England im Jahre 1327. Es ist der Tag nach Allerheiligen. In der Stadt Kingsbridge trifft sich im Schatten der Kathedrale das Volk. Vier Kinder flüchten vor dem Trubel in den nahe gelegenen Wald. Dort werden sie Zeugen eines Kampfes und eines tödlichen Geheimnisses. Merthin, ein Nachfahre von Jack Builder, dem Erbauer der Kathedrale, hat dessen Genie und rebellische Natur geerbt. Sein starker Bruder Ralph strebt den Aufstieg in die Ritterschaft an. Caris, Tochter eines Wollhändlers, hat den Traum, Arzt zu werden. Gwenda, Kind eines Taglöhners, will nur ihrer Liebe folgen. Und da ist noch Godwyn, Caris' Vetter, ein junger Mönch, der entschlossen ist, Prior von Kingsbridge zu werden. Koste es, was es wolle. Ehrgeiz und Liebe, Stolz und Rache werden den Weg dieser Menschen bestimmen. Pest und Krieg werden ihnen das Liebste nehmen, was sie besitzen. Glück und Unglück werden sie begleiten Doch sie werden die Hoffnung niemals aufgeben. Und immer wird der Schwur sie verfolgen, den sie an jenem schicksalhaften Tage leisteten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2008Von Nonnen und Rittern
Da ist alles drin: Ein neuer Schinken von Ken Follett
Manche Autoren sind einfach eine sichere Bank. Ken Follett ist so einer: Seit "Die Nadel" kauft die Thriller-Fangemeinde jede Neuerscheinung. Nur die Anhänger seines Historienschmökers "Die Säulen der Erde" scharren seit nunmehr neunzehn Jahren vernachlässigt und ungeduldig mit den Hufen: Schreibt er nicht vielleicht doch eine Fortsetzung? Und wann endlich?
Jetzt ist die Fortsetzung da, und noch bevor man überhaupt die erste Seite aufblättert, ist klar: Sie wird sich phantastisch verkaufen. 3,8 Millionen Exemplare wurden vom Vorgänger allein im deutschsprachigen Raum verkauft, und schnell vergessen haben die Leser das Werk auch nicht. Bei der ZDF-Sendung "Unsere Besten" wählten sie es 2004 auf Rang drei ihrer Lieblingsbücher - nach der Bibel und dem "Herrn der Ringe", um dessen Verfilmung damals ein großes Getue gemacht wurde. "Die Tore der Welt", das mit einer Auflage von einer halben Million Exemplaren veröffentlicht wird, fällt also auch noch etliche Jahre später auf fruchtbaren Boden.
Hinzu kommt, dass Follett damals nicht etwa zufällig eine schreiberische Sternstunde hatte. Der Brite schreibt seit Jahren wie ein Soldat zu festen Zeiten, legt zu Beginn Storyboard, Seitenanzahl und Zeitplan bis zur Drucklegung fest. Für ein Schwanken zwischen Genie und Wahnsinn ist da kein Platz. Follett ist ein Handwerker, der weiß, dass die meisten seiner Leser eine Sprache schätzen, die von der Geschichte nicht ablenkt. Es gibt keine Metaphern, keine Schwelgereien, keine ungewöhnlichen Wörter. Dafür drückt der Autor sich gerne und häufig plastisch aus. Sei es eine der etlichen, detaillierten Sexszenen, sei es die minutiös dargelegte Häutung eines Mannes auf dem Richtplatz - als Erzähler schreckt Follett vor nichts zurück.
Allerdings sind es diesmal andere Figuren, an deren Intim- und sonstigem Leben wir teilhaben. Die Protagonisten von "Die Säulen der Erde" kamen nicht für eine Fortsetzung in Frage, da sie entweder im Laufe der Romans starben oder am Ende zu alt waren für einen weiteren Schmöker. Daher übersprang Follett zweihundert Jahre und stellt nun die Nachfahren der Originale in den Mittelpunkt des Geschehens. Für diese macht er ein großes Fass auf: Von Baukunst über Krieg, Entwicklung der modernen Medizin, Kirchenkritik und Unterdrückung der Bauern bis hin zum Ungleichgewicht zwischen geistlichen und weltlichen Herren ist alles dabei, was das Mittelalter bewegte. In Anbetracht dieses thematischen Rundumschlags rechtfertigt sich auch der Umfang - wenn man dieses Buch gelesen hat, muss man nie wieder einen Roman über England im vierzehnten Jahrhundert in die Hand nehmen. Doch Follett schreibt nicht nur umfangreich, sondern auch informativ. Drei Historiker waren mit der Verifizierung der geschichtlichen Details betraut; Folletts eigene Recherchen gingen dem voraus. Wie ein Drittel der Bevölkerung durch die Pest dahingerafft wird und die Überlebenden das Vertrauen in eine Medizin verlieren, die aus Breiumschlägen und Aderlässen besteht, ist anschaulich erzählt und historisch belegt.
