»Denn vor allem durch Literatur können wir besser erkennen, in welcher Zeit wir leben.«
Norbert Paulini ist ein hoch geachteter Dresdner Antiquar, bei ihm finden Bücherliebhaber Schätze und Gleichgesinnte. Auch in den neuen Zeiten, als die Kunden ausbleiben, versucht er, seine Position zu behaupten. Doch plötzlich steht ein aufbrausender, unversöhnlicher Paulini vor uns, der beschuldigt wird, an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu sein. Die Geschichte nimmt eine virtuose Volte: Ist Paulini ein Reaktionär oder ein Revolutionär, eine tragische Figur oder ein Mörder?
Auf fulminante Weise zieht uns Ingo Schulze den Boden unter den Füßen weg: Wie kann ein Leser, ein Büchermensch zum rechten Täter werden? Ein raffiniertes und aufwühlendes Hörerlebnis.
Sylvester Groth, bekannt aus der Serie "Deutschland 83", und Victoria Trauttmansdorff, zu sehen in den Kinofilmen "Systemsprenger" und "Der Goldene Handschuh", lassen als Interpreten ein so elektrisierendes wie undurchsichtiges Hörtableau entstehen.
Norbert Paulini ist ein hoch geachteter Dresdner Antiquar, bei ihm finden Bücherliebhaber Schätze und Gleichgesinnte. Auch in den neuen Zeiten, als die Kunden ausbleiben, versucht er, seine Position zu behaupten. Doch plötzlich steht ein aufbrausender, unversöhnlicher Paulini vor uns, der beschuldigt wird, an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu sein. Die Geschichte nimmt eine virtuose Volte: Ist Paulini ein Reaktionär oder ein Revolutionär, eine tragische Figur oder ein Mörder?
Auf fulminante Weise zieht uns Ingo Schulze den Boden unter den Füßen weg: Wie kann ein Leser, ein Büchermensch zum rechten Täter werden? Ein raffiniertes und aufwühlendes Hörerlebnis.
Sylvester Groth, bekannt aus der Serie "Deutschland 83", und Victoria Trauttmansdorff, zu sehen in den Kinofilmen "Systemsprenger" und "Der Goldene Handschuh", lassen als Interpreten ein so elektrisierendes wie undurchsichtiges Hörtableau entstehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2020Sind Nietzsche-Leser Verbrecher?
Ein frustrierter Antiquar, der Jagd auf Menschen machen will: Ingo Schulzes Roman "Die rechtschaffenen Mörder" erzählt satirisch Milieugeschichte und gibt Rätsel auf.
Dieser Roman beruht auf einer falschen Voraussetzung, die leider schon im Klappentext verstärkt sowie, noch bedauerlicher, in manchen Rezensionen des vor wenigen Tagen veröffentlichten Werks bereitwillig nachgebetet wird: "Wie wird ein aufrechter Büchermensch zum Reaktionär - oder zum Revoluzzer?", heißt es auf dem Buchrücken.
Die Vorstellung von einem "aufrechten Büchermenschen" aber ist naiv, man kann an so etwas vielleicht glauben, wenn man zu viele Pressemitteilungen der "Stiftung Lesen" konsumiert hat oder aus Verzweiflung über die Lage des Buchmarktes sich wünschte, jegliches Buch an sich wäre schon ein gutes. Diese Naivität steckt auch in Begriffen wie "Bücherwurm", "Büchernarr" oder "Leseratte" - als wäre mit dem bloßen Lesen schon irgendetwas über den Inhalt der Bücher gesagt.
Ingo Schulzes Roman ist aber, obwohl er den Inbegriff eines solchen Büchermenschen zunächst plakativ darstellt, am Ende differenzierter - und das liegt an seiner komplexen Erzählstruktur, die auf einer doppelten Metafiktion beruht.
Über die ersten hundertachtzig Seiten liest man die Lebensgeschichte eines Mannes, der schon als Baby auf Büchern gebettet wurde und fortan seine gesamte Existenz auf diese ausrichtet, um schließlich daraus einen Beruf zu machen: "Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss."
Mit märchenhafter Sicherheit wird Norbert Paulini gegen manche Widrigkeiten der Zeit, also der DDR vom Arbeiterjungen zum Geistesmenschen, der in seinem Leben nichts als lesen will: Hölderlin, Melville, Fontane, Thomas Mann, die Expressionisten und Nietzsche, nach dessen "Liedern des Prinzen Vogelfrei" er seinen Salon benennt. Dort gehen bald Universitätsdozenten, Künstler und Schriftsteller ein und aus. Aber die Zeit meint es nicht gut mit ihm, nach der Wende verliert er alles, vielleicht sogar den Verstand. Ziemlich unmotiviert offenbart er, kurz bevor die Erzählung abbricht, noch eine fremdenfeindliche Gesinnung, und es stellt sich unvermittelt die Frage, ob er und sein Sohn Teil einer rechtsradikalen Szene sind.
