Billy, Cop im New Yorker Police Department, tritt immer erst nach Mitternacht seinen Dienst an. Energy-Drinks und Zigaretten halten ihn wach, während er gelangweilt die Blocks abfährt. Seine Illusionen hat er bereits als junger Cop verloren, als er einen skrupellosen Mörder nicht überführen konnte. Billy und seine damaligen Kollegen nannten solche Täter die 'Unantastbaren'. Zwanzig Jahre später wird Billy nach einem brutalen Mord von der Vergangenheit eingeholt. Plötzlich muss er gegen seine engsten Vertrauten ermitteln und gerät in einen existenziellen Gewissenskonflikt. Ein fesselnder New-York-Roman über Schuld und Sühne - filmisch und explosiv.Lesung mit Oliver Rohrbeck und David Nathan7 CDs ca. 560 min
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2015Das Regionale ist das Globale
Krimis in Kürze: Döblin, Price, Kerrigan & Berndorf
Auch große Bücher haben mal in kleinen Portionen angefangen: als Fortsetzungs- oder Feuilletonroman. Dostojewskis "Brüder Karamasow" oder Dickens' "Oliver Twist" zum Beispiel, nicht zu vergessen Conan Doyles "Sherlock Holmes". Geduldsspanne und Leseverhalten haben sich jedoch seither derart verändert, dass man heute selbst die Cliffhanger von Serien nicht mehr erträgt. Man schaut, beim "Binge Watching", einfach so viele Folgen hintereinander, wie man physisch und psychisch verkraftet.
Ein Kriminalroman als Fortsetzungsgeschichte kann daher nur eine Neuauflage sein, wie es "Die verschlossene Tür. Kriminalrat Koppens seltsamster Fall" (Verlag für Berlin-Brandenburg, 104 S., geb., 14,99 [Euro]) auch ist. Im Sommer 1932 versammelte Willy Haas in seiner "Literarischen Welt" acht Autoren, sehr bekannte wie heute längst vergessene, darunter Alfred Döblin, Richard Huelsenbeck, Edlef Köppen oder Frank Arau, zu einem Kriminalroman, gekoppelt mit einem Preisausschreiben. Jeder sollte dort weitererzählen, wo der Vorgänger aufgehört hatte. Das ging nach dem Auftaktmord in einer Grunewaldvilla nicht lange gut. Das Projekt kippte rasch, wie Erhard Schütz in seinem Nachwort schreibt, in "ein selbstbezügliches Literatenspiel" um. Aus dem "Jux" ist nun ein sehr interessantes zeitgeschichtliches Dokument geworden. Wenn allerdings heute noch jemand meint, ein Kriminalroman schreibe sich wie von selbst, kommt nur ein so behäbiges und unbedarftes Buch wie Sibylle Lewitscharoffs "Killmousky" dabei heraus.
Heute gibt es halt auch Autoren wie Richard Price, der an "The Wire" mitgearbeitet und Romane wie "Clockers" oder "Cash" geschrieben hat. Sein neuer Roman, "Die Unantastbaren" (S. Fischer, 432 S., geb., 24,99 [Euro]), ist, auch wenn es Ermittlungen und die Aufklärung eines Falls gibt, nicht allein vom Plot getrieben. Die Handlung befeuert eine Energie, die sich aus der Besessenheit der Protagonisten speist. Billy Graves und seine Freunde, die sich die "Wildgänse" nennen, waren Mitte der neunziger Jahre junge Cops in der East Bronx, erfolgreich, immer am Rande des Dienstwegs. "Sie wandelten in den Augen der Menschen, die sie beschützten und gelegentlich rächten, wie Götter durch ihre Straßen", schreibt Price mit jener leichten Überhöhung, die er sich ab und an und gut dosiert leistet.