Die geschichtlichen Details verbindet der Autor mit seinen so zahlreichen wie unterschiedlichen Hauptfiguren. Da ist zum einen Caris, die ins Kloster gehen muss, um einer Verbrennung als Hexe zu entgehen - an ihr entwickelt sich der Medizin-Strang. Ihr Geliebter Merthin ist Architekt, perfektioniert Fundamente und beschäftigt sich mit europäischen Baustilen. An der Dörflerin Gwenda zeigt sich die extreme Armut der Leibeigenen, der unbeherrschte Ritter Ralph bildet den Gegenpol dazu: Der Adel darf weitgehend unkontrolliert morden, vergewaltigen und Macht ausüben. Die Kirchenvertreter kommen ganz schlecht weg, werden sie doch verkörpert von den intriganten Mönchen Philemon und Godwyn. Von Letzterem behaupteten zahlreiche britische Rezensenten, Ken Follett habe ihn Tony Blair nachempfunden. "Denken Sie an den Politiker, den Sie am wenigsten mögen - dann haben Sie Godwyn", erklärte Labour-Mitglied Follett daraufhin süffisant. Er habe durchaus auch an Tony Blair gedacht.
Vielleicht gehören die negativen Figuren deshalb zu den plastischsten. Merthin dagegen bleibt eher blass. Das liegt auch daran, dass er im Schatten von Caris steht. Einmal mehr hat Follett eine Frau zu seiner Heldin bestimmt und ihr eine Karriere angedichtet, die kaum noch als realistisch gelten kann. Durch ihre Entschlossenheit steigt Caris zur Leiterin des Nonnen- und sogar des Mönchsklosters auf, bekämpft die Pest, baut ein Hospital, verliert es wieder, schreibt ein Buch über Heilmethoden und entgeht immer wieder ihren einflussreichen Feinden, die sie eher heute als morgen am Galgen sehen möchten.
Man kann dieses Genre für trivial halten oder nicht - gut gemacht ist "Die Tore der Welt" allemal. Auch wenn die Geschichte eine Weile braucht, um in die Gänge zu kommen, wird ihr Fortgang doch bald interessant genug, um immer wieder eine Seite umzublättern. Wenn es also ein historischer Roman sein soll, ist man mit diesem gut bedient. Oder eben mit dem Vorgänger: Die amerikanische Moderatorin Oprah Winfrey wählte "Die Säulen der Erde" gerade als Empfehlung ihres Buchclubs.
JULIA BÄHR
Ken Follett: "Die Tore der Welt". Roman.
Aus dem Englischen übersetzt von Rainer
Schumacher und Dietmar Schmidt. Illustrationen von Jan Balaz. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2008. 1120 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Da ist alles drin: Ein neuer Schinken von Ken Follett
Manche Autoren sind einfach eine sichere Bank. Ken Follett ist so einer: Seit "Die Nadel" kauft die Thriller-Fangemeinde jede Neuerscheinung. Nur die Anhänger seines Historienschmökers "Die Säulen der Erde" scharren seit nunmehr neunzehn Jahren vernachlässigt und ungeduldig mit den Hufen: Schreibt er nicht vielleicht doch eine Fortsetzung? Und wann endlich?
Jetzt ist die Fortsetzung da, und noch bevor man überhaupt die erste Seite aufblättert, ist klar: Sie wird sich phantastisch verkaufen. 3,8 Millionen Exemplare wurden vom Vorgänger allein im deutschsprachigen Raum verkauft, und schnell vergessen haben die Leser das Werk auch nicht. Bei der ZDF-Sendung "Unsere Besten" wählten sie es 2004 auf Rang drei ihrer Lieblingsbücher - nach der Bibel und dem "Herrn der Ringe", um dessen Verfilmung damals ein großes Getue gemacht wurde. "Die Tore der Welt", das mit einer Auflage von einer halben Million Exemplaren veröffentlicht wird, fällt also auch noch etliche Jahre später auf fruchtbaren Boden.