Im zweiten Teil des Buches wird die zuvor gelesene Geschichte des Norbert Paulini als "Novelle" ausgewiesen - verfasst von einem Schriftsteller namens Schultze, der mit dem Autor Ingo Schulze einiges gemein hat. Schultze befindet sich, nach Paulinis Tod unter unklaren Umständen, offenbar in einer Verhörsituation, legt also eine vermeintlich realistischere Rechenschaft ab als zuvor die Novelle. Auch diese Rechenschaft dreht sich um das Wesen des Antiquars, dessen Salon Schultze früher frequentiert und mit dem er sich, zunächst unbewusst, die Frau geteilt hat. Eifersucht und Rache sind im Spiel, provozieren somit auch interessante Fragen zur Motivation der Novellen-Erzählung.
Im dritten Teil erfährt man in einem Bericht von Schultzes Lektorin, dass dieser womöglich Paulini ermordet haben könnte - die Frau begibt sich auf die Spuren der beiden zwischen Dresden und Elbsandsteingebirge, eröffnet somit eine weitere Perspektive auf das, was inzwischen ein Kriminalfall geworden ist.
Es läuft alles auf die Frage hinaus: War Paulini ein schlechter Mensch? Zumindest in der Sichtweise des Erzählers Schultze ist die Sache klar: "Ich hatte Paulini verkannt, verkannt, wozu ihn das, was wir an ihm bewundert hatten, prädestinierte: zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab." Belegt wird das mit einem angeblichen Ausspruch des frustrierten Antiquars, der sein Geschäft verloren hat und für dessen Lebensinhalt sich niemand mehr interessiert: "Wenn schon jeder auf mich Jagd machen darf, dann nehme ich mir die Freiheit und mache auch ein bisschen Jagd. Für die Freiheit, für das Glück der Deutschen." Der Nietzsche-Verehrer also ein Verbrecher, Prinz Vogelfrei ein verkappter Terrorist, der nun "Jagd" auf Menschen macht - ist das nicht ein bisschen billig? Immerhin kommentiert auch der Erzähler Schultze: "Das ist unter Ihrem Niveau, Paulini."
Was der Autor Ingo Schulze sich dabei gedacht hat, liegt wohl versteckt zwischen einer ganzen Reihe literarischer Rätsel. Die Metaebenen und die erzählerische Unzuverlässigkeit lassen mannigfaltige Vorbilder von Jean Paul bis zu Maxim Billers vertrackter Erzählung "Harlem Holocaust" und Martin Walsers Schlüsselroman "Tod eines Kritikers" durchscheinen. Ob auch dies teilweise ein Schlüsselroman ist, wäre eine interessante Recherche für sich, neben der Spiegelung des Autors fällt insbesondere ein Dramatiker namens Ilja Gräbendorf auf, der die Liebeskrimihandlung hier noch mit vorantreibt.
Wie Lutz Seilers jüngst erschienener Roman "Stern 111" die Ost-Berliner Künstlerszene zur Wendezeit, so schildert auch Schulzes Roman (beide sind für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert) ein ganz bestimmtes Milieu, nämlich das Dresdner Bildungsbürgertum der späten DDR. Wer daran denkt, kommt an Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" (2008) natürlich nicht vorbei - mitunter hat man bei Schulze das Gefühl, er wolle diesen parodieren. So hat auch Antiquar Paulini im seit Tellkamp legendären Stadtteil Weißer Hirsch Kontakte zur dortigen Elite, die allerdings etwas flach erscheint. Und Paulini selbst ist, zumindest in der Novelle, auch eine Karikatur: "Ich will eine Frau, die mich lesen lässt", sagt er.
So oft das aber alles gebrochen ist und durch die verschiedenen Erzählperspektiven relativiert wird, scheint das Grundproblem der Idee eines "guten Büchermenschen" immer wieder durch - auch die Lektorin spricht vom "bildungsbeflissenen, die Buchmenschen per se anhimmelnden Leser, der am Ende bestürzt erkennen müsse, wohin sein kontextloser Ästhetizismus ihn geführt habe". Das ist vielleicht eine Unterschätzung der Leser, und "kontextloser Ästhetizismus": Was soll das sein?
Der Kontext, in den Schulzes Roman eigentlich nur sehr am Rande führt, nämlich in die Realität von Pegida, Reichsbürgern und Rechtsterrorismus, wirkt in allen drei Erzählsträngen ein bisschen herbeigezwungen. Nein, "Die rechtschaffenen Mörder" ist kein "Buch der Stunde" zu diesen Nachrichtenthemen, sondern ein intertextuell aufgeladener historischer Roman, der vor allem von traurigen Ost-West-Differenzen erzählt, und der sich, Klappentext hin, Schubladenkritik her, nicht auf einen Nenner bringen lässt.
JAN WIELE
Ingo Schulze:
"Die rechtschaffenen
Mörder". Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2020.
320 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein frustrierter Antiquar, der Jagd auf Menschen machen will: Ingo Schulzes Roman "Die rechtschaffenen Mörder" erzählt satirisch Milieugeschichte und gibt Rätsel auf.
