Ein junger englischer Seemann besteigt in Bangkok ein Schiff für seine erste Fahrt als Kapitän. Doch schnell wird das Abenteuer zum Albtraum: Innerhalb der Mannschaft wütet das Tropenfieber, das Schiff gerät in eine Flaute und treibt tagelang nur noch im Kreis. Wollen die Männer überleben, muss der verträumte Protagonist Stärke zeigen und die »Schattenlinie« zwischen Jugend und Erwachsensein überqueren. Helmut Krauss leiht Joseph Conrads autobiografisch gefärbtem Roman seine ausdrucksstarke Stimme.Ungekürzte Lesung mit Helmut Krauss1 mp3-CD ca. 5 h 31 min
»Es ist unmöglich, sich dem Sog seiner Erzählung zu entziehen.« Alex Capus »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher [...] besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2017Bericht von der seelischen Grenze
Einer der großen Seeschriftsteller in einer hinreißenden Ausgabe: Joseph Conrads "Die Schattenlinie"
Die Buchausgabe des Romans "Die Schattenlinie" erschien vor ziemlich genau hundert Jahren, im April 1917. Joseph Conrad - mit bürgerlichem Namen Józef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski - greift darin Ereignisse aus seinem Seemannsleben auf, als er 1888 in Südostasien zum ersten und einzigen Mal als Kapitän ein Schiff befehligte. Das Spätwerk eines großen Schriftstellers also - Conrad starb 1924 -, der mit den Augen des Alters und des sesshaft Gewordenen auf ein prägendes Erlebnis des jungen Seemanns zurückschaut.
Zugleich pulsiert in diesem Buch die neue Zeit, und das ist der Erste Weltkrieg, in den auch Conrads Sohn Borys gezogen ist. (Das Buch ist ihm und seiner Generation gewidmet.) Also: eine Kriegsgeschichte in Form einer Seegeschichte? Auch das ließe sich vertreten, wenn man sie als Drama der Prüfung eines jungen Mannes liest. Plötzlich erkennt der namenlose Ich-Erzähler, dass seine Besatzung an Tropenfieber erkrankt ist und der Geist seines Vorgängers noch über die Schiffsplanken zu wehen scheint; der Arzt hat ihm im Hafen von Bangkok die ominöse Botschaft hinterlassen, das Fieber werde wiederkommen.
"Die Schattenlinie" zeigt einen Mann, der erstmals völlig auf sich allein gestellt ist und nach bohrenden Selbstbefragungen moralische Entscheidungen treffen muss, deren Tragweite er kaum überschauen kann. Auf die Handlung kommt es Joseph Conrad nur insoweit an, als sie ihm ein Sprungbrett für die weit ausgreifende psychologische Erkundung seiner Figuren liefert. Wie auch die Erzählung "Der geheime Teilhaber", die den Band vervollständigt und ihren Stoff aus derselben Lebensetappe schöpft, lebt "Die Schattenlinie" vom Innehalten und der Reflexion. Conrad dehnt die Zeit nach Belieben, eines der Markenzeichen seines Schreibens. Der Titel bezieht sich auf die seelische Grenze, die junge Leute mit dem Eintritt in die "bewusstere, auch bitterere Periode des reiferen Lebens" überschreiten.
Die deutsche Ausgabe ist musterhaft. Der Göttinger Anglist Daniel Göske hat nicht nur eine souveräne, leichtfüßige Übertragung geliefert, sondern auch ein kluges Nachwort geschrieben sowie ein Glossar zu nautischen Begriffen und eine fünfzigseitige Chronik zu Conrads Leben dazugestellt. In dieser Form leuchtet Conrads Kunst - die Vertiefung und Intensivierung der Psychologie, die Erfassung des krisenhaften Augenblicks - noch heller.
Joseph Conrad hat mehr für die moderne Romantechnik getan als andere, deren ostentative Modernität offen zutage liegt. Noch immer staunt man darüber, dass dieser Französisch sprechende Pole erst als junger Mann Englisch lernte - seinen starken osteuropäischen Akzent verlor er nie - und wohl nur durch die Liebe zu dieser Literatursprache zum Schriftsteller wurde.