Hinzu kommt, dass Follett damals nicht etwa zufällig eine schreiberische Sternstunde hatte. Der Brite schreibt seit Jahren wie ein Soldat zu festen Zeiten, legt zu Beginn Storyboard, Seitenanzahl und Zeitplan bis zur Drucklegung fest. Für ein Schwanken zwischen Genie und Wahnsinn ist da kein Platz. Follett ist ein Handwerker, der weiß, dass die meisten seiner Leser eine Sprache schätzen, die von der Geschichte nicht ablenkt. Es gibt keine Metaphern, keine Schwelgereien, keine ungewöhnlichen Wörter. Dafür drückt der Autor sich gerne und häufig plastisch aus. Sei es eine der etlichen, detaillierten Sexszenen, sei es die minutiös dargelegte Häutung eines Mannes auf dem Richtplatz - als Erzähler schreckt Follett vor nichts zurück.
Allerdings sind es diesmal andere Figuren, an deren Intim- und sonstigem Leben wir teilhaben. Die Protagonisten von "Die Säulen der Erde" kamen nicht für eine Fortsetzung in Frage, da sie entweder im Laufe der Romans starben oder am Ende zu alt waren für einen weiteren Schmöker. Daher übersprang Follett zweihundert Jahre und stellt nun die Nachfahren der Originale in den Mittelpunkt des Geschehens. Für diese macht er ein großes Fass auf: Von Baukunst über Krieg, Entwicklung der modernen Medizin, Kirchenkritik und Unterdrückung der Bauern bis hin zum Ungleichgewicht zwischen geistlichen und weltlichen Herren ist alles dabei, was das Mittelalter bewegte. In Anbetracht dieses thematischen Rundumschlags rechtfertigt sich auch der Umfang - wenn man dieses Buch gelesen hat, muss man nie wieder einen Roman über England im vierzehnten Jahrhundert in die Hand nehmen. Doch Follett schreibt nicht nur umfangreich, sondern auch informativ. Drei Historiker waren mit der Verifizierung der geschichtlichen Details betraut; Folletts eigene Recherchen gingen dem voraus. Wie ein Drittel der Bevölkerung durch die Pest dahingerafft wird und die Überlebenden das Vertrauen in eine Medizin verlieren, die aus Breiumschlägen und Aderlässen besteht, ist anschaulich erzählt und historisch belegt.
Die geschichtlichen Details verbindet der Autor mit seinen so zahlreichen wie unterschiedlichen Hauptfiguren. Da ist zum einen Caris, die ins Kloster gehen muss, um einer Verbrennung als Hexe zu entgehen - an ihr entwickelt sich der Medizin-Strang. Ihr Geliebter Merthin ist Architekt, perfektioniert Fundamente und beschäftigt sich mit europäischen Baustilen. An der Dörflerin Gwenda zeigt sich die extreme Armut der Leibeigenen, der unbeherrschte Ritter Ralph bildet den Gegenpol dazu: Der Adel darf weitgehend unkontrolliert morden, vergewaltigen und Macht ausüben. Die Kirchenvertreter kommen ganz schlecht weg, werden sie doch verkörpert von den intriganten Mönchen Philemon und Godwyn. Von Letzterem behaupteten zahlreiche britische Rezensenten, Ken Follett habe ihn Tony Blair nachempfunden. "Denken Sie an den Politiker, den Sie am wenigsten mögen - dann haben Sie Godwyn", erklärte Labour-Mitglied Follett daraufhin süffisant. Er habe durchaus auch an Tony Blair gedacht.
Vielleicht gehören die negativen Figuren deshalb zu den plastischsten. Merthin dagegen bleibt eher blass. Das liegt auch daran, dass er im Schatten von Caris steht. Einmal mehr hat Follett eine Frau zu seiner Heldin bestimmt und ihr eine Karriere angedichtet, die kaum noch als realistisch gelten kann. Durch ihre Entschlossenheit steigt Caris zur Leiterin des Nonnen- und sogar des Mönchsklosters auf, bekämpft die Pest, baut ein Hospital, verliert es wieder, schreibt ein Buch über Heilmethoden und entgeht immer wieder ihren einflussreichen Feinden, die sie eher heute als morgen am Galgen sehen möchten.