Dieser Roman beruht auf einer falschen Voraussetzung, die leider schon im Klappentext verstärkt sowie, noch bedauerlicher, in manchen Rezensionen des vor wenigen Tagen veröffentlichten Werks bereitwillig nachgebetet wird: "Wie wird ein aufrechter Büchermensch zum Reaktionär - oder zum Revoluzzer?", heißt es auf dem Buchrücken.
Die Vorstellung von einem "aufrechten Büchermenschen" aber ist naiv, man kann an so etwas vielleicht glauben, wenn man zu viele Pressemitteilungen der "Stiftung Lesen" konsumiert hat oder aus Verzweiflung über die Lage des Buchmarktes sich wünschte, jegliches Buch an sich wäre schon ein gutes. Diese Naivität steckt auch in Begriffen wie "Bücherwurm", "Büchernarr" oder "Leseratte" - als wäre mit dem bloßen Lesen schon irgendetwas über den Inhalt der Bücher gesagt.
Ingo Schulzes Roman ist aber, obwohl er den Inbegriff eines solchen Büchermenschen zunächst plakativ darstellt, am Ende differenzierter - und das liegt an seiner komplexen Erzählstruktur, die auf einer doppelten Metafiktion beruht.
Über die ersten hundertachtzig Seiten liest man die Lebensgeschichte eines Mannes, der schon als Baby auf Büchern gebettet wurde und fortan seine gesamte Existenz auf diese ausrichtet, um schließlich daraus einen Beruf zu machen: "Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss."
Mit märchenhafter Sicherheit wird Norbert Paulini gegen manche Widrigkeiten der Zeit, also der DDR vom Arbeiterjungen zum Geistesmenschen, der in seinem Leben nichts als lesen will: Hölderlin, Melville, Fontane, Thomas Mann, die Expressionisten und Nietzsche, nach dessen "Liedern des Prinzen Vogelfrei" er seinen Salon benennt. Dort gehen bald Universitätsdozenten, Künstler und Schriftsteller ein und aus. Aber die Zeit meint es nicht gut mit ihm, nach der Wende verliert er alles, vielleicht sogar den Verstand. Ziemlich unmotiviert offenbart er, kurz bevor die Erzählung abbricht, noch eine fremdenfeindliche Gesinnung, und es stellt sich unvermittelt die Frage, ob er und sein Sohn Teil einer rechtsradikalen Szene sind.
Im zweiten Teil des Buches wird die zuvor gelesene Geschichte des Norbert Paulini als "Novelle" ausgewiesen - verfasst von einem Schriftsteller namens Schultze, der mit dem Autor Ingo Schulze einiges gemein hat. Schultze befindet sich, nach Paulinis Tod unter unklaren Umständen, offenbar in einer Verhörsituation, legt also eine vermeintlich realistischere Rechenschaft ab als zuvor die Novelle. Auch diese Rechenschaft dreht sich um das Wesen des Antiquars, dessen Salon Schultze früher frequentiert und mit dem er sich, zunächst unbewusst, die Frau geteilt hat. Eifersucht und Rache sind im Spiel, provozieren somit auch interessante Fragen zur Motivation der Novellen-Erzählung.
Im dritten Teil erfährt man in einem Bericht von Schultzes Lektorin, dass dieser womöglich Paulini ermordet haben könnte - die Frau begibt sich auf die Spuren der beiden zwischen Dresden und Elbsandsteingebirge, eröffnet somit eine weitere Perspektive auf das, was inzwischen ein Kriminalfall geworden ist.
Es läuft alles auf die Frage hinaus: War Paulini ein schlechter Mensch? Zumindest in der Sichtweise des Erzählers Schultze ist die Sache klar: "Ich hatte Paulini verkannt, verkannt, wozu ihn das, was wir an ihm bewundert hatten, prädestinierte: zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab." Belegt wird das mit einem angeblichen Ausspruch des frustrierten Antiquars, der sein Geschäft verloren hat und für dessen Lebensinhalt sich niemand mehr interessiert: "Wenn schon jeder auf mich Jagd machen darf, dann nehme ich mir die Freiheit und mache auch ein bisschen Jagd. Für die Freiheit, für das Glück der Deutschen." Der Nietzsche-Verehrer also ein Verbrecher, Prinz Vogelfrei ein verkappter Terrorist, der nun "Jagd" auf Menschen macht - ist das nicht ein bisschen billig? Immerhin kommentiert auch der Erzähler Schultze: "Das ist unter Ihrem Niveau, Paulini."
Was der Autor Ingo Schulze sich dabei gedacht hat, liegt wohl versteckt zwischen einer ganzen Reihe literarischer Rätsel. Die Metaebenen und die erzählerische Unzuverlässigkeit lassen mannigfaltige Vorbilder von Jean Paul bis zu Maxim Billers vertrackter Erzählung "Harlem Holocaust" und Martin Walsers Schlüsselroman "Tod eines Kritikers" durchscheinen. Ob auch dies teilweise ein Schlüsselroman ist, wäre eine interessante Recherche für sich, neben der Spiegelung des Autors fällt insbesondere ein Dramatiker namens Ilja Gräbendorf auf, der die Liebeskrimihandlung hier noch mit vorantreibt.