Paul Ingendaay
Joseph Conrad: "Die Schattenlinie. Der geheime Teilhaber". Kommentiert und aus dem Englischen übersetzt von Daniel Göske. Hanser, 420 Seiten, 30 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einer der großen Seeschriftsteller in einer hinreißenden Ausgabe: Joseph Conrads "Die Schattenlinie"
Die Buchausgabe des Romans "Die Schattenlinie" erschien vor ziemlich genau hundert Jahren, im April 1917. Joseph Conrad - mit bürgerlichem Namen Józef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski - greift darin Ereignisse aus seinem Seemannsleben auf, als er 1888 in Südostasien zum ersten und einzigen Mal als Kapitän ein Schiff befehligte. Das Spätwerk eines großen Schriftstellers also - Conrad starb 1924 -, der mit den Augen des Alters und des sesshaft Gewordenen auf ein prägendes Erlebnis des jungen Seemanns zurückschaut.
Zugleich pulsiert in diesem Buch die neue Zeit, und das ist der Erste Weltkrieg, in den auch Conrads Sohn Borys gezogen ist. (Das Buch ist ihm und seiner Generation gewidmet.) Also: eine Kriegsgeschichte in Form einer Seegeschichte? Auch das ließe sich vertreten, wenn man sie als Drama der Prüfung eines jungen Mannes liest. Plötzlich erkennt der namenlose Ich-Erzähler, dass seine Besatzung an Tropenfieber erkrankt ist und der Geist seines Vorgängers noch über die Schiffsplanken zu wehen scheint; der Arzt hat ihm im Hafen von Bangkok die ominöse Botschaft hinterlassen, das Fieber werde wiederkommen.
"Die Schattenlinie" zeigt einen Mann, der erstmals völlig auf sich allein gestellt ist und nach bohrenden Selbstbefragungen moralische Entscheidungen treffen muss, deren Tragweite er kaum überschauen kann. Auf die Handlung kommt es Joseph Conrad nur insoweit an, als sie ihm ein Sprungbrett für die weit ausgreifende psychologische Erkundung seiner Figuren liefert. Wie auch die Erzählung "Der geheime Teilhaber", die den Band vervollständigt und ihren Stoff aus derselben Lebensetappe schöpft, lebt "Die Schattenlinie" vom Innehalten und der Reflexion. Conrad dehnt die Zeit nach Belieben, eines der Markenzeichen seines Schreibens. Der Titel bezieht sich auf die seelische Grenze, die junge Leute mit dem Eintritt in die "bewusstere, auch bitterere Periode des reiferen Lebens" überschreiten.
Die deutsche Ausgabe ist musterhaft. Der Göttinger Anglist Daniel Göske hat nicht nur eine souveräne, leichtfüßige Übertragung geliefert, sondern auch ein kluges Nachwort geschrieben sowie ein Glossar zu nautischen Begriffen und eine fünfzigseitige Chronik zu Conrads Leben dazugestellt. In dieser Form leuchtet Conrads Kunst - die Vertiefung und Intensivierung der Psychologie, die Erfassung des krisenhaften Augenblicks - noch heller.
Joseph Conrad hat mehr für die moderne Romantechnik getan als andere, deren ostentative Modernität offen zutage liegt. Noch immer staunt man darüber, dass dieser Französisch sprechende Pole erst als junger Mann Englisch lernte - seinen starken osteuropäischen Akzent verlor er nie - und wohl nur durch die Liebe zu dieser Literatursprache zum Schriftsteller wurde.
Paul Ingendaay
Joseph Conrad: "Die Schattenlinie. Der geheime Teilhaber". Kommentiert und aus dem Englischen übersetzt von Daniel Göske. Hanser, 420 Seiten, 30 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.06.2017Poseidon legt den Dreizack weg
Joseph Conrad nahm es erzählend mit der Bewegung auf, die wir heute Globalisierung nennen.
