Es ist Sommer geworden. Auf der kleinen Insel in der Elbmündung sind die ersten Feriengäste angekommen, und für den Wirt der Gaststätte Blinkfeuer hat die Saison begonnen. Da peitscht ein Unwetter von der Nordsee über die Insel, und als die Menschen sich wieder an den Strand trauen, liegt dort eine große Kiste, im Sturm über Bord gegangen von einem Schiff der China Shipping Container Lines. Darin befinden sich Masken, bestimmt für das Völkerkundemuseum in Hamburg. Die Menschen probieren die Masken an, sind plötzlich selbst Drache, Tiger oder Puma. Die vermeintliche Maskierung bringt das wahre Gesicht zum Vorschein. Daraus ergeben sich Komplikationen ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2011Es waltet ein friesischer Dionysos
Verschmitzte Altmeisterlichkeit: Die Erzählwelt des späten Siegfried Lenz rückt ins Surreale. "Die Maske" versammelt Geschichten vom Meer.
Von Wolfgang Schneider
Wie kein anderer deutscher Gegenwartsautor ist Siegfried Lenz ein Kenner der Küste und ein Epiker der Wasserwelten. Niemand kann das so schildern wie er. Hier ein Stimmungsbild der Insel nach dem Sturm: "Dass sich alles so beruhigen konnte in kurzer Zeit; wie verausgabt rollte die See an, in der Luft spürte man eine ungewöhnliche Stille der Erschöpfung, aber auf einmal waren auch wieder die Stimmen der Seevögel zu hören, ihr ewiges Gezänk, ihre gellenden Warnrufe. Hier und da traten die Leute aus den Häusern, um nach dem Himmel zu sehen. Am Horizont zeigte sich das graue Patrouillenboot der Küstenwache, langsam zog es vorbei, ein Sinnbild der Sicherheit."
Das ist der Lenz-Tonfall, zu dem viele Leser Vertrauen haben. "Die Maske", die titelgebende und längste Erzählung seines neuen Buchs, entwickelt sich allerdings zum Sinnbild der Verunsicherung, das nicht leicht zu entschlüsseln ist. Nach dem Sturm wird ein Container der China-Shipping-Line angespült. Er enthält chinesische Masken, bestimmt fürs Hamburger Völkerkundemuseum. Die Menschen der Insel, Gäste und Einheimische, bedienen sich, jeder findet die ihm passende Tiermaske, und es beginnt ein merkwürdiger Mummenschanz.
Bald geht es ekstatisch zu im "Blinkfeuer", dem Gasthaus von Opa Klaas. Alte Feinde prosten sich zu, im Alltag geschiedene Menschen fallen sich um den Hals, Seemannslieder schmetternd, als wäre ein friesischer Dionysos unter sie getreten. Den Ich-Erzähler, Opas Enkel, der auf der Insel die Semesterferien verbringt und sich eine Drachen-Maske aufgesetzt hat, fliegt die Liebe an in Gestalt einer Wildkatze: der Kajaksportlerin Lene, die sich "mit einem Schnurrlaut" an seinen Tisch setzt. Opa Klaas tischt "Windstärke 11" auf, den schärfsten Schnaps, und versucht sich als Theoretiker der Maske: "Jede bringt etwas zum Vorschein, jede steht für etwas, für Tapferkeit ebenso wie für Treue, für List nicht weniger als für Beharrlichkeit." Die Maske verbirgt den Menschen, und zugleich entstellt sie ihren Träger zur Kenntlichkeit.
In der Folge werden Szenen, die wie eingedampfte Romankapitel wirken, fast übergangslos hintereinandergeschaltet: Besuch bei Lenes Vater, einem Netzemacher, der seine Kunst symbolträchtig unter Beweis stellt, indem er ein Wurfnetz über den jungen Mann schleudert, worauf Lene jubelt: "Gefangen, Jan, du bist gefangen." Es gibt eine Liebesszene in den Dünen, ein Kajakrennen, schließlich eine Schlägerei im "Blinkfeuer", bei der Opa Klaas die Gemüter nur beruhigen kann, indem er noch einmal die - inzwischen von der Küstenwache sichergestellten - Masken austeilt. Lene aber zeigt Jan schroff die kalte Schulter. "Du kannst dir nicht entkommen", stellt sie fest. Und: "Mit der Maske warst du ein anderer." Die junge Frau verbrennt Jans Drachenmaske und verschwindet aufs Festland.
