Jonathan Franzen war ein Junge, der vor vielem Angst hatte: Tanzunterricht, Pissoiren, seinen Eltern. Er liebte Charlie Brown und wollte auf keinen Fall im Abseits stehen. Im Sommer fuhr er in christliche Feriencamps, und von einer Österreicherin in irritierend kurzen Röcken lernte er erste Brocken Deutsch. Bei seinem Bemühen, endlich seine Jungfräulichkeit zu verlieren, spielte Kafka eine Rolle, wie auch auf seinem Weg zum Schreiben.«Die Unruhezone» ist beides: Geschichte einer Jugend im amerikanischen Mittelwesten und eines Erwachsenenlebens in New York - mit berührenden Schilderungen etwa von Franzens Nöten beim Verkauf des Elternhauses nach dem Tod der Mutter und großartigen Verknüpfungen zwischen seiner gescheiterten Ehe, dem Problem der Erderwärmung und den Lebenslektionen, die man beim Beobachten von Vögeln lernt. Ein vielfarbiges, zwischen komisch-trotziger Selbstbefragung und Empathie oszillierendes Porträt einer amerikanischen Mittelschichtfamilie und eines Menschen in seiner Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007Seht die Vögel unter dem Himmel
Kontrollierte Selbstentblößung: Jonathan Franzen erzählt / Von Felicitas von Lovenberg
Autobiographien rücken einem bisweilen so unangenehm nahe wie der Duft eines aufdringlichen Parfums, dem man im Aufzug nicht entgehen kann und das an einem zu haften scheint. Andere halten trotz einer gewissen Offenheit so viel Distanz, dass die Neugier auf den Verfasser noch gesteigert wird. Bei Jonathan Franzen muss der Leser keines dieser Extreme fürchten. Dieser Schriftsteller zeigt vielleicht ab und an seinen Bauchnabel, aber er zieht sich nicht aus - man würde sich auch nicht wünschen, dass er es täte.
Franzens neues Werk kann man, wie jedes gute Buch, auf verschiedenen Ebenen lesen. Die einen werden es als exhibitionistisch-narzisstisch gestimmte Auskunftsfibel nehmen, als Flaschenpost aus dem Universum eines Schriftstellers, der angesichts weltweiten Ruhms um nahe und ferne Adressaten nicht bangen muss. Andere werden sich mit literaturdetektivischem Interesse auf Franzens Erinnerungen und frühes Leid stürzen, mal deutlichere, mal verstecktere Parallelen zwischen den familiären Erfahrungen des Autors und seinen Romanfiguren suchen und finden. Wieder andere werden das Porträt einer amerikanischen Jugend zwischen Kirchengemeinde und Comiclektüre als soziologischen Befund einer typischen Kleinstadt-Kindheit der behüteten Mittelklasse empfinden. Franzen wahrt die prekäre Balance zwischen dem kindlichen Bedürfnis nach Anpassung und Akzeptanz und der gleichzeitigen Sehnsucht danach, ganz anders zu sein als andere Gleichaltrige, unter seinesgleichen nicht aufzufallen und dennoch als einzigartig wahrgenommen zu werden.
"Die Unruhezone" erzählt, wie der Untertitel es will, eine persönliche Geschichte, "eine Geschichte von mir". Schon der unbestimmte Artikel verrät, dass es sich nur um einen Teil vom Franzenkuchen handelt. Sie erzählt von einem, der auszog, Sinn zu suchen - und ihn in den unwahrscheinlichsten Situationen und Personen fand: etwa im Tragiker Charlie Brown aus den "Peanuts", der nie eine Valentinskarte bekommt. Es ist tröstlich, selbst doch eher Snoopy zu gleichen, diesem "proteischen Schwindler, dessen Unabhängigkeit auf seiner Überzeugung beruht, dass er im Grunde seines Herzens sympathisch ist, der Verwandlungskünstler, der aus reinem Spaß an der Freud zum Hubschrauber, Hockeyspieler oder Oberbeagle werden kann und dann wieder, blitzartig und noch bevor seine Virtuosität Gefahr läuft, einen einzuschüchtern, zum eifrigen kleinen Hund, der einfach sein Fressen will."
