Johannes blickt zurück auf eine ostdeutsche Kindheit, die von feinen Rissen durchzogen war. Der frühe Tod seiner Mutter, das rätselhafte Verschwinden seines Vaters. All seine Fragen dazu blieben unbeantwortet, weshalb er noch als Erwachsener vorsichtig tastend durchs Leben geht. Ein melancholischer Eigenbrötler, der sich in einer stillen Existenz eingerichtet hat.Als Johannes in einer alten Kiste auf einen Brief stößt - adressiert an seinen Vater und abgeschickt nur wenige Tage, bevor dieser den Sohn wortlos verlassen hatte -, verändert dieser Fund nicht nur seine Zukunft, sondern vor allem seine Vergangenheit als Kind der Vorwende-DDR. Seine Erinnerungen sortieren sich neu und mit ihnen sein Blick auf das eigene Leben.In eindringlicher Dichte und mit kraftvoller Klarheit erzählt Matthias Jügler von Verlust und Verrat, vom Wert des Erinnerns und den drängenden Fragen einer ganzen Generation. Ein warmherziger, leuchtender Roman von außergewöhnlicher sprachlicher Intensität.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.05.2021Glaube deinen
Symptomen
Familiengeheimnisse in Matthias
Jüglers Roman „Die Verlassenen“
Wenn Kinder in deutschen Romanen rätselhafte Symptome aufweisen, ist meistens was mit der Vergangenheit. Darauf kommen die Ärzte natürlich nicht. In „Die Verlassenen“, dem neuen Roman des 1984 in Halle (Saale) geborenen Schriftstellers Matthias Jügler, wird der Erzähler einmal geradeheraus von einem Arzt gefragt, ob er simuliere, nachdem Pfeiffersches Drüsenfieber und Multiple Sklerose ausgeschlossen wurden, er aber trotzdem noch diese rätselhafte Abgeschlagenheit hat.
Häufig kommt dann bald raus, dass der Vater/Onkel/Großvater in Russland Schuld auf sich geladen hat und dass diese Schuld über die Nervenenden des Sprösslings jetzt ihren Weg zur Sühne sucht. Oder es gibt ein geheimes Kind im Ural. Oder aber es verhält sich wie beim schwedischen „Uppgivenhetssyndrom“, dem Resignationssyndrom, das seit 2003 in Schweden Hunderte Kinder erfasst hat und das ausschließlich in Familien von Geflüchteten vorkommt, denen nach Jahren der Aufenthaltsstatus entzogen wurde. Die Kinder schlafen ununterbrochen und noch sind keine organischen Ursachen festgestellt worden. Weil das Syndrom ausschließlich in Familien aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, bei Jesiden und Uiguren auftritt, nicht aber unter Geflüchteten aus anderen Erdteilen, geht man davon aus, dass es mit einer spezifischen Kombination aus Kriegs-, Vertreibungs- und Asylverweigerungserfahrungen zu tun haben muss.
So ein Resignationssyndrom erfasst auch Jüglers Ich-Erzähler, der nach dem Ende der DDR ohne Eltern bei der Großmutter in Halle aufwächst. Die Mutter ist tot, der Vater verschwunden, ein großes Geheimnis wirft seine Schatten voraus. Eines Tages trifft ein Brief ein und alles kommt ans Licht. Die tragische Schicksalhaftigkeit des Romans hat leider etwas Aufdringliches, die Sprache ist seltsam ungelenk, immer wieder „widerfährt“ dem Erzähler „derlei“ „des Öfteren“.
Das mag ein Stilmittel sein: Der Erzähler ist kein Homme de lettres, sondern arbeitet in der städtischen Verwaltung, was er vor allem deshalb genießt, weil er dort oft mehrere Stunden am Tag allein in seinem Büro ist. Ein Houellebecq’scher Jedermann, ohne jede besondere Qualität, der durch seinen ereignisfreien Alltag gleitet und leise altert. Bis eines Tages der verhängnisvolle Brief eintrifft. Und dass dieser Satz klingt, als kündige er einen öffentlich-rechtlichen Mittwochskrimi an, ist eben auch das Problem dieses Romans.