Man kann dieses Genre für trivial halten oder nicht - gut gemacht ist "Die Tore der Welt" allemal. Auch wenn die Geschichte eine Weile braucht, um in die Gänge zu kommen, wird ihr Fortgang doch bald interessant genug, um immer wieder eine Seite umzublättern. Wenn es also ein historischer Roman sein soll, ist man mit diesem gut bedient. Oder eben mit dem Vorgänger: Die amerikanische Moderatorin Oprah Winfrey wählte "Die Säulen der Erde" gerade als Empfehlung ihres Buchclubs.
JULIA BÄHR
Ken Follett: "Die Tore der Welt". Roman.
Aus dem Englischen übersetzt von Rainer
Schumacher und Dietmar Schmidt. Illustrationen von Jan Balaz. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2008. 1120 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2008Gwenda, der Viehstrick und die Ritter
Zwischen Kathedrale und Spiele-Konsole: Ken Folletts neuer Mittelalter-Roman „Die Tore der Welt”
„Gwenda war acht Jahre alt, doch sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit.” So beginnt ein Buch, das sich über nahezu 1300 großformatige Seiten auftürmt wie eine Kathedrale. Ein solches Massiv wirkt einschüchternd; aber dieser Anfang erglimmt wie das Licht einer Kerze im Kirchenschiff, und man will wissen, wie es weitergeht. Wer ist Gwenda? Warum ist es dunkel? Und schon ist man mittendrin. Gwenda, so erfährt man bald, ist die Tochter eines Tagelöhners, der sich nur durchbringen kann, wenn er seine Kinder zum Stehlen anhält. Da bietet sich keine günstigere Gelegenheit als der Tag des heiligen Adolphus in der Abteikirche von Kingsbridge. Gwenda soll heute erstmals einen Geldbeutel entwenden – etwas ganz anderes als das gelegentliche Stibitzen eines Apfels oder Eis.
Dieser Diebstahl ist ein erwachsenes Verbrechen, und wie einer Erwachsenen wird man ihr dafür die Hand abhauen, wenn man sie erwischt. Auch ihr Vater hat aus demselben Grund nur noch eine Hand. Sie schleicht sich im Gewühl an einen Adligen heran, Sir Gerald wie sich bald herausstellt, trennt ihm, nicht ganz glatt, aber doch erfolgreich, mit einem Messerchen die lederne Börse vom Gürtel, will sich davonmachen – da geschieht etwas Unerwartetes: „,Oh, du armes Ding! Du kannst nichts sehen, weil du so klein bist, nicht wahr?‘ sagte der Bestohlene mit freundlicher Stimme, und zu Gwendas Entsetzen packte er sie unter den Armen und hob sie hoch. Sie war hilflos. Sir Geralds große Hand in ihrer Achselhöhle war nur zwei Fingerbreit von der Börse entfernt.” Es ist ein spannender Moment.
Hier und überall merkt man, dass Follett weiß, wie man große Architektur ins Werk setzt; wie man fundamentiert, Strebepfeiler hochzieht, das Gebäude in weiten Bögen wölbt. Staunend verfolgt man die handwerkliche Perfektion, mit der er sein außerordentlich zahlreiches Personal einführt und verflicht; wie Gwenda, das unbedeutende Diebsmädchen, alsbald die Bekanntschaft der Brüder Ralph und Merthin macht, der Söhne Sir Geralds, dazu der klugen Caris. Zu viert, begleitet von einem dreibeinigen Hündchen, ziehen sie los in den nahen Wald, wo sie ein Abenteuer mit einem Ritter zu bestehen haben, dem die Häscher der Königin auf den Fersen sind – doch wer argwöhnt, dass er es hier mit einer hochmittelalterlichen Version der fünf Freunde Enid Blytons zu tun bekommt, wird bald eines Besseren belehrt. Es deutet sich ein Geheimnis an, tief genug, dass es als Grundstein das ganze Buch tragen wird.
