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Patrick Roth ist ein Erzähler ersten Ranges, ein Schriftsteller, der mit seiner magisch-suggestiven Prosa den Leser zu verzaubern versteht. Schon zwei Wochen nach Erscheinen wurde Die Nacht der Zeitlosen mit weitem Abstand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste gewählt, und die Kritiker rühmen Roths Gabe, von den Wundern der Wirklichkeit auf so eigene wie einzigartige Weise erzählen zu können. Hubert Winkels schrieb in der Zeit über die Heftigkeit und Intensität, die ihresgleichen sucht in der literarischen Landschaft, und Manuela Reichart sprach in der Süddeutschen Zeitung von dem…mehr

Produktbeschreibung
Patrick Roth ist ein Erzähler ersten Ranges, ein Schriftsteller, der mit seiner magisch-suggestiven Prosa den Leser zu verzaubern versteht. Schon zwei Wochen nach Erscheinen wurde Die Nacht der Zeitlosen mit weitem Abstand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste gewählt, und die Kritiker rühmen Roths Gabe, von den Wundern der Wirklichkeit auf so eigene wie einzigartige Weise erzählen zu können. Hubert Winkels schrieb in der Zeit über die Heftigkeit und Intensität, die ihresgleichen sucht in der literarischen Landschaft, und Manuela Reichart sprach in der Süddeutschen Zeitung von dem melancholisch-heiteren, lektüresüchtig stimmenden Buch von Patrick Roth , einer furiosen Nachtreise.
Von der Dämmerung - elf Stunden vor dem katastrophalen Erdbeben in Los Angeles am 17. Januar 1994 - bis zur Morgenröte unmittelbar danach: in seinen fünf deutsch-amerikanischen Stories erzählt Roth von einem ungeküßten Schüler, der mit der Prosa Edgar Allan Poes gruselnd das Lieben lernt, von einem Jungregisseur, der beim Hollywood-Trödler den Stab Moses kauft und sein rotes Wunder erlebt - von Menschen auf der Suche, Träumern, Neugierigen, Sehnenden.
Autorenporträt
Patrick Roth wurde am 25. Juni 1953 in Freiburg im Breisgau geboren und wuchs in Karlsruhe auf. Nach dem Abitur im Jahr 1971 ging er für ein Sprachstudium nach Paris und widmete sich in den dortigen Kinos einem intensiven privaten Filmstudium. Ab 1974 studierte er Anglistik, Germanistik und Romanistik an der Universität Freiburg im Breisgau. 1975 kam er - ausgestattet mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nach Los Angeles, wo er Anglistik und Filmwissenschaft studierte und bis 2012 lebte. In dieser Zeit entstanden erste Drehbücher und Short Stories. 1979 realisierte er mit der Produktionsfirma Mythograph den Kurzfilm "The Boxer", 1980 die Literaturverfilmung "The Killers" nach der gleichnamigen Geschichte aus dem Band "South Of No North" von Charles Bukowski. Von 1982 bis 1984 nahm er Schauspielunterricht bei dem Film- und Theaterregisseur Daniel Mann und schrieb Einakter für seine Schauspielklasse. Mitte der achtziger Jahre kehrte Roth zur deutschen Sprache zurück und schrieb eine Reihe von Hörspielen und Theaterstücken, die er teilweise selbst in Deutschland inszenierte. Im Sommersemester 2008 und 2012 lehrte er im Rahmen einer Poetik-Dozentur an der Universität Hildesheim. Für sein literarisches Schaffen wurde Patrick Roth vielfach ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001

Holz aus dem Bibelschinken
Patrick Roths Erzählungen über die Wiederholung der Wirklichkeit / Von Walter Hinck

Man dreht für den John-F.-Kennedy-Film die Attentatsszene in Dallas. Die Rolle der Jackie Kennedy hat man für diese Aufnahme einer Statistin, Jacki Ballard, übertragen. Da die Wirkung der Schüsse gezeigt werden soll, setzt man neben Jacki nicht den Kennedy-Darsteller, sondern eine Wachspuppe, in deren Kopf Sprengladungen eingebaut sind. Als der Wagen die Stelle erreicht, wo damals die Schüsse fielen, ergreift Jacki plötzlich den Kopf der Puppe und zieht ihn nach unten auf den Sitz. Aber die Sprengladungen mit den im Kopf des Dummy gespeicherten Blutsäcken werden gleichzeitig gezündet. Das Blut der verletzten Hände Jackis und das künstliche Blut vermischen sich. Die Aufnahme wird abgebrochen, der Notarzt eilt herbei.

