30 Jahre ist es her, dass die Berliner Mauer fiel. Eine Mauer, die jahrzehntelang nicht nur das Land teilte, sondern auch das Gesicht der Stadt prägte. Auf der Ostberliner Seite grau und öde, war sie auf der Westberliner Seite vollgekritzelt und bunt. Anfang der 80er-Jahre notierte Hörspielmacher Ronald Steckel jedes Wort, das irgendjemand irgendwann an die Westberliner Mauer geschrieben hatte: Politische, persönliche und gesellschaftskritische Aussagen standen hier unkommentiert nebeneinander. Wolfgang Neuss las, schrie, flüsterte und sang diese Texte ins Mikrofon und machte daraus den beeindruckenden Soundtrack einer geteilten Stadt.Lesung mit Wolfgang Neuss1 CD ca. 50 min
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Ich kam, ich
sah, ich sprühte
Ronald Steckel sammelt, Wolfgang
Neuss liest Mauersprüche
Im Sommer 1983 lief der Schriftsteller, Regisseur und Hörspielautor Ronald Steckel drei Monate lang auf Westberliner Seite an der Mauer entlang und zeichnete auf, was dort geschrieben stand. Die Mauer war Eigentum der DDR, aber sie ließ sich vom Westen aus an vielen Stellen leicht erreichen, wer sie besprühte, wurde von niemandem belangt. Steckel lief vom Brandenburger Tor bis zum Mariannenplatz und Schlesischen Tor in Kreuzberg, ging zur Liesenstraße in Gesundbrunnen und zur Bernauer Straße, wo im August 1961 Leute aus dem Fenster gesprungen waren.
Steckel wählte nicht aus, er schrieb ab, verhielt sich wie ein Aufzeichnungsapparat. Es war die Zeit, in der in Westberlin eine nicht geringe Anzahl von Leuten mit der Archäologie des Jüngstvergangenen beschäftigt waren, viele von ihnen Kriegskinder oder wie Steckel, Jahrgang 1945, bei Kriegsende in die Welt gekommen. Manche, wie Raffael Rheinsberg, im zerstörten Kiel aufgewachsen, sammelten in den Brachen am Potsdamer Platz, am Gleisdreieck oder Anhalter Bahnhof den Schrott der Geschichte, Schraubenmuttern und dergleichen, und arrangierten sie in Ausstellungstableaus, andere durchforsteten die Flohmärkte nach privaten Fotoalben. Ronald Steckel schrieb ab, was auf der Mauer stand, und als er damit fertig war, ging er zum Sender Freies Berlin (SFB), um ein Hörspiel daraus zu machen. In dessen Hörspielchef, Ulrich Gerhardt, musste der Geist der Alltagsarchäologie gefahren sein, jedenfalls unterstütze er das Projekt.
Und dann fiel die Entscheidung gegen einen Chor anonymer Berliner Stimmen und für eine Einzelstimme, die von Wolfgang Neuss, Schauspieler („Wir Kellerkinder“, 1960) und Kabarettist, Jahrgang 1923, in Breslau geboren, kein waschechter Berliner, aber es waren ja viele waschechte Berliner aus Breslau, zum Beispiel Alfred Kerr. Neuss hatte die aufsteigende Linie seiner Karriere der Fünfziger- und Sechzigerjahre hinter sich, die Verurteilung wegen Drogenbesitz im Juli 1984 noch vor sich, lebte mit wenigen Zähnen und langen Haaren in einer Sozialwohnung in Charlottenburg, die er in eine Kleinstbühne für ein Publikum jüngerer Bewunderer verwandelte.