Böser Prior, gütige Äbtissin
Folletts Buch „Die Säulen der Erde” über den Bau eines mittelalterlichen Doms war ein weltweiter Bestseller; nun legt er nach, und schon der Titel des neuen Werks lässt erkennen, dass es dort weitergehen soll, wo er aufgehört hatte: „Die Tore der Welt”. Aber so einfach, dass er ein bloßes Sequel liefert, macht er es sich nicht. Der neue Roman spielt zwei Jahrhunderte später, an demselben Ort, doch mit völlig neuem Personal und Plot. Wir befinden uns im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, im England des aufkommenden Handelsbürgertums, des Hundertjährigen Krieges und der Pest.
Eine Inhaltsangabe dieses überaus komplexen Gebildes wäre ganz unmöglich, auch nicht wünschenswert, weil man den Leser um die Spannung und damit um einen erheblichen Teil des Lesevergnügens brächte. Es gibt ein Hauptpaar: Merthin, der sich zu einem führenden Baumeister entwickelt, und Caris, Tochter des reichen Tuchhändlers Edmund, die, um einer Anklage wegen Hexerei zu entgehen, ins Kloster eintreten muss; dann als Nebenpaar die wenig attraktive Gwenda und den schönen, ehrlichen Tölpel Wulfric, den sie mit ihrer unwandelbar zähen Treue gewinnt (doch wird es dauern?). Es gibt Godwyn, den begabten jungen Mönch, der unbedingt Prior werden möchte und sich, sobald er es ist, als schlimmer Reaktionär und Intrigant entpuppt, und spiegelbildlich dazu Cecilia, die fürsorgliche Äbtissin des Nonnenklosters.
Dem Motiv der feindlichen Brüder wird ein klassenkämpferischer Aspekt verliehen, indem Ralph, Merthins Bruder, die Laufbahn eines Ritters einschlägt, mit aller Arroganz und Brutalität, die damit einhergehen. Die Frauen, obwohl rechtlich schlechter gestellt, wissen den Männern doch stets Paroli zu bieten – das gehört zu den weniger überraschenden Motiven, denn ohne die möglichst mehrfach besetzte Rolle der starken Frau läuft bei einem solchen Buch gar nichts. Dafür sind die Männer, speziell die bösen, schwachen und dummen, die Interessanteren. Und der Schwarze Tod, der nahezu die Hälfte der Bevölkerung unter die Erde bringt, gibt ausgedehnte Gelegenheit, poetische Gerechtigkeit zu üben und die Karten neu zu mischen.
Ungeheure Mengen geschichtlichen Stoffs hat Follett verarbeitet, und man spürt an jeder Einzelheit die gewissenhafte Recherche, sei es bei der Menge Alauns, die man beim Wollefärben zugeben muss, um ein haltbares Scharlach zu erzielen, sei es beim Verlauf der Schlacht von Crécy, als die Engländer ein vielfach überlegenes französisches Ritterheer besiegen. Die zahlreichen Liebesszenen wissen zwischen dem Delikaten und dem Handfesten die Balance zu wahren und sind natürlich, was die Aufmerksamkeit des Lesers betrifft, Selbstläufer.
Darum sollte man vielleicht eher Folletts Geschick hervorheben, Streitgespräche und im weitesten Sinn juristische Situationen zu gestalten. Als Gwenda eines Tages nichtsahnend durch die Stadt geht, wirft ihr der Vater plötzlich einen Viehstrick um den Hals und erklärt ihr, er habe sie soeben für zwölf Shilling an den Hausierer Sim, der dabeisteht, verkauft. Es ist ein Akt der blanken Not. Gwenda wehrt sich, es kommt zu einem Volksauflauf, Gwendas Freundin Caris eilt herbei, ebenso John Constable, der Büttel; eine lebhafte Diskussion entspinnt sich über die Zulässigkeit dieses Geschäfts. Auch die Neugier des Lesers ist geweckt; er will nicht nur wissen, was jetzt mit Gwenda geschieht, sondern auch, welche Wendung es mit einem ausgeprägten, aber ihm fremdartigen Rechtsempfinden nehmen wird.