Die Obsession einer jeden "Wildgans" ist ein "Unantastbarer". Jeder hat einen Verbrecher, einen Mörder im Blick, der irgendwie davongekommen ist, obwohl seine Schuld evident war; jeder hofft, dass die Stunde der Rache schlagen wird, und ist auch bereit nachzuhelfen. Für Billy sind die alten Freunde und ihre Ansprüche eher eine Last. Der Roman begleitet ihn, der die Nachtschicht der New Yorker Polizei leitet, auf seiner moralischen Achterbahnfahrt. Und Price Prosa ist dabei das Präzisionsinstrument, um zersiedelte Stadtlandschaften und banale Innenräume in ein besonderes Licht zu setzen, um Menschen zu porträtieren, ihr Innenleben im Außen sichtbar werden zu lassen und Dialoge zu schreiben, die den Cops, Dealern, Kleingaunern, Huren, Hausmeistern oder Nachtschwärmern eine Stimme geben.
Auch Gene Kerrigan hat eine ganz besondere Beziehung zu seiner Stadt: zu Dublin. Und man spürt bei dem gelernten politischen Journalisten die Wut darüber, was die Finanzkrise hier angerichtet hat. "In der Sackgasse" (Polar Verlag, 320 S., br., 14,90 [Euro]) spielt im Jahr 2009. Geschichte und Figuren sind nach den Archetypen der Schwarzen Serie geformt zu einem ganz eigenständigen Irish Noir. Danny Callaghan ist ein klassisch ambivalenter Held, der auf dem College war, der im Knast gesessen hat und der, wie das so läuft, dann doch wieder in etwas Unangenehmes hineingerät. Kerrigan erzählt das nicht brav und linear, er wechselt die Zeitebenen, er entwirft einen verästelten Plot mit Figuren, die nicht nur Staffage bilden; er zeigt, wie Ökonomie und Verbrechen miteinander verschränkt sind, wo es um Marktanteile im Drogenhandel und um Geldwäsche geht. Und er hat einen ausgeprägten Sinn für bizarre Details und knappe Wortwechsel, die einfach sitzen.
Jacques Berndorf gehört zu den Veteranen des Regionalkrimis. Er hat die Eifel-Serie erfunden, aber seit zehn Jahren schickt er auch den BND-Mann Karl Müller in die etwas weitere Welt. "Lockvogel" (Heyne, 352 S., geb., 19,99 [Euro]) erzählt von heftigen Reibereien zwischen dem BND und amerikanischen Diensten, und er handelt auch vom Versuch, junge Deutsche für den islamistischen Terrorismus anzuwerben. Das Setting ist recht exotisch - Mallorca, Jemen, Pakistan -, die Handlungsführung nicht gerade filigran, aber solide und etwas zu vorhersehbar. Berndorfs Figuren passen zur Schlichtheit und Floskelhaftigkeit seiner Prosa. Vor allem aber ist der Plot nicht annähernd so brisant, wie man sich das erhofft hatte. Was schade ist, da man zurzeit nicht nur Reportagen und Recherchen, sondern auch gute, packende Fiktion aus dem undurchsichtigen Milieu der Anwerber, Schläfer und der überwachenden Dienste durchaus lesen möchte.
PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Krimis in Kürze: Döblin, Price, Kerrigan & Berndorf
Auch große Bücher haben mal in kleinen Portionen angefangen: als Fortsetzungs- oder Feuilletonroman. Dostojewskis "Brüder Karamasow" oder Dickens' "Oliver Twist" zum Beispiel, nicht zu vergessen Conan Doyles "Sherlock Holmes". Geduldsspanne und Leseverhalten haben sich jedoch seither derart verändert, dass man heute selbst die Cliffhanger von Serien nicht mehr erträgt. Man schaut, beim "Binge Watching", einfach so viele Folgen hintereinander, wie man physisch und psychisch verkraftet.