Die angelsächsische Angewohnheit, eigene Misserfolge, Peinlichkeiten und Albernheiten zur großen und keinesfalls hämischen Freude des Publikums einzugestehen, ist ein schillerndes Stilmittel. Seine Wirkung beruht auf der bereits im Schulalter erlernten Maxime, dass die Leute sowieso nur dem Anerkannten, dem Coolen zuhören. Wer diesen Beliebtheitsstatus einmal erreicht hat, der darf sich ab sofort produzieren, sich zum Kasper, zum Depp oder zum Pechvogel machen - denn solche Sperenzchen sind lediglich Ausweis der überlegenen Position desjenigen, der sie vollführt. Insofern ist ein Moment wie der, als der kleine Jonathan im Überschwang einer Clownerei zwei Mädchen erst mit seinen Faxen zum Lachen, dann zum erschreckten Kreischen bringt, als er nämlich seine Hose mitsamt der Unterhose herunterzieht, glänzende Literatur - aber kein Grund, sich vor Scham oder Mitgefühl mit dem düpierten Helden zu winden.
Jonathan Franzen mag sich so gekonnt wie gezielt zum Narren machen, niemals aber rutscht ihm etwas heraus, entfahren ihm ungeplante Bekenntnisse, gar Entgleisungen. Darum entfalten seine kontrollierten Enthüllungen ihren Reiz vor allem im Kopf, nicht im Herzen des Lesers. Das gilt selbst für die intimsten Momente des Buches wie die Schilderungen seiner Eltern, zum Großteil Erinnerungen an das Gefühl der Peinlichkeit, das sie im Halbstarkenalter in ihm weckten. Die Distanz wird zwar später abgelöst von unverhohlenem Respekt vor der Mutter, die sich nach der Demenz und dem Tod des Vaters zu voller Größe aufrichtet, aber selbst Liebe und Trauen lösen sie nicht auf.
Wie Franzen seine Themen sortiert und variiert, wie er von seiner Kindheit immer wieder in die Gegenwart zurückschwingt, vom Besonderen ins Allgemeine pendelt und umgekehrt, das hat die schwerelose Eleganz eines Vogels, der die Aufwinde nützt, um sich von den Lüften tragen zu lassen. "Mein Vogelproblem" ist denn auch das letzte der sechs Kapitel überschrieben, und es erzählt, wie Franzen nach dem Tod seiner Mutter im Sommer 1999 zum unverhofften Ornithologen wurde. Außerdem handelt es von seiner gescheiterten ersten Ehe und von Al Gores Einfluss auf das Umweltbewusstsein des Autors. Vor allem aber enthält es eine anrührende Liebeserklärung an seine Lebenspartnerin, die Schriftstellerin Kathryn Chetkovich, hier stets nur "die Kalifornierin" genannt. Einzig im Zusammensein mit ihr und beim Beobachten von Vögeln scheint der Schriftsteller Frieden zu finden - und nicht etwa beim Schreiben oder Lesen von Literatur, die überhaupt eine erstaunlich geringe Rolle zu spielen scheint.
Allerdings macht sich bei Franzens Vogelproblem auch der beunruhigende, für säugetieraffine Menschen geradezu befremdliche Hang der Ornithologen zur Statistik bemerkbar. Kein Hundefreund oder Katzenliebhaber käme je auf die Idee, sämtliche Rassen und Arten, die ihm je untergekommen sind, zu zählen oder gar Buch darüber zu führen. Für Vogelfanatiker gehört das Zählen und Vergleichen hingegen wesentlich dazu. Dahinter steckt erneut das Bedürfnis, sich vom Rest der Welt abzusetzen - wie sich zeigt, als Franzen einmal Vögel in der luxuriösen Einsamkeit einer Privatranch beobachtet: "Fern von picknickenden Menschen und den Busladungen von Schulkindern! Fern von den Bikern, den Offroadern, den Hundebesitzern, den Pärchen, den Müll-Entsorgern, dem Partyvolk, den Massen, denen Vögel gleichgültig sind!" Und hier, in diesem Kapitel, das von den Dingen handelt, die Franzen wichtig sind, ahnt man, worin der eigentliche Sinn bestehen könnte: in der Fähigkeit zu lieben. Braucht das Kind die Zuneigung und Akzeptanz anderer, ganz so wie der Schriftsteller später süchtig ist nach seinem Publikum, zeichnet den privaten Menschen doch die Fähigkeit aus, sich anderen liebend zuzuwenden.
Die Distanz zwischen Buch und Leser bleibt dennoch gewahrt. Wir erfahren über Jonathan Franzen nur, was Jonathan Franzen uns sehen lassen will. Was diese persönlich-unpersönliche Geschichte ausmacht, ist die Freiheit, in der sie verfasst wurde. Es gehört innere Freiheit dazu, so über sich - und dann wieder nicht über sich - zu schreiben, wie Jonathan Franzen es hier tut. Wer je das Vergnügen hatte, diesen Schriftstellerstar vor Publikum zu erleben, weiß, wie sehr er im Mittelpunkt in seinem Element ist. Auch in diesem Buch ist er ganz bei sich, in mehrfacher Hinsicht. Wir erleben einen Autor, hin- und hergerissen zwischen dem Optimisten in sich, der glaubt, dass er in der besten aller möglichen Welten lebt, und dem pessimistischen Zwilling, der fürchtet, dass das tatsächlich der Fall sein könnte. Snoopys bester Freund ist ja übrigens auch - ein Vogel.
