist, unter der wie in einem Bergwerk die Flöze und Schächte der Beziehungen und Verluste sich hinziehen, erzählerische Fluchttunnel, durch die sich alles und doch nichts drängt. Man liest das, als klopfe man Versteinerungen ab.
Zumal der hochlyrische Romancier Anspielungen tanzen lässt, die außer den Angespielten niemand versteht. Gut, "der ausgebürgerte Riebmann" lässt sich buchstabendreherisch als "Biermann" entziffern. Aber wer war "Sebastian Kreisler"? Offenbar ein DDR-Großkomponist mit E.T.A.-Hoffmann- und Schumann-Namensgespinst im Biographiegepäck, der den jungen Nachwuchstonsetzer unter seine schon schwer vom Krebs zerfressenen Fittiche nimmt. Nicht zu verwechseln mit Hanns Eisler oder Paul Dessau, die beide mit Klarnamen auftauchen. Oder wer ist "Leon"? Wer sind die "Blaumänner"? Und wo liegt "Nordost"?
Nimmt man hinzu, dass die Damen-Phalanx des jungen Tonsetzers ebenso beachtlich wie freimütig detailliert offengelegt ist wie die seines Vaters (sieben Kinder von fünf Frauen), verwandelt sich das verquälte Namensversteckspiel, das Kolbe sonst treibt, dann überflüssigerweise noch in eine ziemlich peinliche metaphorische Offenbarungs- und Enthüllungsüberwölbung: Soll doch der Papa Hildebrand, der Sohn Hadubrand gerufen werden. Wie die tragisch familiären Helden aus dem Hildebrandslied, dem einzigen deutschen althochdeutschen Heldengesang (Fulda, um 800 nach Christus), in dem Vater und Sohn sich begegnend verkennen, eventuell sogar töten oder doch erkennen (der Schluss des alten Lieds fehlt beziehungsweise bleibt offen).
Das ist sogar für einen liederliebenden Lyriker zu viel der Zaunpfahlwinkerei und Nachtigallentrapserei. Wir klappen "Die Lüge" zu, suchen nach Wahrerem.
Uwe Kolbe: "Die Lüge". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 384 S., geb., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch, das bei allem lyrischen Gefunkel auch zu schuften weiß: Uwe Kolbes Roman "Die Lüge" über einen Stasi-Vater und dessen komponierenden Sohn.
Von Gerhard Stadelmaier
Um es kurz zu machen: Dieses Buch ist - seid ehrlich! - unlesbar. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre. Es enthält wunderbare Formulierungen, wie zum Beispiel, dass in und um Berlin die Flüsse nicht fließen, sondern "nur sickerten, sich vergaßen in Seen". Obwohl: Es enthält auch wunderliche bis peinliche Formulierungen, vor allem, wenn es in sexibus schwelgt, und das tut es häufig, denn die beiden Generationsprotagonisten des Romans, Vater und Sohn, wechseln äußerst häufig die Frauen. Den Alten "schauten" da schon mal "Beate Brinkmanns kleine, auf den Rippen stehende Brüste mit steifen Warzen aufmerksam an, während er in dem kleinen Kanal unter ihrer flachen Bauchdecke kam." So viel Kanalarbeit war nie.
Aber wenn man nicht gerade die Perspektive von Beates Brüsten einzunehmen oder deren "geruchsintensive Stellen" wahrzunehmen gezwungen ist, das "Stallhafte" in "ihrem filigran ausrasierten Nacken" oder ihrem "kräftig behaarten Schoß" (was für ein Schmock, um den Genossen-Odeur zwischen SED-treuen Kommunisten zu schnuppern!), bieten sich dem Auge des Lesers häufig auch prunkvoll expressionistelnd-lyrische Funkelfunde. Wunderbar, wie die "schwarzen Wände der abendschwarzen Häuser" (im Trakl-Ton) oder die "glitschigen Pflastersteine in den Schluchten der Stadt", durch die der Sohn zieht "als ein heulender Wolf" (im Jakob-van-Hoddis-Sound), dem pastosen Sprachfarbauftrag sich anschmiegen.
Ganz zu schweigen von den tief empfundenen Unterirdischkeiten: das Unter-die-Haut-Gehen im Geographischen, das Aufritzen der Erdoberfläche, das Erkunden des Schrundigen im blätternden Putz, in der Gräue, im Sumpf und Moder und Glanz und Gurgeln von Landschaft und Wasser und Wald. Der Autor Uwe Kolbe ist von Hause aus Lyriker. Natur- und Landschaftsdurchdringer (aber ein Personenplakatierer). Das merkt man jeder Zeile an. Ein Verdichter. Das merkt man auch jeder Zeile an. Er macht sie dicht. Man kommt nicht in sie rein.
"Die Lüge" ist der erste Roman des Siebenundfünfzigjährigen. Er ist unlesbar. Weil er eine Mauer um sich herum gezogen hat. Die ungefähr identisch mit der Mauer ist, die um die uralte, längst untergegangene DDR errichtet ward. Uwe Kolbe ist in der DDR (Ost-Berlin) aufgewachsen, hatte als Junglyriker Schwierigkeiten mit der SED, für deren Staatssicherheit sein Vater als verdeckte hauptamtliche Führungskraft arbeitete.