Nun ist sein autobiografisch grundierter Roman „Die Schattenlinie“ in einer neuen Übersetzung erschienen
VON LOTHAR MÜLLER
Wer, an welcher Stelle auch immer, in das Werk des Schriftstellers Joseph Conrad eintaucht, der wird bald an einen der Umschlagspunkte geraten, an denen die ältesten Figuren und Erzählmuster der Literatur sich in Gestalten der Gegenwart verwandeln oder umgekehrt. In nüchterne Geschäftsleute fährt der Wahn, mitten in der modernen Großstadt tauchen Gespenster auf, magische Kräfte verbergen sich in bürokratischen Verwaltungsakten.
Man nehme nur den Anfang des Romans „Sieg“ (1915), in dem es um die Doppelnatur der Kohle geht, des Grundstoffs der Industriellen Revolution, um ihre praktische und ihre mystische Seite. Aus der chemischen Verwandtschaft zwischen Kohle und den Diamanten, den mineralischen Äquivalenten verdichteten Reichtums, wird in den Zeiten der großen Aktiengesellschaften die Nähe der Kohlenflöze zur Welt des Finanzkapitals. Joseph Conrad braucht nur ein paar knappe Sätze, um dieser Nähe die Ausgangskonstellation seines Romans abzugewinnen: „Die Tropical Belt Coal Company ging in Liquidation. Die Welt der Finanzen ist eine rätselhafte Welt, in der, so unglaublich es scheinen mag, die Verdampfung der Verflüssigung vorausgeht. Zuerst verdampft das Kapital, und dannverflüssigt sich die Firma.“
Man muss diesen Doppelsinn von Liquidierung, das Zugleich von Verflüssigung und Vernichtung, und den Namen der Aktiengesellschaft im Ohr haben, um gegen das Klischee gewappnet zu sein, in dem Joseph Conrad der große Erzähler des Meeres ist, der Statthalter untergegangener Abenteuerwelten, ein später Nachfahre der alten Verbindung von Epik und Seefahrt. Er war aber kein Nachfahre, er war ein Vorfahr aller Literatur der Moderne, die es mit der Bewegung aufnimmt, die wir heute „Globalisierung“ nennen.
Conrad wurde 1857 in Polen, im damals russisch beherrschten Gebiet 150 km westlich von Kiew geboren und hat bis 1924 gelebt. Er hat während seiner Jugendjahre auf See viel von der Welt gesehen, ist zum Engländer und englischsprachigen Autor geworden. Seine Romane und Erzählungen führen in die tropischen Regionen des britischen Weltreiches, in seinem in London spielenden Roman „Der Geheimagent“ (1911), hat er das noch unausgereifte Instrument des Selbstmordattentats in die Darstellung einer modernen Metropole eingeschmolzen.
In seiner Reihe von Neuübersetzungen hat jetzt der Hanser Verlag Conrads autobiografisch grundierten Roman „Die Schattenlinie“ (1917) und die große Erzählung „Der geheime Teilhaber“ (1909/10) zusammengespannt. Beide handeln von jungen Kapitänen, die bei ihrem ersten Kommando in innere und äußere Turbulenzen geraten, beide sind grandiose Beispiele für die Kunst Joseph Conrads, alte Erzählmuster in der Darstellung aktueller Erfahrungen der technisch-zivilisatorischen Modernisierung mit neuem Glanz zu versehen.
Dafür, dass er wusste, was er tat, spricht die Ironie, die er häufig seinen Erzählern in den Mund legt. Hier ist es in beiden Fällen ein Ich-Erzähler, bei dem das Publikum gut beraten ist, wenn es ihm nicht allzu leichtgläubig gegenübertritt. Eine auffällig lange Exposition erlaubt es dem Leser der „Schattenlinie“, den jungen Ich-Erzähler zu beobachten, ehe er in Bangkok das ihm anvertraute Segelschiff übernimmt. „A Confession“, so lautete der Untertitel. Der Anglist Daniel Göske, der diese Neuübersetzung mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat, einer Datenleiste zu Werk und Leben Conrads sowie einem interpretierenden Nachwort versehen hat, entscheidet sich für „Ein Bekenntnis“. Das ist profaner als die „Beichte“ mancher älteren Übersetzung, aber wer will, kann dennoch die religiöse Dimension heraushören, die von Augustinus bis Rousseau in den „Bekenntnissen“ mitschwingt.