Trotzdem markiert er einen Einschnitt, er eröffnet eine Diskussion: Die Nachgeborenen der DDR-Diktatur fangen an, sich über die Verbrechen Gedanken zu machen, die ihre Eltern einander angetan haben und welche Spuren diese Verbrechen auch in den folgenden Generationen hinterlassen. Die Frage, die dieses Buch stellt, kommt keine Minute zu früh.
FELIX STEPHAN
Matthias Jügler: Die Verlassenen. Roman. Penguin, München 2021.
176 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Symptomen
Familiengeheimnisse in Matthias
Jüglers Roman „Die Verlassenen“
Wenn Kinder in deutschen Romanen rätselhafte Symptome aufweisen, ist meistens was mit der Vergangenheit. Darauf kommen die Ärzte natürlich nicht. In „Die Verlassenen“, dem neuen Roman des 1984 in Halle (Saale) geborenen Schriftstellers Matthias Jügler, wird der Erzähler einmal geradeheraus von einem Arzt gefragt, ob er simuliere, nachdem Pfeiffersches Drüsenfieber und Multiple Sklerose ausgeschlossen wurden, er aber trotzdem noch diese rätselhafte Abgeschlagenheit hat.
Häufig kommt dann bald raus, dass der Vater/Onkel/Großvater in Russland Schuld auf sich geladen hat und dass diese Schuld über die Nervenenden des Sprösslings jetzt ihren Weg zur Sühne sucht. Oder es gibt ein geheimes Kind im Ural. Oder aber es verhält sich wie beim schwedischen „Uppgivenhetssyndrom“, dem Resignationssyndrom, das seit 2003 in Schweden Hunderte Kinder erfasst hat und das ausschließlich in Familien von Geflüchteten vorkommt, denen nach Jahren der Aufenthaltsstatus entzogen wurde. Die Kinder schlafen ununterbrochen und noch sind keine organischen Ursachen festgestellt worden. Weil das Syndrom ausschließlich in Familien aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, bei Jesiden und Uiguren auftritt, nicht aber unter Geflüchteten aus anderen Erdteilen, geht man davon aus, dass es mit einer spezifischen Kombination aus Kriegs-, Vertreibungs- und Asylverweigerungserfahrungen zu tun haben muss.
So ein Resignationssyndrom erfasst auch Jüglers Ich-Erzähler, der nach dem Ende der DDR ohne Eltern bei der Großmutter in Halle aufwächst. Die Mutter ist tot, der Vater verschwunden, ein großes Geheimnis wirft seine Schatten voraus. Eines Tages trifft ein Brief ein und alles kommt ans Licht. Die tragische Schicksalhaftigkeit des Romans hat leider etwas Aufdringliches, die Sprache ist seltsam ungelenk, immer wieder „widerfährt“ dem Erzähler „derlei“ „des Öfteren“.
Das mag ein Stilmittel sein: Der Erzähler ist kein Homme de lettres, sondern arbeitet in der städtischen Verwaltung, was er vor allem deshalb genießt, weil er dort oft mehrere Stunden am Tag allein in seinem Büro ist. Ein Houellebecq’scher Jedermann, ohne jede besondere Qualität, der durch seinen ereignisfreien Alltag gleitet und leise altert. Bis eines Tages der verhängnisvolle Brief eintrifft. Und dass dieser Satz klingt, als kündige er einen öffentlich-rechtlichen Mittwochskrimi an, ist eben auch das Problem dieses Romans.
Trotzdem markiert er einen Einschnitt, er eröffnet eine Diskussion: Die Nachgeborenen der DDR-Diktatur fangen an, sich über die Verbrechen Gedanken zu machen, die ihre Eltern einander angetan haben und welche Spuren diese Verbrechen auch in den folgenden Generationen hinterlassen. Die Frage, die dieses Buch stellt, kommt keine Minute zu früh.
FELIX STEPHAN
Matthias Jügler: Die Verlassenen. Roman. Penguin, München 2021.