Ein Kriminalroman als Fortsetzungsgeschichte kann daher nur eine Neuauflage sein, wie es "Die verschlossene Tür. Kriminalrat Koppens seltsamster Fall" (Verlag für Berlin-Brandenburg, 104 S., geb., 14,99 [Euro]) auch ist. Im Sommer 1932 versammelte Willy Haas in seiner "Literarischen Welt" acht Autoren, sehr bekannte wie heute längst vergessene, darunter Alfred Döblin, Richard Huelsenbeck, Edlef Köppen oder Frank Arau, zu einem Kriminalroman, gekoppelt mit einem Preisausschreiben. Jeder sollte dort weitererzählen, wo der Vorgänger aufgehört hatte. Das ging nach dem Auftaktmord in einer Grunewaldvilla nicht lange gut. Das Projekt kippte rasch, wie Erhard Schütz in seinem Nachwort schreibt, in "ein selbstbezügliches Literatenspiel" um. Aus dem "Jux" ist nun ein sehr interessantes zeitgeschichtliches Dokument geworden. Wenn allerdings heute noch jemand meint, ein Kriminalroman schreibe sich wie von selbst, kommt nur ein so behäbiges und unbedarftes Buch wie Sibylle Lewitscharoffs "Killmousky" dabei heraus.
Heute gibt es halt auch Autoren wie Richard Price, der an "The Wire" mitgearbeitet und Romane wie "Clockers" oder "Cash" geschrieben hat. Sein neuer Roman, "Die Unantastbaren" (S. Fischer, 432 S., geb., 24,99 [Euro]), ist, auch wenn es Ermittlungen und die Aufklärung eines Falls gibt, nicht allein vom Plot getrieben. Die Handlung befeuert eine Energie, die sich aus der Besessenheit der Protagonisten speist. Billy Graves und seine Freunde, die sich die "Wildgänse" nennen, waren Mitte der neunziger Jahre junge Cops in der East Bronx, erfolgreich, immer am Rande des Dienstwegs. "Sie wandelten in den Augen der Menschen, die sie beschützten und gelegentlich rächten, wie Götter durch ihre Straßen", schreibt Price mit jener leichten Überhöhung, die er sich ab und an und gut dosiert leistet.
Die Obsession einer jeden "Wildgans" ist ein "Unantastbarer". Jeder hat einen Verbrecher, einen Mörder im Blick, der irgendwie davongekommen ist, obwohl seine Schuld evident war; jeder hofft, dass die Stunde der Rache schlagen wird, und ist auch bereit nachzuhelfen. Für Billy sind die alten Freunde und ihre Ansprüche eher eine Last. Der Roman begleitet ihn, der die Nachtschicht der New Yorker Polizei leitet, auf seiner moralischen Achterbahnfahrt. Und Price Prosa ist dabei das Präzisionsinstrument, um zersiedelte Stadtlandschaften und banale Innenräume in ein besonderes Licht zu setzen, um Menschen zu porträtieren, ihr Innenleben im Außen sichtbar werden zu lassen und Dialoge zu schreiben, die den Cops, Dealern, Kleingaunern, Huren, Hausmeistern oder Nachtschwärmern eine Stimme geben.
Auch Gene Kerrigan hat eine ganz besondere Beziehung zu seiner Stadt: zu Dublin. Und man spürt bei dem gelernten politischen Journalisten die Wut darüber, was die Finanzkrise hier angerichtet hat. "In der Sackgasse" (Polar Verlag, 320 S., br., 14,90 [Euro]) spielt im Jahr 2009. Geschichte und Figuren sind nach den Archetypen der Schwarzen Serie geformt zu einem ganz eigenständigen Irish Noir. Danny Callaghan ist ein klassisch ambivalenter Held, der auf dem College war, der im Knast gesessen hat und der, wie das so läuft, dann doch wieder in etwas Unangenehmes hineingerät. Kerrigan erzählt das nicht brav und linear, er wechselt die Zeitebenen, er entwirft einen verästelten Plot mit Figuren, die nicht nur Staffage bilden; er zeigt, wie Ökonomie und Verbrechen miteinander verschränkt sind, wo es um Marktanteile im Drogenhandel und um Geldwäsche geht. Und er hat einen ausgeprägten Sinn für bizarre Details und knappe Wortwechsel, die einfach sitzen.