Die Schattenlinie, die der Ich-Erzähler, der als erwachsener Mann auf sein Leben zurückblickt, überqueren muss, begrenzt das Reich der frühen Jugend, in dem die Zukunft „ein noch unentdecktes Land“ ist, eine Sphäre der Verheißung und Verführung. Die Passage, die über diese Linie hinwegführt, ist das erste Kapitäns-Kommando, das dem noch jungen Seemann im Hafenamt einer Stadt übertragen wird, die sich als Singapur entschlüsseln lässt.
Über den autobiografischen Kern des Romans, das Kommando der eisernen Dreimastbark „Otago“, das Joseph Conrad Anfang 1888 in Bangkok übernahm, informiert der Anhang dieser Ausgabe ausführlich. Und auch über die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, die in den Ende 1915 in der Erstfassung vollendeten Roman ein ging. Der polnische Regisseur Andrzej Wajda hat in seiner Verfilmung der „Schattenlinie“ den Helden „Joseph Conrad“ genannt. Zu Recht weist aber der Übersetzer auf die Details hin, in denen sich Conrad von diesem Kern löst, um für die Passage seines Helden durch die Untiefen der Windstille, der Krankheit und des drohenden Selbstverlustes einen weltliterarischen Echoraum entwerfen zu können.
Zu diesem Echoraum gehört der Chef des Hafenamtes, der den jungen Seemann mit seinem ersten Kommando betraut. „Kapitän Ellis betrachtete sich als eine Art göttliche (heidnische) Emanation: als Provinzposeidon der umliegenden Meere. Gebot er auch nicht wirklich über die Wellen, so gab er doch vor, dem Schicksal jener Sterblichen zu gebieten, die da über das Wasser fahren müssen.“
Dieser moderne Poseidon ist für Joseph Conrad überaus charakteristisch. Weil er nicht mehr wirklich über die Wellen gebietet, braucht er seinen mythischen Dreizack nicht mehr. Und auch nicht seinen wellenartig herabwallenden Bart. Was er braucht, ist ein Büro und ein Schreibtisch. „Unser Provinzposeidon trug am Kinn keinen Bart, und nirgendwo stand da ein Dreizack in der Ecke wie ein Schirm. Aber in seiner Hand lag ein Federhalter – der amtliche Federhalter, der, weit mächtiger noch als das Schwert, über das Wohl und Wehe einfacher, geplagter Männer entschied.“
Das Wirken mythischer Kräfte in der modernen Welt prägt den Roman. Das Schiff hat eine moderne Apotheke, aber es geht darin nicht mit rechten Dingen zu. Der junge Kapitän glaubt nicht an Gespenster, aber sein verstorbener Vorgänger spukt an Deck, vor allem in Gestalt des Ersten Offiziers, der die Grabstelle des toten Kapitäns – 8° 20’ nördliche Breite – zur Risikozone erklärt. Am Ende entkommt der junge Kapitän der Krankheit, die fast die gesamte Mannschaft ergreift, den Flauten und Riffen. Und es erweist sich, dass die Ausfertigung seines Kommandos die letzte Amtshandlung des Provinzposeidon vor seinem Tod war.
In der Erzählung „Der geheime Teilhaber“ (1909) ist ein Motiv gestaltet, das wie das erste Kommando beide Texte verbindet: die Fremdheit, die der junge Kapitän gegenüber Schiff und Besatzung überwinden muss, ehe er in der Lage ist, das ihm übertragene Patent mit Leben zu erfüllen. In dieser Erzählung versteckt der junge Kapitän einen Seemann, der auf einem benachbarten Schiff einen Matrosen erschlagen hat, sowohl vor seinen Verfolgern von außen wie vor der eigenen Mannschaft.