Und doch wird man dieses außerordentlich gut gebauten Buchs nicht recht froh – insofern es ein Buch ist. Bei historischen Romanen drängt sich ja sonst immer die Frage auf, ob und inwieweit darin ein Anachronismus aus dem Geist historistischer Geschwätzigkeit herrscht, am schlagendsten nachweisbar in schiefen Sachdetails, am deutlichsten fühlbar in den Dialogen und Motiven der Figuren. Diese Frage stellt sich hier eigentlich nie. Bei Folletts Mittelalter handelt es sich nicht um eine vergangene Epoche, um deren Vergegenwärtigung gerungen würde, sondern um einen Triumph der Rechnerkapazitäten. Diesem bis in die letzte sprechende Kleinigkeit durchgepixelten Universum begegnet man mit ähnlichem Respekt wie dem, was heute bei den Animationsfilmen alles an Flammen, bewegtem Wasser und schauderndem Fell möglich geworden ist.
Die Identifikation, zu der die sorgsam ausgearbeiteten Charaktere einladen, gleicht der mit dem Avatar, der Aktionsfigur zum Hineinschlüpfen in den komplizierten Kampf- und Kostüm-Games, die sich auf den Spielkonsolen tummeln. (So auch, wie stillgestellte Bilder vom Computerschirm, hat Jan Balaz seine Illustrationen gestaltet.) Nichts hat Follett außer Acht gelassen; er berechnet genau, welche Auswirkungen auf die örtliche Ökonomie es haben wird, wenn der König pro Sack Wolle soundso viel Steuern erhebt und welche Kosten, welche Einnahmen der Neubau der eingestürzten Brücke beschert. Es ist die manisch-mechanische Komplettheit der Siedlerspiele, in denen Missernten, Stapelläufe, Epidemien, höchst plastisch auf den Bildschirm gezaubert, über die Höhe der Spielguthaben entscheidet.
Dieses Buch ist erstklassiges Genre. Aber sein Genre ist kein originär literarisches. Von der wahngespeisten Totalität des Tolkienschen Frühmittelalters unterscheidet sich dieser Kosmos in seiner kalkulierten Nüchternheit, die durch Einfälle wettmacht, was ihr an Phantasie fehlt. Für den Afficionado hält es viele Suchtfaktoren bereit, allen anderen jedoch nötigt es eine Bewunderung ab, die eher kalt bleibt. BURKHARD MÜLLER
KEN FOLLETT: Die Tore der Welt. Historischer Roman. Aus dem Englischen von Rainer Schumacher und Dietmar Schmidt. Mit Illustrationen von Jan Balaz. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2008. 1294 Seiten, 24,95 Euro.
Ein Sieg für den historischen Roman: Englische Ritter in der Schlacht von Crécy, 1346. Kolorierter Holzstich aus dem Jahr 1875 (oben). Der Autor Ken Follett (links) Fotos: akg-images / AP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Zwischen Kathedrale und Spiele-Konsole: Ken Folletts neuer Mittelalter-Roman „Die Tore der Welt”
„Gwenda war acht Jahre alt, doch sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit.” So beginnt ein Buch, das sich über nahezu 1300 großformatige Seiten auftürmt wie eine Kathedrale. Ein solches Massiv wirkt einschüchternd; aber dieser Anfang erglimmt wie das Licht einer Kerze im Kirchenschiff, und man will wissen, wie es weitergeht. Wer ist Gwenda? Warum ist es dunkel? Und schon ist man mittendrin. Gwenda, so erfährt man bald, ist die Tochter eines Tagelöhners, der sich nur durchbringen kann, wenn er seine Kinder zum Stehlen anhält. Da bietet sich keine günstigere Gelegenheit als der Tag des heiligen Adolphus in der Abteikirche von Kingsbridge. Gwenda soll heute erstmals einen Geldbeutel entwenden – etwas ganz anderes als das gelegentliche Stibitzen eines Apfels oder Eis.
Dieser Diebstahl ist ein erwachsenes Verbrechen, und wie einer Erwachsenen wird man ihr dafür die Hand abhauen, wenn man sie erwischt. Auch ihr Vater hat aus demselben Grund nur noch eine Hand. Sie schleicht sich im Gewühl an einen Adligen heran, Sir Gerald wie sich bald herausstellt, trennt ihm, nicht ganz glatt, aber doch erfolgreich, mit einem Messerchen die lederne Börse vom Gürtel, will sich davonmachen – da geschieht etwas Unerwartetes: „,Oh, du armes Ding! Du kannst nichts sehen, weil du so klein bist, nicht wahr?‘ sagte der Bestohlene mit freundlicher Stimme, und zu Gwendas Entsetzen packte er sie unter den Armen und hob sie hoch. Sie war hilflos. Sir Geralds große Hand in ihrer Achselhöhle war nur zwei Fingerbreit von der Börse entfernt.” Es ist ein spannender Moment.