176 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2021Nicht einmal in der Datsche war man unbeobachtet
Lähmendes Schweigen: Matthias Jügler erzählt in "Die Verlassenen" vom finsteren Erbe, das die Stasi hinterlassen hat
Gerade einmal 170 Seiten umfasst der Roman "Die Verlassenen" des 1984 in Halle geborenen Matthias Jügler - konsequenterweise, denn nicht alle Leerstellen der ungeheuerlichen Geschichte, die sein Erzähler rekonstruiert, lassen sich rückblickend schließen. Denn es geht nicht um Verdrängtes, sondern um willkürlich Verschleiertes. Was dem Erzähler, einem jungen Mann, der gerade selbst eher widerstrebend eine Familie gegründet hat, geblieben ist, sind die Erinnerungen an schmerzhafte biographische Zäsuren: der frühe Tod der Mutter, das plötzliche, nicht erklärte Verschwinden des Vaters, eines Schriftstellers, einige Jahre darauf, schließlich das Sterben der Großmutter, bei der er nach dem Weggang des Vaters lebte.
Jahrzehnte später wird durch einen Zufallsfund der Verlust der Eltern schlagartig zu einer vollkommen anderen Geschichte. Es beeindruckt nachhaltig, wie Matthias Jügler diese Geschichte ebenso konzise und unaufgeregt wie gleichermaßen eindrücklich und eindringlich zu erzählen versteht. Gebannt folgt man einer sukzessiven Enthüllung, wobei die Spannung, die "Die Verlassenen" grundiert und die durch das Prinzip von Ankündigung und retardierendem Moment intensiviert wird, kein dramaturgischer Selbstzweck ist, sondern vielmehr der Psychologie des Erzählers entspricht, der das, was seiner Familie widerfahren ist, nur stockend begreifen zu können scheint.
An dieser Stelle sei es abgekürzt: Matthias Jügler erzählt von dem gewaltsamen Einbruch einer undemokratischen Politik in die Privatsphäre, von den Machenschaften der Staatssicherheit, die Ideologie nicht nur über das Recht auf Freiheit, sondern auch über die Menschenwürde und das Menschenleben stellte. Und er erzählt damit von einem düsteren Erbe, das die DDR hinterlassen hat und das sich in die Biographien nachfolgender Generationen eingeschrieben hat, umso mehr, je weniger es Gegenstand innerfamiliären und öffentlichen Gesprächs ist. "Die Verlassenen" heißt Jüglers Roman, nicht "Der Verlassene" - der Plural lässt sich als Verweis darauf lesen, dass er keineswegs ein tragisches Einzelschicksal erzählen will, sondern ein symptomatisches, wenngleich drastisches.
Der authentisch anmutenden, aber fiktiven Stasi-Unterlagen und der handschriftlichen Gefälligkeitsbekundungen eines IM, die dem Text eingefügt sind, hätte es gar nicht bedurft als Realitätsversicherung; dennoch versehen sie den Roman mit einer zusätzlichen finsteren Unterspur. Mehr noch leistet das der Dank im Impressum für Bilder und Inspiration, der dem ostdeutschen Künstlerpaar Grita und Mario Götze und deren Tochter gilt.
Matthias Jügler thematisiert aber nicht nur eine Schuld, die jene eines Systems oder dessen unmittelbarer Handlanger ist. Es geht um mehr, um das Gesamtgefüge. Die Gesellschaft, die "Die Verlassenen" in den Blick nimmt, ist bestimmt vom Schweigen - und das in einem ebenso grundsätzlichen wie bleischweren Sinn. Nicht nur geht der Vater des Erzählers, ohne sich je wieder bei seinem Sohn zu melden. Auch die Großmutter, gleichwohl sie sich um den Jungen kümmert und die beiden sich nahe sind, belegt das Verschwinden des Vaters bald mit einem unausgesprochenen Redeverbot, nachdem zunächst noch mehr oder weniger halbherzig von beruflichen Reisen, zu denen dieser gezwungen gewesen sei, gesprochen wird.
Kaum anderes als Schweigen begegnet dem Jungen auch in der Schule, wo zwar alle wissen, dass er ohne Eltern lebt, aber niemand ihn darauf anspricht. Im Englischunterricht, als er die Formel "an elephant in the room" übersetzen soll, wird ihm das Tönende dieser Stummheit zum ersten Mal mit aller Macht bewusst. Dass der Junge sich das Schweigen fortan aneignet, sich abkapselt von seiner Umgebung, mit der ein wirklicher Austausch ohnehin nicht möglich scheint, kann kaum verwundern. Von trauriger Logik wiederum muten die Symptome an, die ihn mehr als ein Jahr nach dem wortlosen Verschwinden des Vaters zu quälen beginnen: Lähmende Müdigkeit und Erschöpfung befallen ihn, der bald kaum mehr das Bett verlassen kann. Die konsultierten Ärzte sind ratlos. Aber welche körperliche Diagnose hätte man finden sollen?