Wie Lutz Seilers jüngst erschienener Roman "Stern 111" die Ost-Berliner Künstlerszene zur Wendezeit, so schildert auch Schulzes Roman (beide sind für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert) ein ganz bestimmtes Milieu, nämlich das Dresdner Bildungsbürgertum der späten DDR. Wer daran denkt, kommt an Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" (2008) natürlich nicht vorbei - mitunter hat man bei Schulze das Gefühl, er wolle diesen parodieren. So hat auch Antiquar Paulini im seit Tellkamp legendären Stadtteil Weißer Hirsch Kontakte zur dortigen Elite, die allerdings etwas flach erscheint. Und Paulini selbst ist, zumindest in der Novelle, auch eine Karikatur: "Ich will eine Frau, die mich lesen lässt", sagt er.
So oft das aber alles gebrochen ist und durch die verschiedenen Erzählperspektiven relativiert wird, scheint das Grundproblem der Idee eines "guten Büchermenschen" immer wieder durch - auch die Lektorin spricht vom "bildungsbeflissenen, die Buchmenschen per se anhimmelnden Leser, der am Ende bestürzt erkennen müsse, wohin sein kontextloser Ästhetizismus ihn geführt habe". Das ist vielleicht eine Unterschätzung der Leser, und "kontextloser Ästhetizismus": Was soll das sein?
Der Kontext, in den Schulzes Roman eigentlich nur sehr am Rande führt, nämlich in die Realität von Pegida, Reichsbürgern und Rechtsterrorismus, wirkt in allen drei Erzählsträngen ein bisschen herbeigezwungen. Nein, "Die rechtschaffenen Mörder" ist kein "Buch der Stunde" zu diesen Nachrichtenthemen, sondern ein intertextuell aufgeladener historischer Roman, der vor allem von traurigen Ost-West-Differenzen erzählt, und der sich, Klappentext hin, Schubladenkritik her, nicht auf einen Nenner bringen lässt.
JAN WIELE
Ingo Schulze:
"Die rechtschaffenen
Mörder". Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2020.
320 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ingo Schulze unternimmt in diesem fabelhaften Roman nichts weniger als eine Spurensuche nach seiner möglichen eigenen Schuld. Volker Weidermann Der Spiegel 20201128
Freiheit
im Abseits
Eben doch kein
konventioneller Schlüsselroman:
Ingo Schulzes Roman
„Die rechtschaffenen Mörder“
über einen Dresdner Eigenbrötler
auf politischen Abwegen
VON JÖRG MAGENAU
Der erste Satz schafft die Atmosphäre und lässt noch alles offen. Er ist die Tür in eine unbekannte Welt. Bei Ingo Schulze klingt der erste Satz wie der einer Novelle von Heinrich von Kleist: „Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.“
Ort und Zeit sind damit vorgegeben. „Einst“, das ist „Es war einmal“ und zugleich die DDR als Raum, in dem die Zeit stillstand. Blasewitz liegt an der Elbe, wo die blaue Brücke hinüberführt nach Loschwitz und von dort zum Weißen Hirsch, dem literarischen Terrain von Uwe Tellkamp. Es ist kein Zufall, dass Ingo Schulze seine Geschichte in dieser Nachbarschaft ansiedelt, spürt er doch der Frage nach, woher die Aggressionen, die Ängste und die Ausländerfeindlichkeit der Gegenwart stammen und wie es sein kann, dass gerade das ostdeutsche Bildungsbürgertum, wie Tellkamp es in seinem Roman „Der Turm“ geschildert hat, auf politische Abwege geraten ist und sich mit den Ressentiments der Pegida-Demonstranten vermählt. Schützt Bildung denn vor gar nichts?
Das Antiquariat als verwunschener Ort ist per se schon aus der Zeit gefallen, sodass man diesen Roman betritt wie die „Unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Doch wenn dort der emphatische Leser ein Junge ist, der mit einem gestohlenen Buch ins Reich Phantásien aufbricht, so ist der Leser hier der Antiquar selbst, Norbert Paulini, ein Mann, der weder jung noch alt zu sein scheint und von dem sich niemand vorstellen kann, dass er jemals anders ausgesehen haben könnte als heute. Das Setting ist absolut bestsellerverdächtig. Man braucht für einen Bestseller einen verschrobenen, aus der Zeit gefallenen Helden mit Überraschungspotenzial und am besten einen Leser oder eine Leserin wie in „Sophies Welt“, in der „Unendlichen Geschichte“ oder in „Der Vorleser“. Lesende lesen gerne von Lesern und greifen vorzugsweise zu Büchern, in denen Bücher vorkommen. Davon gibt es in „Die rechtschaffenen Mörder“ mehr als genug.