Dieser Vorfall ist die Schlüsselszene in der Titelerzählung von Patrick Roths neuem Erzählungsband "Die Nacht der Zeitlosen". Der seit 1977 in Los Angeles lebende Schriftsteller und Filmregisseur, dessen Weg als Erzähler durch die Riverside-Trilogie markiert wird ("Riverside, Christusnovelle", 1992, "Johnny Shines", 1993, "Corpus Christi", 1996), hat 1997 mit seiner Huldigung an das Filmgenie Charlie Chaplin ("Meine Reise zu Chaplin. Ein Encore") bei Film- wie bei Literaturkritikern für Aufsehen gesorgt, versah er doch das Filmgenie mit dem Schein der "Heiligkeit". Das Numinose, Religiöse, das in der bisherigen Erzählprosa Roths fast immer im Hintergrund aufscheint, ist im neuen Band, sieht man von Ausnahmen ab, ausgeblendet. Erhalten hat sich das Interesse für Grenz- und Dunkelzonen des Verstandes, für mysteriöse Fälle menschlichen Handelns und für die vielfältigen Brechungen der Rollenexistenz im Film.

Was hat Jacki getrieben, gegen die Anweisung des Drehbuchs und gegen den historischen Verlauf der Szene den Kopf der Kennedy-Puppe auf den Sitz zu drücken? Einfache Identifikation mit der Rolle der Präsidentengattin kann es nicht gewesen sein, dann hätte sie den Augenblick der Schrecksekunde abgewartet. Sie besaß ein Vorwissen, das der realen Jackie Kennedy fehlte, so erklärt sie dem Erzähler. Dieses Vorwissen mischt sich im entscheidenden Moment ein. Sie handelt schauspielerisch unprofessionell, sucht ihrer Rolle zu entkommen, glaubt das historisch Geschehene ungeschehen machen zu können. Für einen Augenblick fühlt sie sich verantwortlich dafür, das Unmögliche gegen die Wirklichkeit durchzusetzen. Auf den Film bezogen: Mit der Verweigerung der Rolle bricht ein ethischer Impuls in die ästhetische Wiederholung ein - der spontane, wenn auch naive Versuch der Korrektur von Geschichte.

Der Bericht und die Enthüllung der Motive gehen hervor aus der kunstvollen Verknüpfung verschiedener Erzählebenen. Den Rahmen bildet eine Party, die der Erzähler nach der Rückkehr aus Frankfurt in seiner Wohnung in Los Angeles für Gäste gibt, die alle irgendwie mit dem Kino zu tun haben. Der Erzähler hat von dem sonderbaren Vorfall gehört, trifft draußen Jacki und erzählt ihr, was man ihm über sie erzählt hat. Sie wird also mit dem Gerücht über ihren eigenen Fall konfrontiert, greift nun in die Erzählung ein, ergänzt und vertieft sie. Um den Personenkern herum gruppieren sich Figuren, die auf andere Weise mit dem Attentat auf Kennedy und dem Film verbunden sind.