Der junge Held des Romans ist wie Kolbe Jahrgang 1957, nur dass er nicht Lyriker, sondern Komponist ist, der "dem Sound der Welt", vorzüglich in einem "Konzert für Straßenbahn und Schienenschleife", hinterher ist. Sein Vater ist verdeckter Kulturaufpasser der Stasi. Wobei am Ende Vater und Sohn sich nicht nur dieselben Frauen teilen (des Vaters Beate geht an des Sohnes Hosenlatz, und die vom Vater hochschwangere Wiebke wird vom Sohne unter der Dusche "durchdrungen"), sondern auch dieselben Schwammigkeiten: der Sohn schwammig widerständig, im Untergrund herumkomponierend (und -vögelnd), der Vater schwammig linientreu, im Obergrund herumtaktierend (und -vögelnd). Zwei Lebenslügner, zwei Sich-was-Vormacher - aus der uralten, längst vergangenen DDR. Vielleicht wäre uns so ein Buch 1994 brisant vorgekommen. Zwanzig Jahre später wirkt das nichts als ranzig bis abgeschmackt. Etwas, das sich erübrigt hat.
Der Romancier arbeitet hier was ab. Und er schuftet schwer: in Wechselschichten. Was das Ganze sehr vorhersehbar macht. Man blättert sozusagen vorgewarnt. Denn einmal ist der Vater dran: in Er-Erzählhaltung. Im nächsten Kapitel der Sohn: in Ich-Erzählhaltung. Im 63. und 64. Kapitel, man schreibt das Jahr 1984, der Junge ist siebenundzwanzig, kommen die beiden zum großen biographischen Ich-Einerlei zusammen. Wobei die Karriere des Vaters, der von Westdeutschland nach "drüben" ging, um dort etwas "aufzubauen", "seinen Schwanz nicht beherrschen kann" und deshalb seine Stasi-Deckung gefährdet, und die Karriere des Sohnes, der dort mitsamt seiner in die Psychiatrie abgehenden Mutter vom Vater sofort verlassen, aber aus der Ferne überwacht wird in seinem Sich-treiben-Lassen, doch sehr nach Partei- und Gegenpartei-Papiergeraschel klingen. Klischee-Figuren. Pappkameraden.
Dem Ganzen schaut man wie von einer der Plattformen zu, wie sie zum Teil im guten alten West-Berlin vor der bösen alten Mauer aufgestellt waren. Von denen aus man "nach drüben" schaute: wie in einen Zoo hinein. In ein Land, das Oberfläche ist, unter der wie in einem Bergwerk die Flöze und Schächte der Beziehungen und Verluste sich hinziehen, erzählerische Fluchttunnel, durch die sich alles und doch nichts drängt. Man liest das, als klopfe man Versteinerungen ab.
Zumal der hochlyrische Romancier Anspielungen tanzen lässt, die außer den Angespielten niemand versteht. Gut, "der ausgebürgerte Riebmann" lässt sich buchstabendreherisch als "Biermann" entziffern. Aber wer war "Sebastian Kreisler"? Offenbar ein DDR-Großkomponist mit E.T.A.-Hoffmann- und Schumann-Namensgespinst im Biographiegepäck, der den jungen Nachwuchstonsetzer unter seine schon schwer vom Krebs zerfressenen Fittiche nimmt. Nicht zu verwechseln mit Hanns Eisler oder Paul Dessau, die beide mit Klarnamen auftauchen. Oder wer ist "Leon"? Wer sind die "Blaumänner"? Und wo liegt "Nordost"?
Nimmt man hinzu, dass die Damen-Phalanx des jungen Tonsetzers ebenso beachtlich wie freimütig detailliert offengelegt ist wie die seines Vaters (sieben Kinder von fünf Frauen), verwandelt sich das verquälte Namensversteckspiel, das Kolbe sonst treibt, dann überflüssigerweise noch in eine ziemlich peinliche metaphorische Offenbarungs- und Enthüllungsüberwölbung: Soll doch der Papa Hildebrand, der Sohn Hadubrand gerufen werden. Wie die tragisch familiären Helden aus dem Hildebrandslied, dem einzigen deutschen althochdeutschen Heldengesang (Fulda, um 800 nach Christus), in dem Vater und Sohn sich begegnend verkennen, eventuell sogar töten oder doch erkennen (der Schluss des alten Lieds fehlt beziehungsweise bleibt offen).
Das ist sogar für einen liederliebenden Lyriker zu viel der Zaunpfahlwinkerei und Nachtigallentrapserei. Wir klappen "Die Lüge" zu, suchen nach Wahrerem.
Uwe Kolbe: "Die Lüge". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 384 S., geb., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'Kolbe ist einer, der die Welt um sich beobachtet. Immer stilsicher begleitet er die Gegenwart.' Berliner Zeitung