Bestsellerverdächtig ist auch der behäbige, konventionelle Tonfall, den Ingo Schulze anschlägt und der auch vor Binsenweisheiten nicht zurückschreckt: „Nur der uneigennützige Leser, der sich einem Buch vorbehaltlos und ganz und gar zu öffnen vermag, kann es in seiner Differenziertheit und Komplexität erfassen.“ Brav und bieder entfaltet er die Lebensgeschichte seines Antiquars, oder vielmehr lässt er einen Ich-Erzähler, der sich immer mal wieder zwischen den Zeilen zu erkennen gibt, davon berichten, allerdings so, dass man sich fragen muss: Woher weiß dieser Biograf das alles, wenn er aus der Kindheit berichtet, von den Bücherbergen der Mutter, den Wanderungen mit dem Vater im Riesengebirge, Schul- und Armeezeit, und immer und überall von den Büchern. Seine Bestimmung und seinen Lebensort fand Norbert Paulini, als Kind eher Außenseiter und Eigenbrötler, schließlich in seinem Antiquariat, das, 1977 eröffnet, zu einem Zufluchtsort für dissidentische Geister wurde, die dort Werkausgaben von Benn, Jünger, Kafka oder Bloch finden konnten und sich regelmäßig zu einer Samstagsrunde trafen, an der auch der merkwürdig indifferente Ich-Erzähler teilgenommen hat.
Dieses intellektuelle Nischendasein geht im Herbst 1989 mit der Wende verloren. Mit dem Markt bricht auch die Zeit in dieses schöne, abseitige Utopia ein; Bücher sind auf einmal nichts mehr wert. Sie sind nicht einmal mehr Ramsch, sondern Müll, der bei Paulini ausgekippt wird, weil die Kartons kostbarer sind als ihr Inhalt. Die Kunden bleiben aus, das Antiquariat geht in Konkurs und Paulinis Ehe in die Brüche, als sich herausstellt, dass seine Frau der Stasi über die Samstagrunden Bericht erstattet hat. Ingo Schulze zeigt, dass sich der Umbruch mit seinen wirtschaftlichen Verwerfungen und politischen Erregungen tatsächlich als Büchergeschichte schreiben lässt. Aus dem Antiquar wird, nach einer Episode als Kassierer im Supermarkt, schließlich ein Nachtportier, weil das eine Tätigkeit ist, die zu lesen erlaubt.
Aber Paulini hat seine Welt verloren, seinen Ort, seine Mitte, sein Leben. Muss man sich also wundern, wenn er auf Abwege gerät? In der Wendezeit hat er sich noch politisch abstinent verhalten. Seine Politik ist die Literatur, alles andere wäre Zeitverschwendung. Doch plötzlich gilt das nicht mehr. Er, der Zeitabgewandte, beginnt, sich einzumischen und mit Pegida zu sympathisieren.
Man darf Schulzes „Die rechtschaffenen Mörder“ jedoch nicht als schlichte Erklärung dieses spezifischen Dresdner Wutbürgertums lesen. Stattdessen dringt er zu der Erkenntnis vor, dass es „in unserer Welt schwer geworden ist, immer die Ursache für eine Wirkung zu finden.“ Einfache Antworten helfen schon gar nicht. Über die Wendezeit heißt es: „Alles war da wie eh und je, nur war es nicht mehr verwunschen, sondern erlöst.“ Von diesem Gefühl der Entzauberung der Welt ausgehend, gelingt es Schulze, die Sensibilität für die Verluste zu schärfen und zu begreifen, was die neue Zeit mit den Menschen anrichtet.
Es sind seit der Wende ja nicht nur romantische Illusionen auf der Strecke geblieben, sondern die Lebenssubstanz an Unmittelbarkeit und einer – wenn auch stasiüberwachten – Unantastbarkeit, die die Menschen als Freiheit erleben konnten, während die mediale Übermacht der Gegenwart ihnen als übergriffige Daueragitation erscheint. Freiheit ist nicht einfach nur eine Systemfrage, sondern ein Lebensgefühl, das sich auch innerhalb einer Diktatur im Abseits einigeln kann. Das lässt sich am Lebensweg von Ingo Schulzes Antiquar ablesen. Da geht es längst nicht mehr um den Osten, sondern um „die Bücher überhaupt, deren Wertschätzung und Unersetzlichkeit“. So werden aus den Dissidenten des Sozialismus die Dissidenten der Gegenwart, die das verteidigen, was sie liebten: ihre Nischenexistenz.
Soweit wäre der Roman aber immer noch eine zwar rechtschaffene und kluge, aber doch literarisch wenig aufregende Angelegenheit. Interessant wird das Buch erst im zweiten und im kurzen dritten Teil, wo die Erzählperspektive wechselt. Im zweiten Teil gibt sich der Ich-Erzähler zu erkennen und rekapituliert die Geschichte noch einmal aus seiner eigenen Perspektive. Das liest sich wie ein Kommentar zum ersten Teil, indem der fiktive Autor jetzt seine Absichten offenlegt. Dieser Schultze – mit tz – ist ein Schriftsteller aus der DDR, der nach der Wende einigermaßen erfolgreich wurde und schon lange die Biografie des Antiquars schreiben wollte. Dass er ein schlechterer Schriftsteller ist als Ingo Schulze, ist gewollt, bleibt aber doch ein Problem des Romans. Angetrieben wird er von einer Obsession: Er liebt die Frau, die die rechte Hand Paulinis im Antiquariat ist, und von der er fürchtet, sie sei auch dessen Geliebte. So hat er, während sie zwischen ihm in Berlin und Paulini in Sachsen hin- und herpendelt, keine ruhige Minute mehr. Das Schreiben ist seine Ausflucht, schreibend beruhigt er sich und macht sich die Welt so zurecht, dass sie erträglich bleibt.