Auch hier spielt die Windstille eine große Rolle, ehe sich der Kapitän durch ein riskantes Manöver aus seiner prekären Lage befreit. Der blinde Passagier ist nicht irgendein Fremder. Er ist das „alter ego“, des Ich-Erzählers, und Conrad macht daraus eine der faszinierendsten Doppelgänger-Geschichten der modernen Literatur, ohne je die undurchsichtigen Motive, die den jungen Kapitän zur Verwandlung seiner Kajüte und seines Bettes in ein Versteck treiben, durchsichtig zu machen.
Leicht lässt sich die vereindeutigende Lesart herstellen, „Der geheime Teilhaber“ handle von einer homosexuellen Initiation. Aber hier wie so oft bei Conrad gibt es zwar an Bord keine Frauen, aber das Schiff – im Englischen stets „she“ – ist nicht nur zwischen den Zeilen das Objekt der Obsession des jungen Kapitäns, die Geliebte, die er am Ende erobert. Wie in der „Schattenlinie“ ist diese Liebesgeschichte in den Epochenumbruch eingelassen, der im erzählerischen Kosmos Conrads auf Schritt und Tritt begegnet, den Übergang vom Zeitalter der Segelschifffahrt in die Ära der Dampfschiffe. Nicht von ungefähr gibt der junge Seemann zu Beginn der „Schattenlinie“ scheinbar unmotiviert seinen Posten auf einem Dampfschiff auf. Er ist eine der Figuren, in denen Conrad die Segelschifffahrt kurz vor ihrem Ende noch einmal aufglänzen lässt.
Der Übersetzer Daniel Göske hat die erotische Dimension beider Texte akzentuiert, er hat zudem manche biblischen Anspielungen in Text und Kommentar deutlich gemacht und mit einer Entschlossenheit, über die sich debattieren ließe, das nautische Fachvokabular geradezu demonstrativ hervorgekehrt, zum Beispiel den „Hellegat“ (Vorratsraum unter Deck) oder die „Poop“ (Aufbau auf dem hinteren Teil des Achterdecks). Für seine philologischen Erläuterungen wäre man noch dankbarer, wenn er darauf verzichtet hätte, alle paar Minuten seine Vorgänger unter den Übersetzern der „Schattenlinie“ an Deck zu zitieren, um ihnen Unzulänglichkeit und Ungenauigkeiten vorzuhalten.
Warum urteilt so häufig bei aktuellen Klassiker-Neuübersetzungen eine Generation, die sich mit der Hochleistungsphilologie verbündet hat, so streng über Literaten, die das Übersetzen als Nebenberuf betrieben, meist ohne feste Stelle, ohne Stipendien, ohne Übersetzerpreise und Übersetzercolloquien? Wohl nicht nur, weil jede Klassiker-Neuübersetzung sich legitimieren muss. Im Zuge der Professionalisierung des Übersetzens streift der Übersetzer derzeit die Personalunion mit dem Literaten ab. Er wird zur eigenständigen Figur, tritt nicht mehr nur als Vermittler von Autoren auf, sondern selber als Autor. Dieser neue Autortyp ist jetzt dort, wo die Klassiker am Ende des 18. Jahrhunderts waren. Er will freier Autor sein. Dazu braucht es Verve und Strenge. Aber er gedenke seiner Vorläufer mit Nachsicht.
Joseph Conrad: Die Schattenlinie. Ein Bekenntnis. Herausgegeben und übersetzt von Daniel Göske. Carl Hanser Verlag, München 2017. 420 Seiten, 30 Euro. E-Book 20,99 Euro.
Die Schattenlinie, die der
Ich-Erzähler überqueren muss,
begrenzt das Reich der Jugend
Der junge Kapitän glaubt nicht
an Gespenster. Sein Erster
Offizier sieht die Toten spuken
Warum gehen die Neuübersetzer
klassischer Werke häufig so
streng mit ihren Vorläufern um?
Der polnische Regisseur
Andrzej Wajda hat
Joseph Conrads
„Die Schattenlinie“ 1976 verfilmt. Man sieht der krankheitsgeschwächten Crew an, dass ihr
Schiff das Zeug zum
Totenschiff hat.
Fotos: Shutterstock, imago
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Joseph Conrad nahm es erzählend mit der Bewegung auf, die wir heute Globalisierung nennen.