Dieses Geschehen erscheint wechselnd plakativ und rätselhaft, überdeutlich und unfassbar - weit entfernt jedenfalls vom didaktischen Lenz der sechziger und siebziger Jahre. In Spätwerken wie "Landesbühne" und "Die Maske" verzichtet er weitgehend auf realistische psychologische Motivation. Die Umschwünge der Handlung und der Seelen kommen unvermittelt und begründungslos. Das hat etwas von der Selbstverständlichkeit des Traums. Von der Verpflichtung auf Gegenwärtigkeit und psychologische Plausibilität freigestellt, aber weiterhin liebevoll und genau beschrieben, wirkt die Erzählwelt des späten Lenz ins sanft Skurrile und leicht Surreale entrückt. Wie auch seine früheren Romane und Erzählungen, je mehr unser Begriff vom Realismus ins Rohe geht, immer weniger "realistisch" erscheinen: diese außerordentlich gepflegte Sprache, diese wohldurchgeführten Konflikte mit ihrem moralischen Mehrwert, diese zumindest latent liebenswürdigen Menschen mit ihren sanft erschütternden Niederlagen.
Der Band enthält einige beachtliche Geschichten. "Der Entwurf" wird von einem Patienten des "Ufer-Hospitals" erzählt. Er teilt sich das Krankenzimmer mit einem alten Schriftsteller, der Besuch von seiner Frau bekommt. Der Autor liest ihr Geschichten vor, nach denen sie giert und die sie zugleich kaum ertragen kann. Sie handeln von einem jungen Mann, erzählen von seiner Kindheit und Jugend, berichten von seinen Anfängen in der Liebe und im Beruf. Es handelt sich um die Geschichte eines Frühverstorbenen, dem einzigen Sohn, dem der Schriftsteller ein tragisches Ende bereitet. Als dieser Sven im Nebel mit einem Boot unterwegs ist, kollidiert er mit einem Schiff und gerät in dessen "unerbittlich" walkende Schraube - "unerbittlich" ist ein Schlüsselwort dieses gnädigen Erzählers. Schluchzend verlässt die Frau das Krankenzimmer. Der Bettnachbar stellt die Wahrheitsfrage: "War es so?" Der Schriftsteller antwortet mit einem einzigen Satz: "Unser Sven ist bei der Geburt gestorben."
Das ist eine effektvolle Schlusspointe, die alles Vorhergehende in neuem Licht erscheinen lässt. Das Ausgedachte der Konstellation verzeiht man einer gut erzählten Geschichte. "Rivalen" kann mit solchem Pardon nicht rechnen. Da geht es um einen Museumswärter, der sich in das Porträt einer Frau verliebt und das Gemälde aus dem Museum stiehlt. Leider entwickelt seine Gattin Eifersucht auf "Antonia mit dem blauen Schal" und verstümmelt sie mit Messerschnitten, worauf der Dieb das versehrte Bild zurückschafft. "Die Sitzverteilung" wartet dann wieder mit einer originellen Erzählidee auf. Es ist die Geschichte eines Schiffsuntergangs, erzählt aus der verfremdeten Perspektive des Beauftragten für die Sitzverteilung bei der Ehren-Veranstaltung für die Geretteten.
Man schätzt Lenz für seine verschmitzte Altmeisterlichkeit. Die Erwähnung einer löchrigen Jeans wirkt an einer Stelle schon wie ein Einschuss von Gegenwart. "Nur ruhig, gute Frau, wenn Sie sich ruhig verhalten, geschieht Ihnen nichts" - so freundlich redet hier ein Bankräuber. Eine andere Instanz aber macht keine verbindlichen Worte: "Das Schicksal verzichtet auf Kommentare, es begnügt sich damit, zuzuschlagen", heißt es ganz am Ende. Für diese Kommentare ist der Erzähler zuständig.
Siegfried Lenz: "Die Maske". Erzählungen.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 124 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verschmitzte Altmeisterlichkeit: Die Erzählwelt des späten Siegfried Lenz rückt ins Surreale. "Die Maske" versammelt Geschichten vom Meer.