Die Biografie des Antiquars – der Hauptteil des Romans – wird nun als Schultzes Werk deutlich und kippt damit aus dem Rahmen der Konventionalität, denn diesem Autor ist nicht zu trauen. Ingo Schulze liebt derlei literarische Spiele; schon in seinem großen Wenderoman „Neue Leben“ hat er mit einem fiktiven Herausgeber gearbeitet. Seinem Schultze gibt er dazu noch autobiografische Erfahrungen mit, wenn er ihn nach der Wende ein Anzeigenblatt in Altenburg gründen lässt. Auch davon handelte bereits „Neue Leben“. Es gibt also nicht nur den Autor, der über sein Schreiben und die Fragwürdigkeit biografischen Erzählens nachdenkt, nicht nur den Roman im Roman, sondern die literarischen Querverweise, bei denen man Ingo Schulze hinter diesem Schultze leise kichern hört.
Aus dem Bildungsroman wird damit ein Künstlerroman, in dem ein ostdeutscher Schriftsteller über die Bedingungen seines Schreibens und seinen Ort im kapitalistischen Literaturbetrieb nachdenkt. Ihm ist durchaus bewusst, dass er mit seinem Vorhaben, dem Dresdner Antiquar ein Denkmal zu setzen und sich der eigenen Ost-Herkunft zu vergewissern, gescheitert ist. Er erkennt, dass das, was er an Paulini einst bewundert hatte, seinen Helden „zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab prädestinierte“, ein Besser-Ossitum, das auch eine Erklärung für die dortige Weltwut wäre. Aber das gilt ebenso für Schultze selbst, wenn er beklagt, einer Hybris erlegen zu sein, einer „Selbstüberhebung und Anmaßung“, die darin besteht, das eigene Schreiben „für etwas einsetzen, für etwas benutzen zu können, auch wenn dieses etwas die Liebe war“.
Doch damit nicht genug. Im abschließenden dritten Teil, der von der Schultzes Manuskript betreuenden Verlagslektorin erzählt wird, verwandelt sich die Künstlergeschichte in einen Kriminalroman und erfährt eine weitere, überraschende Wendung. So macht die raffinierte Anlage aus einer konventionellen, biografischen Erzählung ein höchst verblüffendes Unternehmen, bei dem am Ende nichts mehr so ist, wie es anfangs scheint, wo jede Figur fragwürdig geworden ist und sich unter dem kunstvoll eingezogenen doppelten Boden noch ein Abgrund öffnet. Ingo Schulze macht auf diese Weise mehr aus seinen literarischen Möglichkeiten, als eine plane Erzählung ihm erlaubt hätte, mehr auch, als dieser Schultze alleine vermocht hätte. Es wäre ein Wunder, wenn aus diesem trickreichen Roman, gestützt auch durch die Nominierung für den Leipziger Buchpreis, nicht ein Bestseller werden würde.
Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 320 S., 21 Euro
Paulini hat seine Welt verloren,
muss man sich wundern,
dass er auf Abwege gerät?
Schulze macht mehr aus seinen
literarischen Möglichkeiten, als
es Schultze vermocht hätte
Der Dresdner
Stadtteil Blasewitz im Jahr 1980 (oben), im Hintergrund die auch „Blaues Wunder“
genannte Brücke.
Dort spielt der
neue Roman von Ingo Schulze.
Foto: Catherina Hess
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im Abseits
Eben doch kein
konventioneller Schlüsselroman:
Ingo Schulzes Roman
„Die rechtschaffenen Mörder“
über einen Dresdner Eigenbrötler
auf politischen Abwegen
VON JÖRG MAGENAU
Der erste Satz schafft die Atmosphäre und lässt noch alles offen. Er ist die Tür in eine unbekannte Welt. Bei Ingo Schulze klingt der erste Satz wie der einer Novelle von Heinrich von Kleist: „Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.“
Ort und Zeit sind damit vorgegeben. „Einst“, das ist „Es war einmal“ und zugleich die DDR als Raum, in dem die Zeit stillstand. Blasewitz liegt an der Elbe, wo die blaue Brücke hinüberführt nach Loschwitz und von dort zum Weißen Hirsch, dem literarischen Terrain von Uwe Tellkamp. Es ist kein Zufall, dass Ingo Schulze seine Geschichte in dieser Nachbarschaft ansiedelt, spürt er doch der Frage nach, woher die Aggressionen, die Ängste und die Ausländerfeindlichkeit der Gegenwart stammen und wie es sein kann, dass gerade das ostdeutsche Bildungsbürgertum, wie Tellkamp es in seinem Roman „Der Turm“ geschildert hat, auf politische Abwege geraten ist und sich mit den Ressentiments der Pegida-Demonstranten vermählt. Schützt Bildung denn vor gar nichts?