Zu einer der schönsten Episode in Jüglers Roman zählt jene, als der bald Volljährige nach dem Tod der Großmutter zum ersten Mal die Kraft aufbringen kann, an den Sehnsuchtsort seiner Kindheit zurückzukehren: in jene Datsche, in der er mit dem Vater die Sommer verbrachte - nicht wissend, dass das auch der Ort war, an dem seine Eltern sich mit anderen regimekritischen Intellektuellen und Künstlern trafen. Der Traum von einem autarken Leben, autark vor allem von den Verletzungen, die ihm zugefügt wurden, lässt den Jungen Tage voller Energie verbringen: Er streicht das Häuschen, pflanzt Kartoffeln. Der Außenseiter kommt sogar auf die Idee, eine Feier zu seinem achtzehnten Geburtstag zu organisieren. Der Auf- und Ausbruchsversuch scheitert auf ganzer Linie, und das nicht nur, weil die Kartoffeln nicht gedeihen wollen.
Es ist der Zufallsfund - den man womöglich als ein wenig konstruiert bekritteln könnte -, der den Erzähler schließlich zu einer Reise nach Norwegen aufbrechen lässt. Auf wen er dort trifft und ob er sein von Kindheit an aus der Bahn geworfenes Leben wieder wird kalibrieren können, soll an dieser Stelle offenbleiben und einmal mehr zur Lektüre dieses Romans einladen.
WIEBKE POROMBKA
Matthias Jügler: "Die Verlassenen", Roman.
Penguin Verlag, München 2021. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lähmendes Schweigen: Matthias Jügler erzählt in "Die Verlassenen" vom finsteren Erbe, das die Stasi hinterlassen hat
Gerade einmal 170 Seiten umfasst der Roman "Die Verlassenen" des 1984 in Halle geborenen Matthias Jügler - konsequenterweise, denn nicht alle Leerstellen der ungeheuerlichen Geschichte, die sein Erzähler rekonstruiert, lassen sich rückblickend schließen. Denn es geht nicht um Verdrängtes, sondern um willkürlich Verschleiertes. Was dem Erzähler, einem jungen Mann, der gerade selbst eher widerstrebend eine Familie gegründet hat, geblieben ist, sind die Erinnerungen an schmerzhafte biographische Zäsuren: der frühe Tod der Mutter, das plötzliche, nicht erklärte Verschwinden des Vaters, eines Schriftstellers, einige Jahre darauf, schließlich das Sterben der Großmutter, bei der er nach dem Weggang des Vaters lebte.
Jahrzehnte später wird durch einen Zufallsfund der Verlust der Eltern schlagartig zu einer vollkommen anderen Geschichte. Es beeindruckt nachhaltig, wie Matthias Jügler diese Geschichte ebenso konzise und unaufgeregt wie gleichermaßen eindrücklich und eindringlich zu erzählen versteht. Gebannt folgt man einer sukzessiven Enthüllung, wobei die Spannung, die "Die Verlassenen" grundiert und die durch das Prinzip von Ankündigung und retardierendem Moment intensiviert wird, kein dramaturgischer Selbstzweck ist, sondern vielmehr der Psychologie des Erzählers entspricht, der das, was seiner Familie widerfahren ist, nur stockend begreifen zu können scheint.
An dieser Stelle sei es abgekürzt: Matthias Jügler erzählt von dem gewaltsamen Einbruch einer undemokratischen Politik in die Privatsphäre, von den Machenschaften der Staatssicherheit, die Ideologie nicht nur über das Recht auf Freiheit, sondern auch über die Menschenwürde und das Menschenleben stellte. Und er erzählt damit von einem düsteren Erbe, das die DDR hinterlassen hat und das sich in die Biographien nachfolgender Generationen eingeschrieben hat, umso mehr, je weniger es Gegenstand innerfamiliären und öffentlichen Gesprächs ist. "Die Verlassenen" heißt Jüglers Roman, nicht "Der Verlassene" - der Plural lässt sich als Verweis darauf lesen, dass er keineswegs ein tragisches Einzelschicksal erzählen will, sondern ein symptomatisches, wenngleich drastisches.