Von Wolfgang Schneider
Wie kein anderer deutscher Gegenwartsautor ist Siegfried Lenz ein Kenner der Küste und ein Epiker der Wasserwelten. Niemand kann das so schildern wie er. Hier ein Stimmungsbild der Insel nach dem Sturm: "Dass sich alles so beruhigen konnte in kurzer Zeit; wie verausgabt rollte die See an, in der Luft spürte man eine ungewöhnliche Stille der Erschöpfung, aber auf einmal waren auch wieder die Stimmen der Seevögel zu hören, ihr ewiges Gezänk, ihre gellenden Warnrufe. Hier und da traten die Leute aus den Häusern, um nach dem Himmel zu sehen. Am Horizont zeigte sich das graue Patrouillenboot der Küstenwache, langsam zog es vorbei, ein Sinnbild der Sicherheit."
Das ist der Lenz-Tonfall, zu dem viele Leser Vertrauen haben. "Die Maske", die titelgebende und längste Erzählung seines neuen Buchs, entwickelt sich allerdings zum Sinnbild der Verunsicherung, das nicht leicht zu entschlüsseln ist. Nach dem Sturm wird ein Container der China-Shipping-Line angespült. Er enthält chinesische Masken, bestimmt fürs Hamburger Völkerkundemuseum. Die Menschen der Insel, Gäste und Einheimische, bedienen sich, jeder findet die ihm passende Tiermaske, und es beginnt ein merkwürdiger Mummenschanz.
Bald geht es ekstatisch zu im "Blinkfeuer", dem Gasthaus von Opa Klaas. Alte Feinde prosten sich zu, im Alltag geschiedene Menschen fallen sich um den Hals, Seemannslieder schmetternd, als wäre ein friesischer Dionysos unter sie getreten. Den Ich-Erzähler, Opas Enkel, der auf der Insel die Semesterferien verbringt und sich eine Drachen-Maske aufgesetzt hat, fliegt die Liebe an in Gestalt einer Wildkatze: der Kajaksportlerin Lene, die sich "mit einem Schnurrlaut" an seinen Tisch setzt. Opa Klaas tischt "Windstärke 11" auf, den schärfsten Schnaps, und versucht sich als Theoretiker der Maske: "Jede bringt etwas zum Vorschein, jede steht für etwas, für Tapferkeit ebenso wie für Treue, für List nicht weniger als für Beharrlichkeit." Die Maske verbirgt den Menschen, und zugleich entstellt sie ihren Träger zur Kenntlichkeit.
In der Folge werden Szenen, die wie eingedampfte Romankapitel wirken, fast übergangslos hintereinandergeschaltet: Besuch bei Lenes Vater, einem Netzemacher, der seine Kunst symbolträchtig unter Beweis stellt, indem er ein Wurfnetz über den jungen Mann schleudert, worauf Lene jubelt: "Gefangen, Jan, du bist gefangen." Es gibt eine Liebesszene in den Dünen, ein Kajakrennen, schließlich eine Schlägerei im "Blinkfeuer", bei der Opa Klaas die Gemüter nur beruhigen kann, indem er noch einmal die - inzwischen von der Küstenwache sichergestellten - Masken austeilt. Lene aber zeigt Jan schroff die kalte Schulter. "Du kannst dir nicht entkommen", stellt sie fest. Und: "Mit der Maske warst du ein anderer." Die junge Frau verbrennt Jans Drachenmaske und verschwindet aufs Festland.
Dieses Geschehen erscheint wechselnd plakativ und rätselhaft, überdeutlich und unfassbar - weit entfernt jedenfalls vom didaktischen Lenz der sechziger und siebziger Jahre. In Spätwerken wie "Landesbühne" und "Die Maske" verzichtet er weitgehend auf realistische psychologische Motivation. Die Umschwünge der Handlung und der Seelen kommen unvermittelt und begründungslos. Das hat etwas von der Selbstverständlichkeit des Traums. Von der Verpflichtung auf Gegenwärtigkeit und psychologische Plausibilität freigestellt, aber weiterhin liebevoll und genau beschrieben, wirkt die Erzählwelt des späten Lenz ins sanft Skurrile und leicht Surreale entrückt. Wie auch seine früheren Romane und Erzählungen, je mehr unser Begriff vom Realismus ins Rohe geht, immer weniger "realistisch" erscheinen: diese außerordentlich gepflegte Sprache, diese wohldurchgeführten Konflikte mit ihrem moralischen Mehrwert, diese zumindest latent liebenswürdigen Menschen mit ihren sanft erschütternden Niederlagen.