Das Antiquariat als verwunschener Ort ist per se schon aus der Zeit gefallen, sodass man diesen Roman betritt wie die „Unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Doch wenn dort der emphatische Leser ein Junge ist, der mit einem gestohlenen Buch ins Reich Phantásien aufbricht, so ist der Leser hier der Antiquar selbst, Norbert Paulini, ein Mann, der weder jung noch alt zu sein scheint und von dem sich niemand vorstellen kann, dass er jemals anders ausgesehen haben könnte als heute. Das Setting ist absolut bestsellerverdächtig. Man braucht für einen Bestseller einen verschrobenen, aus der Zeit gefallenen Helden mit Überraschungspotenzial und am besten einen Leser oder eine Leserin wie in „Sophies Welt“, in der „Unendlichen Geschichte“ oder in „Der Vorleser“. Lesende lesen gerne von Lesern und greifen vorzugsweise zu Büchern, in denen Bücher vorkommen. Davon gibt es in „Die rechtschaffenen Mörder“ mehr als genug.
Bestsellerverdächtig ist auch der behäbige, konventionelle Tonfall, den Ingo Schulze anschlägt und der auch vor Binsenweisheiten nicht zurückschreckt: „Nur der uneigennützige Leser, der sich einem Buch vorbehaltlos und ganz und gar zu öffnen vermag, kann es in seiner Differenziertheit und Komplexität erfassen.“ Brav und bieder entfaltet er die Lebensgeschichte seines Antiquars, oder vielmehr lässt er einen Ich-Erzähler, der sich immer mal wieder zwischen den Zeilen zu erkennen gibt, davon berichten, allerdings so, dass man sich fragen muss: Woher weiß dieser Biograf das alles, wenn er aus der Kindheit berichtet, von den Bücherbergen der Mutter, den Wanderungen mit dem Vater im Riesengebirge, Schul- und Armeezeit, und immer und überall von den Büchern. Seine Bestimmung und seinen Lebensort fand Norbert Paulini, als Kind eher Außenseiter und Eigenbrötler, schließlich in seinem Antiquariat, das, 1977 eröffnet, zu einem Zufluchtsort für dissidentische Geister wurde, die dort Werkausgaben von Benn, Jünger, Kafka oder Bloch finden konnten und sich regelmäßig zu einer Samstagsrunde trafen, an der auch der merkwürdig indifferente Ich-Erzähler teilgenommen hat.
Dieses intellektuelle Nischendasein geht im Herbst 1989 mit der Wende verloren. Mit dem Markt bricht auch die Zeit in dieses schöne, abseitige Utopia ein; Bücher sind auf einmal nichts mehr wert. Sie sind nicht einmal mehr Ramsch, sondern Müll, der bei Paulini ausgekippt wird, weil die Kartons kostbarer sind als ihr Inhalt. Die Kunden bleiben aus, das Antiquariat geht in Konkurs und Paulinis Ehe in die Brüche, als sich herausstellt, dass seine Frau der Stasi über die Samstagrunden Bericht erstattet hat. Ingo Schulze zeigt, dass sich der Umbruch mit seinen wirtschaftlichen Verwerfungen und politischen Erregungen tatsächlich als Büchergeschichte schreiben lässt. Aus dem Antiquar wird, nach einer Episode als Kassierer im Supermarkt, schließlich ein Nachtportier, weil das eine Tätigkeit ist, die zu lesen erlaubt.
Aber Paulini hat seine Welt verloren, seinen Ort, seine Mitte, sein Leben. Muss man sich also wundern, wenn er auf Abwege gerät? In der Wendezeit hat er sich noch politisch abstinent verhalten. Seine Politik ist die Literatur, alles andere wäre Zeitverschwendung. Doch plötzlich gilt das nicht mehr. Er, der Zeitabgewandte, beginnt, sich einzumischen und mit Pegida zu sympathisieren.
Man darf Schulzes „Die rechtschaffenen Mörder“ jedoch nicht als schlichte Erklärung dieses spezifischen Dresdner Wutbürgertums lesen. Stattdessen dringt er zu der Erkenntnis vor, dass es „in unserer Welt schwer geworden ist, immer die Ursache für eine Wirkung zu finden.“ Einfache Antworten helfen schon gar nicht. Über die Wendezeit heißt es: „Alles war da wie eh und je, nur war es nicht mehr verwunschen, sondern erlöst.“ Von diesem Gefühl der Entzauberung der Welt ausgehend, gelingt es Schulze, die Sensibilität für die Verluste zu schärfen und zu begreifen, was die neue Zeit mit den Menschen anrichtet.
Es sind seit der Wende ja nicht nur romantische Illusionen auf der Strecke geblieben, sondern die Lebenssubstanz an Unmittelbarkeit und einer – wenn auch stasiüberwachten – Unantastbarkeit, die die Menschen als Freiheit erleben konnten, während die mediale Übermacht der Gegenwart ihnen als übergriffige Daueragitation erscheint. Freiheit ist nicht einfach nur eine Systemfrage, sondern ein Lebensgefühl, das sich auch innerhalb einer Diktatur im Abseits einigeln kann. Das lässt sich am Lebensweg von Ingo Schulzes Antiquar ablesen. Da geht es längst nicht mehr um den Osten, sondern um „die Bücher überhaupt, deren Wertschätzung und Unersetzlichkeit“. So werden aus den Dissidenten des Sozialismus die Dissidenten der Gegenwart, die das verteidigen, was sie liebten: ihre Nischenexistenz.