Jacques Berndorf gehört zu den Veteranen des Regionalkrimis. Er hat die Eifel-Serie erfunden, aber seit zehn Jahren schickt er auch den BND-Mann Karl Müller in die etwas weitere Welt. "Lockvogel" (Heyne, 352 S., geb., 19,99 [Euro]) erzählt von heftigen Reibereien zwischen dem BND und amerikanischen Diensten, und er handelt auch vom Versuch, junge Deutsche für den islamistischen Terrorismus anzuwerben. Das Setting ist recht exotisch - Mallorca, Jemen, Pakistan -, die Handlungsführung nicht gerade filigran, aber solide und etwas zu vorhersehbar. Berndorfs Figuren passen zur Schlichtheit und Floskelhaftigkeit seiner Prosa. Vor allem aber ist der Plot nicht annähernd so brisant, wie man sich das erhofft hatte. Was schade ist, da man zurzeit nicht nur Reportagen und Recherchen, sondern auch gute, packende Fiktion aus dem undurchsichtigen Milieu der Anwerber, Schläfer und der überwachenden Dienste durchaus lesen möchte.
PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.11.2015Nachtschicht
Furios erzählt Richard Price in seinem Polizeiroman
„Die Unantastbaren“ von einem Detective, der es mit Rächern
aus den eigenen Reihen zu tun bekommt
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Diese Tarnung hat ganz klar nicht funktioniert. Als Richard Price seinen neuen Roman – warum auch immer – in den USA zunächst quasi undercover, nämlich unter dem Pseudonym Harry Brandt, veröffentlichte, wurde ersehr bald überführt. Der harte stilistische Punch des wohl berühmtesten Polizistenverstehers der amerikanischen Literatur, sein von den Tatortbildern des Fotoreporters Arthur „Weegee“ Fellig aus den Dreißigerjahren beeinflusster Blitzlicht-Naturalismus ist einfach zu unverkennbar.
Der 1949 in der New Yorker Bronx geborene Richard Price hat Drehbücher für Martin Scorsese und Paraderollen für Paul Newman oder Al Pacino geschrieben sowie den von Spike Lee verfilmten Roman „Clockers“ (1992) und den Bestseller „Cash“ (2010). Und er hat an der HBO-Serie „The Wire“ mitgearbeitet. Als Kriminalschriftsteller ist Price alles andere als ein Schreibtischtäter, sondern einer, der im Polizeiauto mitfährt, wenn er recherchiert. „Richard Price writing as Harry Brandt“ steht mittlerweile auf dem Cover der amerikanischen Ausgabe. Sein deutscher Verlag hat das Versteckspiel gar nicht erst mitgemacht und den Roman gleich unter dem Klarnamen des Autors herausgebracht.
Über Bord gegangen ist auf dem Weg nach Europa allerdings nicht nur der blinde Passagier Harry Brandt, sondern auch das große Vorbild Herman Melville. Der Originaltitel „The Whites“ spielt auf dessen Roman „Moby Dick“ an. Aus diesen „Weißen“ hat die Übersetzung nun „Die Unantastbaren“ gemacht. Gemeint sind die im Leben eines Cops traumatischen Täter, die nie überführt werden konnten und als Dämonen jene verfolgen, die sich die Schuld daran geben. Denn jeder der Polizisten im Roman ist ein unerlöster Kapitän Ahab, der ruhelos seinem persönlichen weißen Wal hinterherjagt in den Häusermeeren von New York – der Stadt, die niemals schläft und in der das Verbrechen erst so richtig erwacht, wenn es Nacht wird über Manhattan.
„Die Wildgänse“ nannten sie sich in den Neunzigerjahren, sieben übermotivierte junge Ermittler, deren hohe Aufklärungsquote sie schnell aufsteigen ließ in der Hierarchie des NYPD. Zwanzig Jahre später ist nur Billy Graves, der jüngste von ihnen, übrig geblieben, die anderen haben nach und nach in ruhigere berufliche Gewässer beigedreht. Doch als verschworene Schicksalsgemeinschaft verstehen sie sich auch weiterhin, wenn sie einmal im Monat zusammenkommen, um die alten, immer noch schwärenden Wunden mit Strömen von Alkohol zu desinfizieren.
