Das New York des antiken Mittelmeers
Vor 2500 Jahren war Syrakus auf Sizilien für die Griechen das New York des Mittelmeers: Aischylos brachte hier Stücke zur Uraufführung, Platon reiste aus Athen gleich dreimal an, der Tyrann Dionysios ersteigerte die Lyra des Euripides, und die schmachtende Nymphe Arethusa versteckte sich im Papyrushain. Dass all das heute noch präsent ist, erfuhr Joachim Sartorius, als er Syrakus zu seinem zweiten Lebensmittelpunkt machte. An seiner Seite wandern wir mit Nymphen und Zyklopen durch Ortigia, die auf einer Insel liegende Altstadt, und treffen ganz heutige Barone, Polizisten, Künstler und Barbiere. Vor unseren Augen entfaltet Sartorius die Tiefe der sizilianischen Geschichte, das Neben- und Übereinander von Kulturen, Stilen und Lebenshaltungen und fügt Details der modernen und antiken, der barocken und der zeitgenössischen Welt zu einem impressionistischen Stadtbild von großer Leuchtkraft.
Ungekürzte Lesung mit Christian Brückner 15
MP3-CD, ca. 4h
Vor 2500 Jahren war Syrakus auf Sizilien für die Griechen das New York des Mittelmeers: Aischylos brachte hier Stücke zur Uraufführung, Platon reiste aus Athen gleich dreimal an, der Tyrann Dionysios ersteigerte die Lyra des Euripides, und die schmachtende Nymphe Arethusa versteckte sich im Papyrushain. Dass all das heute noch präsent ist, erfuhr Joachim Sartorius, als er Syrakus zu seinem zweiten Lebensmittelpunkt machte. An seiner Seite wandern wir mit Nymphen und Zyklopen durch Ortigia, die auf einer Insel liegende Altstadt, und treffen ganz heutige Barone, Polizisten, Künstler und Barbiere. Vor unseren Augen entfaltet Sartorius die Tiefe der sizilianischen Geschichte, das Neben- und Übereinander von Kulturen, Stilen und Lebenshaltungen und fügt Details der modernen und antiken, der barocken und der zeitgenössischen Welt zu einem impressionistischen Stadtbild von großer Leuchtkraft.
Ungekürzte Lesung mit Christian Brückner 15
MP3-CD, ca. 4h
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Schaurausch im Alltäglichsten
Von Friedrich II. und dem Einwickelpapier des Caffè Parisi: Joachim Sartorius erklärt seine Liebe zur sizilianischen Stadt Syrakus.
Von Angelika Overath
Gute Texte haben eine Erlebnisqualität. Sie nehmen uns mit in die Lagunen der Sprache, auf seelische Inseln oder schlicht an Orte, die auf den Karten zu finden sind. Aber so real sie auch sein mögen, nie wird ein Reisender in die besondere Wirklichkeit eintreten, in die das Erzählen ihn führt. Wenn das Wechselspiel der Imagination beginnt, dieses schöne Hin und Her zwischen Welterfassung des Autors und unserer Vorstellungskraft, die ihr folgt und dann doch eigene Wege des Erinnerns und des Assoziierens geht.
Syrakus, an der südöstlichen Küste Siziliens gelegen, war einmal eine der wichtigsten Metropolen der Welt. Und Ortigia, die kleine Insel-Altstadt, ihr Zentrum. Joachim Sartorius hat eine "Versuchung von Syrakus" geschrieben, die beides ist: der Versuch, auf wenigen Seiten ein so geschichtsträchtiges und kulturell aufgeladenes Territorium in ein Porträt zu fassen und dieses wetterleuchtende Gesicht der Stadt zu einer Verführung werden zu lassen. Dabei setzt der Autor ganz auf seine Intimität, seine poetische Unio mit seinem Gegenstand. "Jetzt bin ich schon so lange hier, dass ich einige Dinge betrachten kann, als wären sie von mir geschrieben. Wenn ich im Caffè Minerva sitze und auf die Fassade des Hotels Roma schaue, sage ich mir, dass dieses Rosa mein Rosa ist, diese Fensterläden meine Fensterläden sind, die ich öffne, um auf mich herunterzublicken."