Der Band enthält einige beachtliche Geschichten. "Der Entwurf" wird von einem Patienten des "Ufer-Hospitals" erzählt. Er teilt sich das Krankenzimmer mit einem alten Schriftsteller, der Besuch von seiner Frau bekommt. Der Autor liest ihr Geschichten vor, nach denen sie giert und die sie zugleich kaum ertragen kann. Sie handeln von einem jungen Mann, erzählen von seiner Kindheit und Jugend, berichten von seinen Anfängen in der Liebe und im Beruf. Es handelt sich um die Geschichte eines Frühverstorbenen, dem einzigen Sohn, dem der Schriftsteller ein tragisches Ende bereitet. Als dieser Sven im Nebel mit einem Boot unterwegs ist, kollidiert er mit einem Schiff und gerät in dessen "unerbittlich" walkende Schraube - "unerbittlich" ist ein Schlüsselwort dieses gnädigen Erzählers. Schluchzend verlässt die Frau das Krankenzimmer. Der Bettnachbar stellt die Wahrheitsfrage: "War es so?" Der Schriftsteller antwortet mit einem einzigen Satz: "Unser Sven ist bei der Geburt gestorben."
Das ist eine effektvolle Schlusspointe, die alles Vorhergehende in neuem Licht erscheinen lässt. Das Ausgedachte der Konstellation verzeiht man einer gut erzählten Geschichte. "Rivalen" kann mit solchem Pardon nicht rechnen. Da geht es um einen Museumswärter, der sich in das Porträt einer Frau verliebt und das Gemälde aus dem Museum stiehlt. Leider entwickelt seine Gattin Eifersucht auf "Antonia mit dem blauen Schal" und verstümmelt sie mit Messerschnitten, worauf der Dieb das versehrte Bild zurückschafft. "Die Sitzverteilung" wartet dann wieder mit einer originellen Erzählidee auf. Es ist die Geschichte eines Schiffsuntergangs, erzählt aus der verfremdeten Perspektive des Beauftragten für die Sitzverteilung bei der Ehren-Veranstaltung für die Geretteten.
Man schätzt Lenz für seine verschmitzte Altmeisterlichkeit. Die Erwähnung einer löchrigen Jeans wirkt an einer Stelle schon wie ein Einschuss von Gegenwart. "Nur ruhig, gute Frau, wenn Sie sich ruhig verhalten, geschieht Ihnen nichts" - so freundlich redet hier ein Bankräuber. Eine andere Instanz aber macht keine verbindlichen Worte: "Das Schicksal verzichtet auf Kommentare, es begnügt sich damit, zuzuschlagen", heißt es ganz am Ende. Für diese Kommentare ist der Erzähler zuständig.
Siegfried Lenz: "Die Maske". Erzählungen.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 124 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2011Polonaise fauchen
Neue Erzählungen von Siegfried Lenz: „Die Maske“
Dieses schmale Buch sortiert sich in vier schöne Erzählungen und eine Meistererzählung. Von den vier Erzählungen ist schneller erzählt. Jeder Lenz-Leser kennt ihren moralischen Anstand, ihre zugängliche Handlung und ihr rechtschaffenes Personal. Und jeder Lenz-Leser kennt auch das sanfte Wegdriften ihrer Liebenswürdigkeit von unserem demolierten Epochengefühl. Diesmal gibt es etwa einen jungen Mann, der wohlgemerkt heute leben soll. Über seinen Lebensentwurf heißt es – und beim Lesen fühlt sich das so fremd an, als lerne man gerade einen Außerirdischen vom Planeten Harmonia kennen: „Sie waren noch Schüler, als er sie zum ersten Mal küsste; geheiratet hatten sie in dem Herbst, als er die Stellung eines Museumswärters erhielt. Mit der Unterstützung ihrer Eltern lebten sie auskömmlich, und wenn sie Pläne für die Zukunft machten, waren es bescheidene Pläne.“
Einem solchen Menschenbild kann man Schlichtheit vorwerfen, man muss aber auch seine Menschenfreundlichkeit anerkennen. Umso staunenswerter gerät da die eine überstrahlend meisterliche Geschichte des neuen Buches. Denn die Titelerzählung „Die Maske“, mit Abstand die umfangreichste Geschichte im Band, fragt auf für den späten Lenz ganz neuartige Weise nach dem Menschen. Irgendetwas Unterirdisches rumort in ihr gegen zu viel Harmonie. Dabei hat sich anfangs ein Sturm gerade erst beruhigt und erscheinen zunächst sämtliche Komparsen so knorrig wie friedfertig: Opa Klaas wird der gesellige Inselwirt gerufen, seine Kneipe heißt „Blinkfeuer“, und sein wohlgeratener Enkel Jan verbringt die Semesterferien bei ihm.