Jonathan Franzen: "Die Unruhezone". Eine Geschichte von mir. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007. 254 S., geb., 19,90 [Euro].
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Kontrollierte Selbstentblößung: Jonathan Franzen erzählt / Von Felicitas von Lovenberg
Autobiographien rücken einem bisweilen so unangenehm nahe wie der Duft eines aufdringlichen Parfums, dem man im Aufzug nicht entgehen kann und das an einem zu haften scheint. Andere halten trotz einer gewissen Offenheit so viel Distanz, dass die Neugier auf den Verfasser noch gesteigert wird. Bei Jonathan Franzen muss der Leser keines dieser Extreme fürchten. Dieser Schriftsteller zeigt vielleicht ab und an seinen Bauchnabel, aber er zieht sich nicht aus - man würde sich auch nicht wünschen, dass er es täte.
Franzens neues Werk kann man, wie jedes gute Buch, auf verschiedenen Ebenen lesen. Die einen werden es als exhibitionistisch-narzisstisch gestimmte Auskunftsfibel nehmen, als Flaschenpost aus dem Universum eines Schriftstellers, der angesichts weltweiten Ruhms um nahe und ferne Adressaten nicht bangen muss. Andere werden sich mit literaturdetektivischem Interesse auf Franzens Erinnerungen und frühes Leid stürzen, mal deutlichere, mal verstecktere Parallelen zwischen den familiären Erfahrungen des Autors und seinen Romanfiguren suchen und finden. Wieder andere werden das Porträt einer amerikanischen Jugend zwischen Kirchengemeinde und Comiclektüre als soziologischen Befund einer typischen Kleinstadt-Kindheit der behüteten Mittelklasse empfinden. Franzen wahrt die prekäre Balance zwischen dem kindlichen Bedürfnis nach Anpassung und Akzeptanz und der gleichzeitigen Sehnsucht danach, ganz anders zu sein als andere Gleichaltrige, unter seinesgleichen nicht aufzufallen und dennoch als einzigartig wahrgenommen zu werden.
"Die Unruhezone" erzählt, wie der Untertitel es will, eine persönliche Geschichte, "eine Geschichte von mir". Schon der unbestimmte Artikel verrät, dass es sich nur um einen Teil vom Franzenkuchen handelt. Sie erzählt von einem, der auszog, Sinn zu suchen - und ihn in den unwahrscheinlichsten Situationen und Personen fand: etwa im Tragiker Charlie Brown aus den "Peanuts", der nie eine Valentinskarte bekommt. Es ist tröstlich, selbst doch eher Snoopy zu gleichen, diesem "proteischen Schwindler, dessen Unabhängigkeit auf seiner Überzeugung beruht, dass er im Grunde seines Herzens sympathisch ist, der Verwandlungskünstler, der aus reinem Spaß an der Freud zum Hubschrauber, Hockeyspieler oder Oberbeagle werden kann und dann wieder, blitzartig und noch bevor seine Virtuosität Gefahr läuft, einen einzuschüchtern, zum eifrigen kleinen Hund, der einfach sein Fressen will."
Die angelsächsische Angewohnheit, eigene Misserfolge, Peinlichkeiten und Albernheiten zur großen und keinesfalls hämischen Freude des Publikums einzugestehen, ist ein schillerndes Stilmittel. Seine Wirkung beruht auf der bereits im Schulalter erlernten Maxime, dass die Leute sowieso nur dem Anerkannten, dem Coolen zuhören. Wer diesen Beliebtheitsstatus einmal erreicht hat, der darf sich ab sofort produzieren, sich zum Kasper, zum Depp oder zum Pechvogel machen - denn solche Sperenzchen sind lediglich Ausweis der überlegenen Position desjenigen, der sie vollführt. Insofern ist ein Moment wie der, als der kleine Jonathan im Überschwang einer Clownerei zwei Mädchen erst mit seinen Faxen zum Lachen, dann zum erschreckten Kreischen bringt, als er nämlich seine Hose mitsamt der Unterhose herunterzieht, glänzende Literatur - aber kein Grund, sich vor Scham oder Mitgefühl mit dem düpierten Helden zu winden.