Was Ronald Steckel in seine Hefte geschrieben hatte, fauchte, rief, flüsterte und trompetete Wolfgang Neuss in die Mikrofone des SFB. In seiner Einleitung lobte er die Graffiti: „statt Schießen – Schreiben, statt Küssen Kritzeln, statt Umarmen – Einspruch“. Was er zu lesen hatte, war ein Potpourri von Parolen („Ob Ost, ob West, die gleiche Pest“, „Mauerbauer Adenauer“), Pointen („weder rot noch tot“ / „Lieber Rotwein als Totsein“), blöden und weniger blöden Sprüchen („Ich kam ich sah ich sprühte“, „Erich, rück den Schlüssel raus!“„Wer sagt denn dass Beton nicht brennt?“), Banalitäten des Typs „ich war da“ oder Liebeserklärungen, wie sie auch bei Waldspaziergängen in Baumrinden geritzt werden. Und immer wieder das Spiel der Worte und Zitate mit dem Ort, an dem sie auftreten: „Was is’n hier hinter?“ „Im Westen nichts Neues.“ „Jetzt ist die Dose leer.“
Neuss war zu sehr Rampensau, um den Fehler zu machen, das als Litanei herunterzubeten. Er trat mal aufs Gas seiner bühnenerprobten berlinischen Kabarettistenstimme, mal gab er den leicht verwunderten Ableser („ostdeutsche Nation, westdeutsche Nation, Resignation“), baute Wiederholungen und Echoeffekte ein, las „no dope no hope“ betont nüchtern, akzentuierte das aktuelle Echo der Hausbesetzerszene, der Wiederentdeckung Preußens („Nur ein toter Preuße ist ein guter Preuße“), der Diskussionen um die Nachrüstung. Auch die „größte Wandzeitung der Welt“ erschließt sich am besten beim Durchblättern, in kleinen Portionen. Und vieles kann man auch überblättern. Was man hört, ist der O-Ton der Achtzigerjahre, aber nicht die anonyme Stimme Berlins insgesamt. Die Extrovertierten, die „Szene“ ist überrepräsentiert.
Was Neuss zum besten gibt, ist schon vor 1989 weitgehend verschwunden. Als Ronald Steckel mit seinem Notizbuch die Mauer abschritt, machten gerade die „Neuen Wilden“ und die Galerie am Moritzplatz Furore, die Phase der Mauerbeschriftung ging zu Ende, der steile Aufstieg der Mauermalerei begann. Als das Hörspiel im Herbst 1984 gesendet wurde, hatte das Comeback des Wolfgang Neuss seinen Zenit schon erreicht. Anfang Dezember 1983 war er zum Stadtgespräch geworden, als er im Café Kranzler die Talkshow „Leute“ kaperte und den Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker und seine Ehefrau in den wohl denkwürdigsten Auftritt seiner späten Jahre einbaute. Den Fall der Mauer hat Neuss nicht mehr erlebt, er starb Anfang Mai 1989. Geblieben ist seine Rezitation der Mauerbeschriftungen, als akustisches Gegenüber der „East Side Gallery“ und anderer Relikte der Mauerbilder.
LOTHAR MÜLLER
Die Mauer. Die größte Wandzeitung der Welt. Gelesen von Wolfgang Neuss. Komposition: Ronald Steckel. Der Audio Verlag, Berlin 2019. 1 CD mit Booklet, 50 Minuten, 12,99 Euro.
„Ostdeutsche Nation,
westdeutsche Nation,
Resignation.“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
sah, ich sprühte
Ronald Steckel sammelt, Wolfgang
Neuss liest Mauersprüche
Im Sommer 1983 lief der Schriftsteller, Regisseur und Hörspielautor Ronald Steckel drei Monate lang auf Westberliner Seite an der Mauer entlang und zeichnete auf, was dort geschrieben stand. Die Mauer war Eigentum der DDR, aber sie ließ sich vom Westen aus an vielen Stellen leicht erreichen, wer sie besprühte, wurde von niemandem belangt. Steckel lief vom Brandenburger Tor bis zum Mariannenplatz und Schlesischen Tor in Kreuzberg, ging zur Liesenstraße in Gesundbrunnen und zur Bernauer Straße, wo im August 1961 Leute aus dem Fenster gesprungen waren.
Steckel wählte nicht aus, er schrieb ab, verhielt sich wie ein Aufzeichnungsapparat. Es war die Zeit, in der in Westberlin eine nicht geringe Anzahl von Leuten mit der Archäologie des Jüngstvergangenen beschäftigt waren, viele von ihnen Kriegskinder oder wie Steckel, Jahrgang 1945, bei Kriegsende in die Welt gekommen. Manche, wie Raffael Rheinsberg, im zerstörten Kiel aufgewachsen, sammelten in den Brachen am Potsdamer Platz, am Gleisdreieck oder Anhalter Bahnhof den Schrott der Geschichte, Schraubenmuttern und dergleichen, und arrangierten sie in Ausstellungstableaus, andere durchforsteten die Flohmärkte nach privaten Fotoalben. Ronald Steckel schrieb ab, was auf der Mauer stand, und als er damit fertig war, ging er zum Sender Freies Berlin (SFB), um ein Hörspiel daraus zu machen. In dessen Hörspielchef, Ulrich Gerhardt, musste der Geist der Alltagsarchäologie gefahren sein, jedenfalls unterstütze er das Projekt.