Vor der Zeit gealtert ist allerdings auch das einstige Küken Billy. „Er war zwar erst zweiundvierzig, aber sein Knitterzellophanblick gepaart mit einer exquisiten Schlaflosenpose hatte ihm schon mal eine Seniorenermäßigung fürs Kino eingebracht“, heißt es über ihn. Nachdem er während einer Geiselnahme auf den Täter geschossen, dabei aber auch dessen Opfer, ein Kind, getroffen hatte, weil er völlig zugekokst war bei dem Einsatz damals – wurde Billy in die „Unterwelt“ verbannt, wie er das nennt, zuerst in die Identifizierungsabteilung im Leichenschauhaus, dann in die „dauerhafte Mitternacht“.
Nachtschichten, das sind die Kreidemarkierungen der Spurensicherung auf dem nassen Asphalt, die Vernehmungen im kalten Neonlicht der Wache oder der Notaufnahme-Stationen der Krankenhäuser, wo Billys Frau Carmen als Krankenschwester ebenfalls an vorderster Front gegen die Fäulnis von Big Apple kämpft. Nachtschichten bedeuten Zigaretten und Energy-Drinks und dass diejenigen, die hier Dienst schieben, unterbesetzt und chronisch übermüdet sind. „Nachtschichten, hatte ein ehemaliger Vorgesetzter mal zu Billy gesagt, sind wie einzelne Tränen in einem Weinkrampf.“ Aber Nachtschichten, das sind auch die Stunden, in denen Verbrechen mehr verwaltet werden als aufgeklärt, in denen man Straftaten eher nur auf- und nicht die festnimmt, die sie begangen haben – Risikovermeidung also für den psychisch angeschossenen Detective mit dem zombiehaften Namen Graves.
Dass er sich überhaupt wieder fangen konnte, ist vor allem das Verdienst seiner Familie, der beiden Söhne, die meist in kompletter Enduring-Freedom-Montur vor dem Fernseher sitzen in Billys Haus in Yonkers mit den papierdünnen Wänden. Und das seiner Frau Carmen, die allerdings selbst mit dem nur für sie sichtbaren Drachen einer unabgegoltenen Schuld ringt, der sich nur mit Psychopharmaka besänftigen lässt. Und plötzlich wieder Feuer zu speien beginnt. Ein fremder Mann lauert einem ihrer Jungen an der Schule auf, deponiert mit roter Farbe beschmierte Kinderkleidung auf der Veranda und entführt Billys dementen Vater, ebenfalls ein Ex-Cop, in dessen altes Revier, um schließlich Carmens Bruder mit dem Baseballschläger krankenhausreif zu prügeln. Ein einsamer Rächer offenbar, bei dessen Identifizierung der Leser Billyimmer einen Schritt voraus ist dank eingeschalteter Kapitel aus der Perspektive des Stalkers.
Dieser Nebenstrang der Handlung variiert das Thema des Romans: Selbstjustiz. Als ein nie verurteilter Kinder- und Frauenmörder in einer wartenden Menschmenge an der Penn Station aufgeschlitzt wird und noch weitere „Unantastbare“ auf grausige Weise umkommen, fällt Billys Verdacht auf einen oder sogar mehrere Ex-Kollegen aus dem Kreis der „Wildgänse“. Auf einmal werden aus Freunden Feinde, und Billy gerät in einen Loyalitätskonflikt: Soll er seine früheren Partner verraten, die ihn einst deckten, als er fast seine Dienstmarke eingebüßt hätte? Oder sich selbst, sein Berufsethos, diesen schäbigen Rest an Idealen, der doch das Einzige ist, was New York noch von der Hölle trennt?