Jonathan Franzen mag sich so gekonnt wie gezielt zum Narren machen, niemals aber rutscht ihm etwas heraus, entfahren ihm ungeplante Bekenntnisse, gar Entgleisungen. Darum entfalten seine kontrollierten Enthüllungen ihren Reiz vor allem im Kopf, nicht im Herzen des Lesers. Das gilt selbst für die intimsten Momente des Buches wie die Schilderungen seiner Eltern, zum Großteil Erinnerungen an das Gefühl der Peinlichkeit, das sie im Halbstarkenalter in ihm weckten. Die Distanz wird zwar später abgelöst von unverhohlenem Respekt vor der Mutter, die sich nach der Demenz und dem Tod des Vaters zu voller Größe aufrichtet, aber selbst Liebe und Trauen lösen sie nicht auf.
Wie Franzen seine Themen sortiert und variiert, wie er von seiner Kindheit immer wieder in die Gegenwart zurückschwingt, vom Besonderen ins Allgemeine pendelt und umgekehrt, das hat die schwerelose Eleganz eines Vogels, der die Aufwinde nützt, um sich von den Lüften tragen zu lassen. "Mein Vogelproblem" ist denn auch das letzte der sechs Kapitel überschrieben, und es erzählt, wie Franzen nach dem Tod seiner Mutter im Sommer 1999 zum unverhofften Ornithologen wurde. Außerdem handelt es von seiner gescheiterten ersten Ehe und von Al Gores Einfluss auf das Umweltbewusstsein des Autors. Vor allem aber enthält es eine anrührende Liebeserklärung an seine Lebenspartnerin, die Schriftstellerin Kathryn Chetkovich, hier stets nur "die Kalifornierin" genannt. Einzig im Zusammensein mit ihr und beim Beobachten von Vögeln scheint der Schriftsteller Frieden zu finden - und nicht etwa beim Schreiben oder Lesen von Literatur, die überhaupt eine erstaunlich geringe Rolle zu spielen scheint.
Allerdings macht sich bei Franzens Vogelproblem auch der beunruhigende, für säugetieraffine Menschen geradezu befremdliche Hang der Ornithologen zur Statistik bemerkbar. Kein Hundefreund oder Katzenliebhaber käme je auf die Idee, sämtliche Rassen und Arten, die ihm je untergekommen sind, zu zählen oder gar Buch darüber zu führen. Für Vogelfanatiker gehört das Zählen und Vergleichen hingegen wesentlich dazu. Dahinter steckt erneut das Bedürfnis, sich vom Rest der Welt abzusetzen - wie sich zeigt, als Franzen einmal Vögel in der luxuriösen Einsamkeit einer Privatranch beobachtet: "Fern von picknickenden Menschen und den Busladungen von Schulkindern! Fern von den Bikern, den Offroadern, den Hundebesitzern, den Pärchen, den Müll-Entsorgern, dem Partyvolk, den Massen, denen Vögel gleichgültig sind!" Und hier, in diesem Kapitel, das von den Dingen handelt, die Franzen wichtig sind, ahnt man, worin der eigentliche Sinn bestehen könnte: in der Fähigkeit zu lieben. Braucht das Kind die Zuneigung und Akzeptanz anderer, ganz so wie der Schriftsteller später süchtig ist nach seinem Publikum, zeichnet den privaten Menschen doch die Fähigkeit aus, sich anderen liebend zuzuwenden.
Die Distanz zwischen Buch und Leser bleibt dennoch gewahrt. Wir erfahren über Jonathan Franzen nur, was Jonathan Franzen uns sehen lassen will. Was diese persönlich-unpersönliche Geschichte ausmacht, ist die Freiheit, in der sie verfasst wurde. Es gehört innere Freiheit dazu, so über sich - und dann wieder nicht über sich - zu schreiben, wie Jonathan Franzen es hier tut. Wer je das Vergnügen hatte, diesen Schriftstellerstar vor Publikum zu erleben, weiß, wie sehr er im Mittelpunkt in seinem Element ist. Auch in diesem Buch ist er ganz bei sich, in mehrfacher Hinsicht. Wir erleben einen Autor, hin- und hergerissen zwischen dem Optimisten in sich, der glaubt, dass er in der besten aller möglichen Welten lebt, und dem pessimistischen Zwilling, der fürchtet, dass das tatsächlich der Fall sein könnte. Snoopys bester Freund ist ja übrigens auch - ein Vogel.
Jonathan Franzen: "Die Unruhezone". Eine Geschichte von mir. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007. 254 S., geb., 19,90 [Euro].
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