Nach dem Sturm finden die Inselbewohner einen angeschwemmten Frachtcontainer. Er enthält fernöstliche Tiermasken, adressiert an das Hamburger Völkerkundemuseum. Im Spaß probieren die Insulaner die Masken auf. Ob sodann Tage oder nur Stunden vergehen, lässt sich kaum sagen. Gleich mehrere Maskenbälle toben durch das „Blinkfeuer“. Wilde Polonaisen schwanken durch den Schankraum, Opa Klaas schmeißt Lokalrunden, die Feiernden wählen ihre Lieblingsmaskerade. Und Jan trifft die gleichaltrige Lene. „Wir setzten die Masken auf, wir schnurrten und fauchten uns an, wir spielten das Spiel, das die Masken uns nahegelegt hatten.“ Und schon küssen sich die beiden Masken.
Eine Liebesgeschichte hatte Lenz schon in seinem schönsten Buch der letzten Jahre erzählt, der „Schweigeminute“ von 2008. Auch „Die Maske“ berichtet von einer jungen Liebe, diesmal aber als rätselhaftes Mysterienspiel. Erzählt wird mit großer Kraft, jedoch wie in eine Geheimlogik übersetzt, deren Motive und Bedeutungen immer nur für Augenblicke aufleuchten. Nichts wird in dieser Erzählung aufgelöst, keinerlei Harmonie zwischen den Menschen stellt sich ein.
Bis zuletzt kommen sich Jan und Lene nur maskiert, als Fremde nahe. „‚Geh weg, du.‘ Ihre Stimme klang so zurückweisend, daß ich einen Moment zögerte; da trat sie auf mich zu, griff nach meinem Gesicht und riß die Maske ab. Ich spürte nur einen kleinen sengenden Schmerz.“ So träumerisch, erratisch und zart schreibt der 85-jährige Siegfried Lenz. FLORIAN KESSLER
Siegfried Lenz
Die Maske
Erzählungen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 124 Seiten, 17,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Neue Erzählungen von Siegfried Lenz: „Die Maske“
Dieses schmale Buch sortiert sich in vier schöne Erzählungen und eine Meistererzählung. Von den vier Erzählungen ist schneller erzählt. Jeder Lenz-Leser kennt ihren moralischen Anstand, ihre zugängliche Handlung und ihr rechtschaffenes Personal. Und jeder Lenz-Leser kennt auch das sanfte Wegdriften ihrer Liebenswürdigkeit von unserem demolierten Epochengefühl. Diesmal gibt es etwa einen jungen Mann, der wohlgemerkt heute leben soll. Über seinen Lebensentwurf heißt es – und beim Lesen fühlt sich das so fremd an, als lerne man gerade einen Außerirdischen vom Planeten Harmonia kennen: „Sie waren noch Schüler, als er sie zum ersten Mal küsste; geheiratet hatten sie in dem Herbst, als er die Stellung eines Museumswärters erhielt. Mit der Unterstützung ihrer Eltern lebten sie auskömmlich, und wenn sie Pläne für die Zukunft machten, waren es bescheidene Pläne.“
Einem solchen Menschenbild kann man Schlichtheit vorwerfen, man muss aber auch seine Menschenfreundlichkeit anerkennen. Umso staunenswerter gerät da die eine überstrahlend meisterliche Geschichte des neuen Buches. Denn die Titelerzählung „Die Maske“, mit Abstand die umfangreichste Geschichte im Band, fragt auf für den späten Lenz ganz neuartige Weise nach dem Menschen. Irgendetwas Unterirdisches rumort in ihr gegen zu viel Harmonie. Dabei hat sich anfangs ein Sturm gerade erst beruhigt und erscheinen zunächst sämtliche Komparsen so knorrig wie friedfertig: Opa Klaas wird der gesellige Inselwirt gerufen, seine Kneipe heißt „Blinkfeuer“, und sein wohlgeratener Enkel Jan verbringt die Semesterferien bei ihm.