„Töpfer“, aus diesem Worthybrid aus „Täter“ und „Opfer“ schlägt Billy sarkastische Funken im moralischen Halbdunkel. Denn vom Widerspruch zwischen Recht und Gesetz und der alten Frage, ob man dieses brechen darf, um jenem zur Durchsetzung zu verhelfen, handeln „Die Unantastbaren“, und Price weiß, dass einfache Antworten im Leben nur auf Kühlschrankmagneten zu finden sind, Schwarz eine Farbe mit unendlich vielen Schattierungen ist und der Gott, der sich das alles ausgedacht hat, ein ziemlicher Sadist sein muss. Die Ungeschütztheit, mit der Price das uramerikanische Thema der Gewalt verhandelt, spiegelt sich in der Form des Romans, der den Leser frontal und ohne kugelsichere Weste seinem Realismus aussetzt. Namen und Begriffe fliegen wie eine Ladung Schrot durch die Luft. Nichts wird erklärt oder eingeführt, jähe Perspektiv- und Schauplatzwechsel, Handlungs- und Zeitsprünge sowie eine wimmelbildhafte Figurenfülle erzeugen eine hypernervös aufgeladene Atmosphäre und führen eine trancehafte Überschärfe herbei. „Die Unantastbaren“ ist ein Kriminalroman, in dem sich ein fiebriger Großstadt- und Gesellschaftsroman verbirgt, eine soziologisch genaue Milieustudie aus dem kleinbürgerlichen New York. Und eine große Hommage an die einfachen Leute und ihren täglichen Lebenskampf. Dieser Roman ist ein Kaleidoskop der Gegenwart, aber eines, das eher einer Splitterbombe gleicht.
Als kleine Entschädigung für so viel Druckbetankung mit Adrenalin spendiert Price dem Leser ein ironisches Happy End. Nachdem Billy eines Nachts in die Madison Avenue gerufen wird zu einem Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft, gelingt es ausnahmsweise, die Akte noch an Ort und Stelle zu schließen. Der flüchtige Täter wird ein paar Straßen weiter gefasst, die nicht-versicherte Beute der hochbetagten Ladeninhaberin zurückgegeben und damit deren ökonomische Existenz gerettet. Der zuständige Beamte kommt sich vor wie der „verdammte Weihnachtsmann“, als er die reichen Gaben in einem Müllsack aus schwarzem Plastik überreicht. „Die Frau nahm den Sack und blickte hinein auf ihr Leben“, heißt es. Denn für den skeptischen Humanisten Richard Price ist der Ordnungshüter ein heiliger Mann. Und jeder Streifenwagen nichts Geringeres als ein Rentierschlitten mit Polizeisirene.
Richard Price: Die Unantastbaren. Roman. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 432 Seiten,
24,99 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Das Kaleidoskop der sozialen
Wirklichkeit gleicht bei diesem
Autor einer Splitterbombe
Die Nächte beim NYPD seien wie „einzelne Tränen in einem Weinkrampf“, hatte ein ehemaliger Vorgesetzter mal zu Billy gesagt.
Foto: Christopher Anderson / Magnum Photos
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Furios erzählt Richard Price in seinem Polizeiroman
„Die Unantastbaren“ von einem Detective, der es mit Rächern
aus den eigenen Reihen zu tun bekommt
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Diese Tarnung hat ganz klar nicht funktioniert. Als Richard Price seinen neuen Roman – warum auch immer – in den USA zunächst quasi undercover, nämlich unter dem Pseudonym Harry Brandt, veröffentlichte, wurde ersehr bald überführt. Der harte stilistische Punch des wohl berühmtesten Polizistenverstehers der amerikanischen Literatur, sein von den Tatortbildern des Fotoreporters Arthur „Weegee“ Fellig aus den Dreißigerjahren beeinflusster Blitzlicht-Naturalismus ist einfach zu unverkennbar.
Der 1949 in der New Yorker Bronx geborene Richard Price hat Drehbücher für Martin Scorsese und Paraderollen für Paul Newman oder Al Pacino geschrieben sowie den von Spike Lee verfilmten Roman „Clockers“ (1992) und den Bestseller „Cash“ (2010). Und er hat an der HBO-Serie „The Wire“ mitgearbeitet. Als Kriminalschriftsteller ist Price alles andere als ein Schreibtischtäter, sondern einer, der im Polizeiauto mitfährt, wenn er recherchiert. „Richard Price writing as Harry Brandt“ steht mittlerweile auf dem Cover der amerikanischen Ausgabe. Sein deutscher Verlag hat das Versteckspiel gar nicht erst mitgemacht und den Roman gleich unter dem Klarnamen des Autors herausgebracht.