Hier und überall merkt man, dass Follett weiß, wie man große Architektur ins Werk setzt; wie man fundamentiert, Strebepfeiler hochzieht, das Gebäude in weiten Bögen wölbt. Staunend verfolgt man die handwerkliche Perfektion, mit der er sein außerordentlich zahlreiches Personal einführt und verflicht; wie Gwenda, das unbedeutende Diebsmädchen, alsbald die Bekanntschaft der Brüder Ralph und Merthin macht, der Söhne Sir Geralds, dazu der klugen Caris. Zu viert, begleitet von einem dreibeinigen Hündchen, ziehen sie los in den nahen Wald, wo sie ein Abenteuer mit einem Ritter zu bestehen haben, dem die Häscher der Königin auf den Fersen sind – doch wer argwöhnt, dass er es hier mit einer hochmittelalterlichen Version der fünf Freunde Enid Blytons zu tun bekommt, wird bald eines Besseren belehrt. Es deutet sich ein Geheimnis an, tief genug, dass es als Grundstein das ganze Buch tragen wird.
Böser Prior, gütige Äbtissin
Folletts Buch „Die Säulen der Erde” über den Bau eines mittelalterlichen Doms war ein weltweiter Bestseller; nun legt er nach, und schon der Titel des neuen Werks lässt erkennen, dass es dort weitergehen soll, wo er aufgehört hatte: „Die Tore der Welt”. Aber so einfach, dass er ein bloßes Sequel liefert, macht er es sich nicht. Der neue Roman spielt zwei Jahrhunderte später, an demselben Ort, doch mit völlig neuem Personal und Plot. Wir befinden uns im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, im England des aufkommenden Handelsbürgertums, des Hundertjährigen Krieges und der Pest.
Eine Inhaltsangabe dieses überaus komplexen Gebildes wäre ganz unmöglich, auch nicht wünschenswert, weil man den Leser um die Spannung und damit um einen erheblichen Teil des Lesevergnügens brächte. Es gibt ein Hauptpaar: Merthin, der sich zu einem führenden Baumeister entwickelt, und Caris, Tochter des reichen Tuchhändlers Edmund, die, um einer Anklage wegen Hexerei zu entgehen, ins Kloster eintreten muss; dann als Nebenpaar die wenig attraktive Gwenda und den schönen, ehrlichen Tölpel Wulfric, den sie mit ihrer unwandelbar zähen Treue gewinnt (doch wird es dauern?). Es gibt Godwyn, den begabten jungen Mönch, der unbedingt Prior werden möchte und sich, sobald er es ist, als schlimmer Reaktionär und Intrigant entpuppt, und spiegelbildlich dazu Cecilia, die fürsorgliche Äbtissin des Nonnenklosters.
Dem Motiv der feindlichen Brüder wird ein klassenkämpferischer Aspekt verliehen, indem Ralph, Merthins Bruder, die Laufbahn eines Ritters einschlägt, mit aller Arroganz und Brutalität, die damit einhergehen. Die Frauen, obwohl rechtlich schlechter gestellt, wissen den Männern doch stets Paroli zu bieten – das gehört zu den weniger überraschenden Motiven, denn ohne die möglichst mehrfach besetzte Rolle der starken Frau läuft bei einem solchen Buch gar nichts. Dafür sind die Männer, speziell die bösen, schwachen und dummen, die Interessanteren. Und der Schwarze Tod, der nahezu die Hälfte der Bevölkerung unter die Erde bringt, gibt ausgedehnte Gelegenheit, poetische Gerechtigkeit zu üben und die Karten neu zu mischen.