Soweit wäre der Roman aber immer noch eine zwar rechtschaffene und kluge, aber doch literarisch wenig aufregende Angelegenheit. Interessant wird das Buch erst im zweiten und im kurzen dritten Teil, wo die Erzählperspektive wechselt. Im zweiten Teil gibt sich der Ich-Erzähler zu erkennen und rekapituliert die Geschichte noch einmal aus seiner eigenen Perspektive. Das liest sich wie ein Kommentar zum ersten Teil, indem der fiktive Autor jetzt seine Absichten offenlegt. Dieser Schultze – mit tz – ist ein Schriftsteller aus der DDR, der nach der Wende einigermaßen erfolgreich wurde und schon lange die Biografie des Antiquars schreiben wollte. Dass er ein schlechterer Schriftsteller ist als Ingo Schulze, ist gewollt, bleibt aber doch ein Problem des Romans. Angetrieben wird er von einer Obsession: Er liebt die Frau, die die rechte Hand Paulinis im Antiquariat ist, und von der er fürchtet, sie sei auch dessen Geliebte. So hat er, während sie zwischen ihm in Berlin und Paulini in Sachsen hin- und herpendelt, keine ruhige Minute mehr. Das Schreiben ist seine Ausflucht, schreibend beruhigt er sich und macht sich die Welt so zurecht, dass sie erträglich bleibt.
Die Biografie des Antiquars – der Hauptteil des Romans – wird nun als Schultzes Werk deutlich und kippt damit aus dem Rahmen der Konventionalität, denn diesem Autor ist nicht zu trauen. Ingo Schulze liebt derlei literarische Spiele; schon in seinem großen Wenderoman „Neue Leben“ hat er mit einem fiktiven Herausgeber gearbeitet. Seinem Schultze gibt er dazu noch autobiografische Erfahrungen mit, wenn er ihn nach der Wende ein Anzeigenblatt in Altenburg gründen lässt. Auch davon handelte bereits „Neue Leben“. Es gibt also nicht nur den Autor, der über sein Schreiben und die Fragwürdigkeit biografischen Erzählens nachdenkt, nicht nur den Roman im Roman, sondern die literarischen Querverweise, bei denen man Ingo Schulze hinter diesem Schultze leise kichern hört.
Aus dem Bildungsroman wird damit ein Künstlerroman, in dem ein ostdeutscher Schriftsteller über die Bedingungen seines Schreibens und seinen Ort im kapitalistischen Literaturbetrieb nachdenkt. Ihm ist durchaus bewusst, dass er mit seinem Vorhaben, dem Dresdner Antiquar ein Denkmal zu setzen und sich der eigenen Ost-Herkunft zu vergewissern, gescheitert ist. Er erkennt, dass das, was er an Paulini einst bewundert hatte, seinen Helden „zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab prädestinierte“, ein Besser-Ossitum, das auch eine Erklärung für die dortige Weltwut wäre. Aber das gilt ebenso für Schultze selbst, wenn er beklagt, einer Hybris erlegen zu sein, einer „Selbstüberhebung und Anmaßung“, die darin besteht, das eigene Schreiben „für etwas einsetzen, für etwas benutzen zu können, auch wenn dieses etwas die Liebe war“.
Doch damit nicht genug. Im abschließenden dritten Teil, der von der Schultzes Manuskript betreuenden Verlagslektorin erzählt wird, verwandelt sich die Künstlergeschichte in einen Kriminalroman und erfährt eine weitere, überraschende Wendung. So macht die raffinierte Anlage aus einer konventionellen, biografischen Erzählung ein höchst verblüffendes Unternehmen, bei dem am Ende nichts mehr so ist, wie es anfangs scheint, wo jede Figur fragwürdig geworden ist und sich unter dem kunstvoll eingezogenen doppelten Boden noch ein Abgrund öffnet. Ingo Schulze macht auf diese Weise mehr aus seinen literarischen Möglichkeiten, als eine plane Erzählung ihm erlaubt hätte, mehr auch, als dieser Schultze alleine vermocht hätte. Es wäre ein Wunder, wenn aus diesem trickreichen Roman, gestützt auch durch die Nominierung für den Leipziger Buchpreis, nicht ein Bestseller werden würde.
Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 320 S., 21 Euro
Paulini hat seine Welt verloren,
muss man sich wundern,
dass er auf Abwege gerät?
Schulze macht mehr aus seinen
literarischen Möglichkeiten, als
es Schultze vermocht hätte
Der Dresdner
Stadtteil Blasewitz im Jahr 1980 (oben), im Hintergrund die auch „Blaues Wunder“
genannte Brücke.
Dort spielt der
neue Roman von Ingo Schulze.
Foto: Catherina Hess
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