Nun ist sein autobiografisch grundierter Roman „Die Schattenlinie“ in einer neuen Übersetzung erschienen
VON LOTHAR MÜLLER
Wer, an welcher Stelle auch immer, in das Werk des Schriftstellers Joseph Conrad eintaucht, der wird bald an einen der Umschlagspunkte geraten, an denen die ältesten Figuren und Erzählmuster der Literatur sich in Gestalten der Gegenwart verwandeln oder umgekehrt. In nüchterne Geschäftsleute fährt der Wahn, mitten in der modernen Großstadt tauchen Gespenster auf, magische Kräfte verbergen sich in bürokratischen Verwaltungsakten.
Man nehme nur den Anfang des Romans „Sieg“ (1915), in dem es um die Doppelnatur der Kohle geht, des Grundstoffs der Industriellen Revolution, um ihre praktische und ihre mystische Seite. Aus der chemischen Verwandtschaft zwischen Kohle und den Diamanten, den mineralischen Äquivalenten verdichteten Reichtums, wird in den Zeiten der großen Aktiengesellschaften die Nähe der Kohlenflöze zur Welt des Finanzkapitals. Joseph Conrad braucht nur ein paar knappe Sätze, um dieser Nähe die Ausgangskonstellation seines Romans abzugewinnen: „Die Tropical Belt Coal Company ging in Liquidation. Die Welt der Finanzen ist eine rätselhafte Welt, in der, so unglaublich es scheinen mag, die Verdampfung der Verflüssigung vorausgeht. Zuerst verdampft das Kapital, und dannverflüssigt sich die Firma.“
Man muss diesen Doppelsinn von Liquidierung, das Zugleich von Verflüssigung und Vernichtung, und den Namen der Aktiengesellschaft im Ohr haben, um gegen das Klischee gewappnet zu sein, in dem Joseph Conrad der große Erzähler des Meeres ist, der Statthalter untergegangener Abenteuerwelten, ein später Nachfahre der alten Verbindung von Epik und Seefahrt. Er war aber kein Nachfahre, er war ein Vorfahr aller Literatur der Moderne, die es mit der Bewegung aufnimmt, die wir heute „Globalisierung“ nennen.
Conrad wurde 1857 in Polen, im damals russisch beherrschten Gebiet 150 km westlich von Kiew geboren und hat bis 1924 gelebt. Er hat während seiner Jugendjahre auf See viel von der Welt gesehen, ist zum Engländer und englischsprachigen Autor geworden. Seine Romane und Erzählungen führen in die tropischen Regionen des britischen Weltreiches, in seinem in London spielenden Roman „Der Geheimagent“ (1911), hat er das noch unausgereifte Instrument des Selbstmordattentats in die Darstellung einer modernen Metropole eingeschmolzen.
In seiner Reihe von Neuübersetzungen hat jetzt der Hanser Verlag Conrads autobiografisch grundierten Roman „Die Schattenlinie“ (1917) und die große Erzählung „Der geheime Teilhaber“ (1909/10) zusammengespannt. Beide handeln von jungen Kapitänen, die bei ihrem ersten Kommando in innere und äußere Turbulenzen geraten, beide sind grandiose Beispiele für die Kunst Joseph Conrads, alte Erzählmuster in der Darstellung aktueller Erfahrungen der technisch-zivilisatorischen Modernisierung mit neuem Glanz zu versehen.
Dafür, dass er wusste, was er tat, spricht die Ironie, die er häufig seinen Erzählern in den Mund legt. Hier ist es in beiden Fällen ein Ich-Erzähler, bei dem das Publikum gut beraten ist, wenn es ihm nicht allzu leichtgläubig gegenübertritt. Eine auffällig lange Exposition erlaubt es dem Leser der „Schattenlinie“, den jungen Ich-Erzähler zu beobachten, ehe er in Bangkok das ihm anvertraute Segelschiff übernimmt. „A Confession“, so lautete der Untertitel. Der Anglist Daniel Göske, der diese Neuübersetzung mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat, einer Datenleiste zu Werk und Leben Conrads sowie einem interpretierenden Nachwort versehen hat, entscheidet sich für „Ein Bekenntnis“. Das ist profaner als die „Beichte“ mancher älteren Übersetzung, aber wer will, kann dennoch die religiöse Dimension heraushören, die von Augustinus bis Rousseau in den „Bekenntnissen“ mitschwingt.