Ungeheure Mengen geschichtlichen Stoffs hat Follett verarbeitet, und man spürt an jeder Einzelheit die gewissenhafte Recherche, sei es bei der Menge Alauns, die man beim Wollefärben zugeben muss, um ein haltbares Scharlach zu erzielen, sei es beim Verlauf der Schlacht von Crécy, als die Engländer ein vielfach überlegenes französisches Ritterheer besiegen. Die zahlreichen Liebesszenen wissen zwischen dem Delikaten und dem Handfesten die Balance zu wahren und sind natürlich, was die Aufmerksamkeit des Lesers betrifft, Selbstläufer.
Darum sollte man vielleicht eher Folletts Geschick hervorheben, Streitgespräche und im weitesten Sinn juristische Situationen zu gestalten. Als Gwenda eines Tages nichtsahnend durch die Stadt geht, wirft ihr der Vater plötzlich einen Viehstrick um den Hals und erklärt ihr, er habe sie soeben für zwölf Shilling an den Hausierer Sim, der dabeisteht, verkauft. Es ist ein Akt der blanken Not. Gwenda wehrt sich, es kommt zu einem Volksauflauf, Gwendas Freundin Caris eilt herbei, ebenso John Constable, der Büttel; eine lebhafte Diskussion entspinnt sich über die Zulässigkeit dieses Geschäfts. Auch die Neugier des Lesers ist geweckt; er will nicht nur wissen, was jetzt mit Gwenda geschieht, sondern auch, welche Wendung es mit einem ausgeprägten, aber ihm fremdartigen Rechtsempfinden nehmen wird.
Und doch wird man dieses außerordentlich gut gebauten Buchs nicht recht froh – insofern es ein Buch ist. Bei historischen Romanen drängt sich ja sonst immer die Frage auf, ob und inwieweit darin ein Anachronismus aus dem Geist historistischer Geschwätzigkeit herrscht, am schlagendsten nachweisbar in schiefen Sachdetails, am deutlichsten fühlbar in den Dialogen und Motiven der Figuren. Diese Frage stellt sich hier eigentlich nie. Bei Folletts Mittelalter handelt es sich nicht um eine vergangene Epoche, um deren Vergegenwärtigung gerungen würde, sondern um einen Triumph der Rechnerkapazitäten. Diesem bis in die letzte sprechende Kleinigkeit durchgepixelten Universum begegnet man mit ähnlichem Respekt wie dem, was heute bei den Animationsfilmen alles an Flammen, bewegtem Wasser und schauderndem Fell möglich geworden ist.
Die Identifikation, zu der die sorgsam ausgearbeiteten Charaktere einladen, gleicht der mit dem Avatar, der Aktionsfigur zum Hineinschlüpfen in den komplizierten Kampf- und Kostüm-Games, die sich auf den Spielkonsolen tummeln. (So auch, wie stillgestellte Bilder vom Computerschirm, hat Jan Balaz seine Illustrationen gestaltet.) Nichts hat Follett außer Acht gelassen; er berechnet genau, welche Auswirkungen auf die örtliche Ökonomie es haben wird, wenn der König pro Sack Wolle soundso viel Steuern erhebt und welche Kosten, welche Einnahmen der Neubau der eingestürzten Brücke beschert. Es ist die manisch-mechanische Komplettheit der Siedlerspiele, in denen Missernten, Stapelläufe, Epidemien, höchst plastisch auf den Bildschirm gezaubert, über die Höhe der Spielguthaben entscheidet.
Dieses Buch ist erstklassiges Genre. Aber sein Genre ist kein originär literarisches. Von der wahngespeisten Totalität des Tolkienschen Frühmittelalters unterscheidet sich dieser Kosmos in seiner kalkulierten Nüchternheit, die durch Einfälle wettmacht, was ihr an Phantasie fehlt. Für den Afficionado hält es viele Suchtfaktoren bereit, allen anderen jedoch nötigt es eine Bewunderung ab, die eher kalt bleibt. BURKHARD MÜLLER
KEN FOLLETT: Die Tore der Welt. Historischer Roman. Aus dem Englischen von Rainer Schumacher und Dietmar Schmidt. Mit Illustrationen von Jan Balaz. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2008. 1294 Seiten, 24,95 Euro.
Ein Sieg für den historischen Roman: Englische Ritter in der Schlacht von Crécy, 1346. Kolorierter Holzstich aus dem Jahr 1875 (oben). Der Autor Ken Follett (links) Fotos: akg-images / AP
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