Der authentisch anmutenden, aber fiktiven Stasi-Unterlagen und der handschriftlichen Gefälligkeitsbekundungen eines IM, die dem Text eingefügt sind, hätte es gar nicht bedurft als Realitätsversicherung; dennoch versehen sie den Roman mit einer zusätzlichen finsteren Unterspur. Mehr noch leistet das der Dank im Impressum für Bilder und Inspiration, der dem ostdeutschen Künstlerpaar Grita und Mario Götze und deren Tochter gilt.
Matthias Jügler thematisiert aber nicht nur eine Schuld, die jene eines Systems oder dessen unmittelbarer Handlanger ist. Es geht um mehr, um das Gesamtgefüge. Die Gesellschaft, die "Die Verlassenen" in den Blick nimmt, ist bestimmt vom Schweigen - und das in einem ebenso grundsätzlichen wie bleischweren Sinn. Nicht nur geht der Vater des Erzählers, ohne sich je wieder bei seinem Sohn zu melden. Auch die Großmutter, gleichwohl sie sich um den Jungen kümmert und die beiden sich nahe sind, belegt das Verschwinden des Vaters bald mit einem unausgesprochenen Redeverbot, nachdem zunächst noch mehr oder weniger halbherzig von beruflichen Reisen, zu denen dieser gezwungen gewesen sei, gesprochen wird.
Kaum anderes als Schweigen begegnet dem Jungen auch in der Schule, wo zwar alle wissen, dass er ohne Eltern lebt, aber niemand ihn darauf anspricht. Im Englischunterricht, als er die Formel "an elephant in the room" übersetzen soll, wird ihm das Tönende dieser Stummheit zum ersten Mal mit aller Macht bewusst. Dass der Junge sich das Schweigen fortan aneignet, sich abkapselt von seiner Umgebung, mit der ein wirklicher Austausch ohnehin nicht möglich scheint, kann kaum verwundern. Von trauriger Logik wiederum muten die Symptome an, die ihn mehr als ein Jahr nach dem wortlosen Verschwinden des Vaters zu quälen beginnen: Lähmende Müdigkeit und Erschöpfung befallen ihn, der bald kaum mehr das Bett verlassen kann. Die konsultierten Ärzte sind ratlos. Aber welche körperliche Diagnose hätte man finden sollen?
Zu einer der schönsten Episode in Jüglers Roman zählt jene, als der bald Volljährige nach dem Tod der Großmutter zum ersten Mal die Kraft aufbringen kann, an den Sehnsuchtsort seiner Kindheit zurückzukehren: in jene Datsche, in der er mit dem Vater die Sommer verbrachte - nicht wissend, dass das auch der Ort war, an dem seine Eltern sich mit anderen regimekritischen Intellektuellen und Künstlern trafen. Der Traum von einem autarken Leben, autark vor allem von den Verletzungen, die ihm zugefügt wurden, lässt den Jungen Tage voller Energie verbringen: Er streicht das Häuschen, pflanzt Kartoffeln. Der Außenseiter kommt sogar auf die Idee, eine Feier zu seinem achtzehnten Geburtstag zu organisieren. Der Auf- und Ausbruchsversuch scheitert auf ganzer Linie, und das nicht nur, weil die Kartoffeln nicht gedeihen wollen.
Es ist der Zufallsfund - den man womöglich als ein wenig konstruiert bekritteln könnte -, der den Erzähler schließlich zu einer Reise nach Norwegen aufbrechen lässt. Auf wen er dort trifft und ob er sein von Kindheit an aus der Bahn geworfenes Leben wieder wird kalibrieren können, soll an dieser Stelle offenbleiben und einmal mehr zur Lektüre dieses Romans einladen.
WIEBKE POROMBKA
Matthias Jügler: "Die Verlassenen", Roman.
Penguin Verlag, München 2021. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main