Und dann fiel die Entscheidung gegen einen Chor anonymer Berliner Stimmen und für eine Einzelstimme, die von Wolfgang Neuss, Schauspieler („Wir Kellerkinder“, 1960) und Kabarettist, Jahrgang 1923, in Breslau geboren, kein waschechter Berliner, aber es waren ja viele waschechte Berliner aus Breslau, zum Beispiel Alfred Kerr. Neuss hatte die aufsteigende Linie seiner Karriere der Fünfziger- und Sechzigerjahre hinter sich, die Verurteilung wegen Drogenbesitz im Juli 1984 noch vor sich, lebte mit wenigen Zähnen und langen Haaren in einer Sozialwohnung in Charlottenburg, die er in eine Kleinstbühne für ein Publikum jüngerer Bewunderer verwandelte.
Was Ronald Steckel in seine Hefte geschrieben hatte, fauchte, rief, flüsterte und trompetete Wolfgang Neuss in die Mikrofone des SFB. In seiner Einleitung lobte er die Graffiti: „statt Schießen – Schreiben, statt Küssen Kritzeln, statt Umarmen – Einspruch“. Was er zu lesen hatte, war ein Potpourri von Parolen („Ob Ost, ob West, die gleiche Pest“, „Mauerbauer Adenauer“), Pointen („weder rot noch tot“ / „Lieber Rotwein als Totsein“), blöden und weniger blöden Sprüchen („Ich kam ich sah ich sprühte“, „Erich, rück den Schlüssel raus!“„Wer sagt denn dass Beton nicht brennt?“), Banalitäten des Typs „ich war da“ oder Liebeserklärungen, wie sie auch bei Waldspaziergängen in Baumrinden geritzt werden. Und immer wieder das Spiel der Worte und Zitate mit dem Ort, an dem sie auftreten: „Was is’n hier hinter?“ „Im Westen nichts Neues.“ „Jetzt ist die Dose leer.“
Neuss war zu sehr Rampensau, um den Fehler zu machen, das als Litanei herunterzubeten. Er trat mal aufs Gas seiner bühnenerprobten berlinischen Kabarettistenstimme, mal gab er den leicht verwunderten Ableser („ostdeutsche Nation, westdeutsche Nation, Resignation“), baute Wiederholungen und Echoeffekte ein, las „no dope no hope“ betont nüchtern, akzentuierte das aktuelle Echo der Hausbesetzerszene, der Wiederentdeckung Preußens („Nur ein toter Preuße ist ein guter Preuße“), der Diskussionen um die Nachrüstung. Auch die „größte Wandzeitung der Welt“ erschließt sich am besten beim Durchblättern, in kleinen Portionen. Und vieles kann man auch überblättern. Was man hört, ist der O-Ton der Achtzigerjahre, aber nicht die anonyme Stimme Berlins insgesamt. Die Extrovertierten, die „Szene“ ist überrepräsentiert.
Was Neuss zum besten gibt, ist schon vor 1989 weitgehend verschwunden. Als Ronald Steckel mit seinem Notizbuch die Mauer abschritt, machten gerade die „Neuen Wilden“ und die Galerie am Moritzplatz Furore, die Phase der Mauerbeschriftung ging zu Ende, der steile Aufstieg der Mauermalerei begann. Als das Hörspiel im Herbst 1984 gesendet wurde, hatte das Comeback des Wolfgang Neuss seinen Zenit schon erreicht. Anfang Dezember 1983 war er zum Stadtgespräch geworden, als er im Café Kranzler die Talkshow „Leute“ kaperte und den Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker und seine Ehefrau in den wohl denkwürdigsten Auftritt seiner späten Jahre einbaute. Den Fall der Mauer hat Neuss nicht mehr erlebt, er starb Anfang Mai 1989. Geblieben ist seine Rezitation der Mauerbeschriftungen, als akustisches Gegenüber der „East Side Gallery“ und anderer Relikte der Mauerbilder.
LOTHAR MÜLLER
Die Mauer. Die größte Wandzeitung der Welt. Gelesen von Wolfgang Neuss. Komposition: Ronald Steckel. Der Audio Verlag, Berlin 2019. 1 CD mit Booklet, 50 Minuten, 12,99 Euro.
„Ostdeutsche Nation,
westdeutsche Nation,
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»Die Mauer in Berlin ist eine Realität; aber realistisch ist sie nicht, denn sie ist nicht vernünftig, nicht human.« Richard von Weizsäcker, 1986