Die Schattenlinie, die der Ich-Erzähler, der als erwachsener Mann auf sein Leben zurückblickt, überqueren muss, begrenzt das Reich der frühen Jugend, in dem die Zukunft „ein noch unentdecktes Land“ ist, eine Sphäre der Verheißung und Verführung. Die Passage, die über diese Linie hinwegführt, ist das erste Kapitäns-Kommando, das dem noch jungen Seemann im Hafenamt einer Stadt übertragen wird, die sich als Singapur entschlüsseln lässt.
Über den autobiografischen Kern des Romans, das Kommando der eisernen Dreimastbark „Otago“, das Joseph Conrad Anfang 1888 in Bangkok übernahm, informiert der Anhang dieser Ausgabe ausführlich. Und auch über die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, die in den Ende 1915 in der Erstfassung vollendeten Roman ein ging. Der polnische Regisseur Andrzej Wajda hat in seiner Verfilmung der „Schattenlinie“ den Helden „Joseph Conrad“ genannt. Zu Recht weist aber der Übersetzer auf die Details hin, in denen sich Conrad von diesem Kern löst, um für die Passage seines Helden durch die Untiefen der Windstille, der Krankheit und des drohenden Selbstverlustes einen weltliterarischen Echoraum entwerfen zu können.
Zu diesem Echoraum gehört der Chef des Hafenamtes, der den jungen Seemann mit seinem ersten Kommando betraut. „Kapitän Ellis betrachtete sich als eine Art göttliche (heidnische) Emanation: als Provinzposeidon der umliegenden Meere. Gebot er auch nicht wirklich über die Wellen, so gab er doch vor, dem Schicksal jener Sterblichen zu gebieten, die da über das Wasser fahren müssen.“
Dieser moderne Poseidon ist für Joseph Conrad überaus charakteristisch. Weil er nicht mehr wirklich über die Wellen gebietet, braucht er seinen mythischen Dreizack nicht mehr. Und auch nicht seinen wellenartig herabwallenden Bart. Was er braucht, ist ein Büro und ein Schreibtisch. „Unser Provinzposeidon trug am Kinn keinen Bart, und nirgendwo stand da ein Dreizack in der Ecke wie ein Schirm. Aber in seiner Hand lag ein Federhalter – der amtliche Federhalter, der, weit mächtiger noch als das Schwert, über das Wohl und Wehe einfacher, geplagter Männer entschied.“
Das Wirken mythischer Kräfte in der modernen Welt prägt den Roman. Das Schiff hat eine moderne Apotheke, aber es geht darin nicht mit rechten Dingen zu. Der junge Kapitän glaubt nicht an Gespenster, aber sein verstorbener Vorgänger spukt an Deck, vor allem in Gestalt des Ersten Offiziers, der die Grabstelle des toten Kapitäns – 8° 20’ nördliche Breite – zur Risikozone erklärt. Am Ende entkommt der junge Kapitän der Krankheit, die fast die gesamte Mannschaft ergreift, den Flauten und Riffen. Und es erweist sich, dass die Ausfertigung seines Kommandos die letzte Amtshandlung des Provinzposeidon vor seinem Tod war.
In der Erzählung „Der geheime Teilhaber“ (1909) ist ein Motiv gestaltet, das wie das erste Kommando beide Texte verbindet: die Fremdheit, die der junge Kapitän gegenüber Schiff und Besatzung überwinden muss, ehe er in der Lage ist, das ihm übertragene Patent mit Leben zu erfüllen. In dieser Erzählung versteckt der junge Kapitän einen Seemann, der auf einem benachbarten Schiff einen Matrosen erschlagen hat, sowohl vor seinen Verfolgern von außen wie vor der eigenen Mannschaft.