Über Bord gegangen ist auf dem Weg nach Europa allerdings nicht nur der blinde Passagier Harry Brandt, sondern auch das große Vorbild Herman Melville. Der Originaltitel „The Whites“ spielt auf dessen Roman „Moby Dick“ an. Aus diesen „Weißen“ hat die Übersetzung nun „Die Unantastbaren“ gemacht. Gemeint sind die im Leben eines Cops traumatischen Täter, die nie überführt werden konnten und als Dämonen jene verfolgen, die sich die Schuld daran geben. Denn jeder der Polizisten im Roman ist ein unerlöster Kapitän Ahab, der ruhelos seinem persönlichen weißen Wal hinterherjagt in den Häusermeeren von New York – der Stadt, die niemals schläft und in der das Verbrechen erst so richtig erwacht, wenn es Nacht wird über Manhattan.
„Die Wildgänse“ nannten sie sich in den Neunzigerjahren, sieben übermotivierte junge Ermittler, deren hohe Aufklärungsquote sie schnell aufsteigen ließ in der Hierarchie des NYPD. Zwanzig Jahre später ist nur Billy Graves, der jüngste von ihnen, übrig geblieben, die anderen haben nach und nach in ruhigere berufliche Gewässer beigedreht. Doch als verschworene Schicksalsgemeinschaft verstehen sie sich auch weiterhin, wenn sie einmal im Monat zusammenkommen, um die alten, immer noch schwärenden Wunden mit Strömen von Alkohol zu desinfizieren.
Vor der Zeit gealtert ist allerdings auch das einstige Küken Billy. „Er war zwar erst zweiundvierzig, aber sein Knitterzellophanblick gepaart mit einer exquisiten Schlaflosenpose hatte ihm schon mal eine Seniorenermäßigung fürs Kino eingebracht“, heißt es über ihn. Nachdem er während einer Geiselnahme auf den Täter geschossen, dabei aber auch dessen Opfer, ein Kind, getroffen hatte, weil er völlig zugekokst war bei dem Einsatz damals – wurde Billy in die „Unterwelt“ verbannt, wie er das nennt, zuerst in die Identifizierungsabteilung im Leichenschauhaus, dann in die „dauerhafte Mitternacht“.
Nachtschichten, das sind die Kreidemarkierungen der Spurensicherung auf dem nassen Asphalt, die Vernehmungen im kalten Neonlicht der Wache oder der Notaufnahme-Stationen der Krankenhäuser, wo Billys Frau Carmen als Krankenschwester ebenfalls an vorderster Front gegen die Fäulnis von Big Apple kämpft. Nachtschichten bedeuten Zigaretten und Energy-Drinks und dass diejenigen, die hier Dienst schieben, unterbesetzt und chronisch übermüdet sind. „Nachtschichten, hatte ein ehemaliger Vorgesetzter mal zu Billy gesagt, sind wie einzelne Tränen in einem Weinkrampf.“ Aber Nachtschichten, das sind auch die Stunden, in denen Verbrechen mehr verwaltet werden als aufgeklärt, in denen man Straftaten eher nur auf- und nicht die festnimmt, die sie begangen haben – Risikovermeidung also für den psychisch angeschossenen Detective mit dem zombiehaften Namen Graves.
Dass er sich überhaupt wieder fangen konnte, ist vor allem das Verdienst seiner Familie, der beiden Söhne, die meist in kompletter Enduring-Freedom-Montur vor dem Fernseher sitzen in Billys Haus in Yonkers mit den papierdünnen Wänden. Und das seiner Frau Carmen, die allerdings selbst mit dem nur für sie sichtbaren Drachen einer unabgegoltenen Schuld ringt, der sich nur mit Psychopharmaka besänftigen lässt. Und plötzlich wieder Feuer zu speien beginnt. Ein fremder Mann lauert einem ihrer Jungen an der Schule auf, deponiert mit roter Farbe beschmierte Kinderkleidung auf der Veranda und entführt Billys dementen Vater, ebenfalls ein Ex-Cop, in dessen altes Revier, um schließlich Carmens Bruder mit dem Baseballschläger krankenhausreif zu prügeln. Ein einsamer Rächer offenbar, bei dessen Identifizierung der Leser Billyimmer einen Schritt voraus ist dank eingeschalteter Kapitel aus der Perspektive des Stalkers.