Nach dem Sturm finden die Inselbewohner einen angeschwemmten Frachtcontainer. Er enthält fernöstliche Tiermasken, adressiert an das Hamburger Völkerkundemuseum. Im Spaß probieren die Insulaner die Masken auf. Ob sodann Tage oder nur Stunden vergehen, lässt sich kaum sagen. Gleich mehrere Maskenbälle toben durch das „Blinkfeuer“. Wilde Polonaisen schwanken durch den Schankraum, Opa Klaas schmeißt Lokalrunden, die Feiernden wählen ihre Lieblingsmaskerade. Und Jan trifft die gleichaltrige Lene. „Wir setzten die Masken auf, wir schnurrten und fauchten uns an, wir spielten das Spiel, das die Masken uns nahegelegt hatten.“ Und schon küssen sich die beiden Masken.
Eine Liebesgeschichte hatte Lenz schon in seinem schönsten Buch der letzten Jahre erzählt, der „Schweigeminute“ von 2008. Auch „Die Maske“ berichtet von einer jungen Liebe, diesmal aber als rätselhaftes Mysterienspiel. Erzählt wird mit großer Kraft, jedoch wie in eine Geheimlogik übersetzt, deren Motive und Bedeutungen immer nur für Augenblicke aufleuchten. Nichts wird in dieser Erzählung aufgelöst, keinerlei Harmonie zwischen den Menschen stellt sich ein.
Bis zuletzt kommen sich Jan und Lene nur maskiert, als Fremde nahe. „‚Geh weg, du.‘ Ihre Stimme klang so zurückweisend, daß ich einen Moment zögerte; da trat sie auf mich zu, griff nach meinem Gesicht und riß die Maske ab. Ich spürte nur einen kleinen sengenden Schmerz.“ So träumerisch, erratisch und zart schreibt der 85-jährige Siegfried Lenz. FLORIAN KESSLER
Siegfried Lenz
Die Maske
Erzählungen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 124 Seiten, 17,95 Euro.
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"Eine kleine, aber sehr feine Sammlung von Erzählungen." BuecherTreff.de, 04.11.2011
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Schneider hat im neuen Erzählungsband von Siegfried Lenz eine "verschmitzte Altmeisterlichkeit" und einen Hang zum Surrealen gefunden, die ihm durchaus zusagen. In seiner Titelerzählung "Die Maske" lässt der Autor, der wie kein zweiter Küsten- und Meeresatmosphäre zu evozieren weiß, wie der Rezensent schwärmt, einen angespülten Schiffscontainer mit chinesischen Masken eine ganze Insel in dionysischen Rausch geraten. Deutlich macht Rezensent Schneider, dass sich der späte Autor von "psychologischer Plausibilität" nicht mehr einengen lässt. Überhaupt enthält der Band in seinen Augen einige bemerkenswerte Erzählungen, wie "Der Entwurf", in dem ein Schriftsteller seiner Frau das tragische Ende des gemeinsamen Sohnes erzählt, der doch, wie am Ende klar wird, bereits bei der Geburt gestorben war. Das Konstruierte dieser Schlusspointe nimmt der Rezensent umso williger hin, als dass er die Geschichte einfach "gut erzählt" findet. Und wenn er eine Erzählung wie "Antonia mit dem blauen Schal" wegen ihrer allzu klappernden Mechanik mal für nicht so gelungen hält, dann sieht er sich von der nächsten Geschichte schon wieder durch die "originelle Erzählidee" entschädigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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