Von diesem historischen Ereignis aber führt die Erzählung noch einmal tiefer in die Geschichte zurück, etwa mit dem Gegenbeispiel zu Jackis Fall, dem Bericht über Jackis Großmutter, eine deutsche Jüdin, die vor der Flucht ins amerikanische Exil, entschlossen, die Geliebte ihres Mannes zu töten, einen Revolver einsteckt und auf der Friedrichstraße in Berlin zufällig Adolf Hitler in Zivilkleidung trifft. Ihr späteres Bedauern, die "Chance" zum Attentat nicht genutzt zu haben, entspringt einem Wissen, das sie damals noch nicht hatte. Jacki bedrängt den Erzähler mit der Frage, ob er sich nicht gerade als Deutscher manchmal die Chance herbeigewünscht hätte, Geschehenes rückgängig zu machen. Zum Schluß weist, wenn auch nur in der Andeutung, Jackis Ausbruch aus ihrer Rolle weit über sich hinaus: Die Unmöglichkeit, historisches Geschehen im Medium des Films, der Kunst zu löschen, befreit nicht von der Verantwortung, seine Wiederholung in der Wirklichkeit zu verhindern.

Diese Erzählung das Glanzstück des Bandes zu nennen, fällt nicht schwer. Die Widersprüche zwischen Rolle und Ich, das Spannungsverhältnis von Ästhetik, Geschichte und verantwortlichem Handeln - sie werden hier ohne falsches Reflexionsgehabe dargeboten, werden anschaulich in fesselnder Verschränkung von episodenhaftem und dialogischem Erzählen. Ihre Vielsinnigkeit erreichen die anderen Erzählungen nicht. In der 1994 schon einmal veröffentlichten Kurzgeschichte "Die Frau, die den Dieb erschoß", der mysteriösen und fast reißerischen Geschichte von der Errettung zweier Erdbebenopfer, einer Mutter und ihres Kindes, wirkt die Erscheinung Gottes aufgesetzt.

Auch dem Filmmilieu verbunden sind dagegen zwei andere Erzählungen. Die eine, "Mr. Colman erwacht", quirlt Albtraum, Wachtraum und Filmbilder durcheinander; das Ich stürzt ab ins Bodenlose. Die andere, "Der Stab Moses", beginnt im Stil einer Humoreske und endet in einer Katastrophenstory. Bei einem sonntäglichen "garage sale", bei einem Trödelkauf vor einem Bungalow in Hollywood, erwirbt der Erzähler den Stab, mit dem Charlton Heston in Cecile B. DeMilles Bibelschinken "Die Zehn Gebote" als Moses das Rote Meer teilte. Zum Rettungsstab wird dieses zum Andenkenkitsch verkommene Filmrequisit noch einmal, als es bei einem Wohnungsbrand den Freunden Orientierung ermöglicht und sie den Flammen entkommen läßt.

Beide Geschichten sind erzählerische Etüden - der Autor kennt sein Hollywood und beherrscht sein schriftstellerisches Handwerk. In die Nähe der Titelerzählung aber gehört "Das verräterische Herz". Hier erweist Roth einem seiner literarischen Schutzpatrone, Edgar Allan Poe, die Ehre. Um der "Maskenmusik" der Sprache Poes "bis in die letzte Kammer" folgen zu können, nimmt der Erzähler Privatunterricht in Englisch. Doch ist es der Schüler, der seine Lehrerin bei der gemeinsamen Lektüre der Erzählung "The Tell-Tale Heart" ins unentdeckte Land der Poeschen Welt, "durchs Poesche Satznetz ins Hirn eines Verrückten" führt. Die Suggestivkraft des Textes wird so stark, daß sich die Nervenanspannung der Lesenden dem Zustand der Figur annähert. Welchen Ausgang die Erzählung nimmt, sei hier nicht verraten.

Vielfältige Erfahrungen und Anregungen der Lebenswelt, in der Roth nun schon ein Vierteljahrhundert zu Hause ist, schlagen sich in den Erzählungen dieses Bandes nieder. Wie sehr aber sein Bewußtsein in der Geschichte des Geburtslandes verankert bleibt, zeigt vor allem "Die Nacht der Zeitlosen". Eine Erzählung wie diese schreibt dem Autor so leicht keiner nach.

Patrick Roth: "Die Nacht der Zeitlosen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 150 S., geb., 34,- DM.

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