Dieser Nebenstrang der Handlung variiert das Thema des Romans: Selbstjustiz. Als ein nie verurteilter Kinder- und Frauenmörder in einer wartenden Menschmenge an der Penn Station aufgeschlitzt wird und noch weitere „Unantastbare“ auf grausige Weise umkommen, fällt Billys Verdacht auf einen oder sogar mehrere Ex-Kollegen aus dem Kreis der „Wildgänse“. Auf einmal werden aus Freunden Feinde, und Billy gerät in einen Loyalitätskonflikt: Soll er seine früheren Partner verraten, die ihn einst deckten, als er fast seine Dienstmarke eingebüßt hätte? Oder sich selbst, sein Berufsethos, diesen schäbigen Rest an Idealen, der doch das Einzige ist, was New York noch von der Hölle trennt?
„Töpfer“, aus diesem Worthybrid aus „Täter“ und „Opfer“ schlägt Billy sarkastische Funken im moralischen Halbdunkel. Denn vom Widerspruch zwischen Recht und Gesetz und der alten Frage, ob man dieses brechen darf, um jenem zur Durchsetzung zu verhelfen, handeln „Die Unantastbaren“, und Price weiß, dass einfache Antworten im Leben nur auf Kühlschrankmagneten zu finden sind, Schwarz eine Farbe mit unendlich vielen Schattierungen ist und der Gott, der sich das alles ausgedacht hat, ein ziemlicher Sadist sein muss. Die Ungeschütztheit, mit der Price das uramerikanische Thema der Gewalt verhandelt, spiegelt sich in der Form des Romans, der den Leser frontal und ohne kugelsichere Weste seinem Realismus aussetzt. Namen und Begriffe fliegen wie eine Ladung Schrot durch die Luft. Nichts wird erklärt oder eingeführt, jähe Perspektiv- und Schauplatzwechsel, Handlungs- und Zeitsprünge sowie eine wimmelbildhafte Figurenfülle erzeugen eine hypernervös aufgeladene Atmosphäre und führen eine trancehafte Überschärfe herbei. „Die Unantastbaren“ ist ein Kriminalroman, in dem sich ein fiebriger Großstadt- und Gesellschaftsroman verbirgt, eine soziologisch genaue Milieustudie aus dem kleinbürgerlichen New York. Und eine große Hommage an die einfachen Leute und ihren täglichen Lebenskampf. Dieser Roman ist ein Kaleidoskop der Gegenwart, aber eines, das eher einer Splitterbombe gleicht.
Als kleine Entschädigung für so viel Druckbetankung mit Adrenalin spendiert Price dem Leser ein ironisches Happy End. Nachdem Billy eines Nachts in die Madison Avenue gerufen wird zu einem Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft, gelingt es ausnahmsweise, die Akte noch an Ort und Stelle zu schließen. Der flüchtige Täter wird ein paar Straßen weiter gefasst, die nicht-versicherte Beute der hochbetagten Ladeninhaberin zurückgegeben und damit deren ökonomische Existenz gerettet. Der zuständige Beamte kommt sich vor wie der „verdammte Weihnachtsmann“, als er die reichen Gaben in einem Müllsack aus schwarzem Plastik überreicht. „Die Frau nahm den Sack und blickte hinein auf ihr Leben“, heißt es. Denn für den skeptischen Humanisten Richard Price ist der Ordnungshüter ein heiliger Mann. Und jeder Streifenwagen nichts Geringeres als ein Rentierschlitten mit Polizeisirene.
Richard Price: Die Unantastbaren. Roman. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 432 Seiten,
24,99 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Das Kaleidoskop der sozialen
Wirklichkeit gleicht bei diesem
Autor einer Splitterbombe
Die Nächte beim NYPD seien wie „einzelne Tränen in einem Weinkrampf“, hatte ein ehemaliger Vorgesetzter mal zu Billy gesagt.
Foto: Christopher Anderson / Magnum Photos
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'Mein Krimi des Jahres, mutig und düster. Es ist unmöglich, damit aufzuhören.' Stephen King