Auch hier spielt die Windstille eine große Rolle, ehe sich der Kapitän durch ein riskantes Manöver aus seiner prekären Lage befreit. Der blinde Passagier ist nicht irgendein Fremder. Er ist das „alter ego“, des Ich-Erzählers, und Conrad macht daraus eine der faszinierendsten Doppelgänger-Geschichten der modernen Literatur, ohne je die undurchsichtigen Motive, die den jungen Kapitän zur Verwandlung seiner Kajüte und seines Bettes in ein Versteck treiben, durchsichtig zu machen.
Leicht lässt sich die vereindeutigende Lesart herstellen, „Der geheime Teilhaber“ handle von einer homosexuellen Initiation. Aber hier wie so oft bei Conrad gibt es zwar an Bord keine Frauen, aber das Schiff – im Englischen stets „she“ – ist nicht nur zwischen den Zeilen das Objekt der Obsession des jungen Kapitäns, die Geliebte, die er am Ende erobert. Wie in der „Schattenlinie“ ist diese Liebesgeschichte in den Epochenumbruch eingelassen, der im erzählerischen Kosmos Conrads auf Schritt und Tritt begegnet, den Übergang vom Zeitalter der Segelschifffahrt in die Ära der Dampfschiffe. Nicht von ungefähr gibt der junge Seemann zu Beginn der „Schattenlinie“ scheinbar unmotiviert seinen Posten auf einem Dampfschiff auf. Er ist eine der Figuren, in denen Conrad die Segelschifffahrt kurz vor ihrem Ende noch einmal aufglänzen lässt.
Der Übersetzer Daniel Göske hat die erotische Dimension beider Texte akzentuiert, er hat zudem manche biblischen Anspielungen in Text und Kommentar deutlich gemacht und mit einer Entschlossenheit, über die sich debattieren ließe, das nautische Fachvokabular geradezu demonstrativ hervorgekehrt, zum Beispiel den „Hellegat“ (Vorratsraum unter Deck) oder die „Poop“ (Aufbau auf dem hinteren Teil des Achterdecks). Für seine philologischen Erläuterungen wäre man noch dankbarer, wenn er darauf verzichtet hätte, alle paar Minuten seine Vorgänger unter den Übersetzern der „Schattenlinie“ an Deck zu zitieren, um ihnen Unzulänglichkeit und Ungenauigkeiten vorzuhalten.
Warum urteilt so häufig bei aktuellen Klassiker-Neuübersetzungen eine Generation, die sich mit der Hochleistungsphilologie verbündet hat, so streng über Literaten, die das Übersetzen als Nebenberuf betrieben, meist ohne feste Stelle, ohne Stipendien, ohne Übersetzerpreise und Übersetzercolloquien? Wohl nicht nur, weil jede Klassiker-Neuübersetzung sich legitimieren muss. Im Zuge der Professionalisierung des Übersetzens streift der Übersetzer derzeit die Personalunion mit dem Literaten ab. Er wird zur eigenständigen Figur, tritt nicht mehr nur als Vermittler von Autoren auf, sondern selber als Autor. Dieser neue Autortyp ist jetzt dort, wo die Klassiker am Ende des 18. Jahrhunderts waren. Er will freier Autor sein. Dazu braucht es Verve und Strenge. Aber er gedenke seiner Vorläufer mit Nachsicht.
Joseph Conrad: Die Schattenlinie. Ein Bekenntnis. Herausgegeben und übersetzt von Daniel Göske. Carl Hanser Verlag, München 2017. 420 Seiten, 30 Euro. E-Book 20,99 Euro.
Die Schattenlinie, die der
Ich-Erzähler überqueren muss,
begrenzt das Reich der Jugend
Der junge Kapitän glaubt nicht
an Gespenster. Sein Erster
Offizier sieht die Toten spuken
Warum gehen die Neuübersetzer
klassischer Werke häufig so
streng mit ihren Vorläufern um?
Der polnische Regisseur
Andrzej Wajda hat
Joseph Conrads
„Die Schattenlinie“ 1976 verfilmt. Man sieht der krankheitsgeschwächten Crew an, dass ihr
Schiff das Zeug zum
Totenschiff hat.
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