Seine Freunde, seine Nachbarn werden zu Spiegeln, in denen die unterschiedlichsten Splitter der Stadt aufscheinen. Da ist Giuseppe Monteleone, pensionierter Polizist mit Musikstudio (Akkordeon, Keyboard, Schlagzeug; aber keine Märsche, lieber Melancholisches!), oder der Barbier Salvatore Sparatore, der "Pomaden-Artist", der das Messer am Leder schärft, über die Haut kratzt, mit lauwarmem Waschlappen die Schaumreste tilgt und zur Menthol-Eukalyptus-Salbe für die frischglatte Haut greift. Oder die Übersetzerin Dora Suma, das Gastarbeiterkind, das wider Willen mit kaum vierzehn Jahren aus Süddeutschland zurück nach Syrakus musste, eine Entwurzelte, die in Italien behüteter aufwachsen sollte. Und dann in Syrakus mit siebzehn Mutter wird. Oder der Baron Lucio Tasca di Lignari, mit der wunderbaren Münzsammlung, in dessen "Massigkeit und Müdigkeit" der Fürst aus Lampedusas "Il Gattopardo" zurückkommt. Oder der Maler Gaetano Tranchino, der die unwirklichste Inselwirklichkeit schafft mit seinen schrägen Dampfern, seinen gewitternden Palmen.
Und mit dem Designer Carlo Coniglio, der wie ein "modisch gekleideter Angsthase" aussieht und sich "zum Ausgleich eine Dogge" zugelegt hat, trifft sich der Autor zum Frühstück im Hotel Roma, in dem schon Ezra Pound und William Butler Yeats logierten. Joachim Sartorius führt in die Paläste und Weinberge des altsizilianischen Adels, aber er geht auch zum Bahnhof, in die "Station Bar", wo Prostituierte in Glitzerflipflops Pause machen. Er zeigt uns Restaurants und Buchhandlungen, Katakomben und den Acker der Kinder, deren Geburt in ihr Todesjahr fiel. Und allgegenwärtig ist das Meer, taubengrau, wachtelgrau (Ortigia ist die "Wachtelinsel") und im Sommer: "Tiefblau, tiefes Blau, rabiates Blau, schroffes Blau oder in der Nähe des Ufers karibikgrün, giftgrün wie Glas, wie Waldmeistergelee."
Der Autor erzählt von den Aufführungen im antiken Theater, und er zählt die dreißig Palmen von Ortigia, er bringt uns den legendären Staufer Friedrich II. nahe und die Aura der Heiligen Lucia. Und all seine wunderbaren Miniaturen könnte er in das alte Einwickelpapier des Caffè Parisi schlagen, denn ihm kann alles kostbar sein. Er ist empfänglich wie eine Leier, ausgesetzt auf den Bergen Ortigias.
Sartorius schreibt Syrakus nicht schön. Er sieht die Bausünden, die Lethargie der Bewohner, die nur noch an den Tourismus glauben. Und bekommt keine Antwort auf die Frage, wohin die Katzen verschwunden sind (er kann sie sich selbst geben: ein von der Stadt organisiertes Katzenmassaker). Doch er bleibt glücksanfällig. Und zu seinem Glück gehören die Überblendungen durch Literatur und Kunst. Es kann sein, dass er vom Markt in Palermo spricht und dann hinreißend das Bild beschreibt, das Renato Guttuso von diesem Markt gemalt hat. Oder er zeigt die Szene eines randständigen Musikanten mit zerschrammtem Akkordeon auf einem Platz und findet zurück zum Gemälde "Der Narr von Syrakus" von István Farkas. Einmal hatte er dieses Bild in Budapest gesehen und in dem Narren Van Gogh in der Gluthitze von Arles erkannt. Und von Farkas kommt er auf Francis Bacon, der den geschundenen Van Gogh mit auf den Rücken gebundener Staffelei auf einer provenzalischen Landstraße malte: "Hier hat sich Van Gogh in den Verrückten von Syrakus verwandelt."
Die Imagination darf alles, und dem offenen Ich geschieht der Schaurausch im Alltäglichsten. Vor ihm steigt die Nymphe ins Wasser, und Italo Svevo quert mit Strohhut den Platz. Wir blättern die Seite um und geraten in die nächste frische Szene: Solarien, Plattformen "aus festen, aneinandergefügten Spanholzplatten auf einem Gerüst aus Eisenstangen über dem Meer". Eine Bühne! Frühmorgens kommen die sportlichen Vier-Kilometer-Schwimmer, dann die älteren Damen, die sich bräunen lassen, die Schulklassen, die Touristen. Gegen Abend die "Liebhaber der späten Farben", dann die Ragazzi mit tätowierten Schenkeln, die aus dem Solarium ein Fußballfeld machen. Und manchmal erscheint der Antiquar mit seiner dicken Katze unterm Arm. Die gleich mit sichtlichem Behagen ein Bad nimmt. "Es ist die einzige Katze auf der Welt, die ich kenne, die derlei tut."
So sehr sind wir der "Versuchung von Syrakus" verfallen, dass wir, wenn wir vom "treno notte" lesen, uns gleich aufmachen möchten nach Mailand, um dann (Abfahrt 20.10 Uhr) den Stiefel hinunterzufahren. Bei Messina würden wir mit der Fähre auf Schienen übers ionische Meer gelangen und weiter bis Syrakus. Es wäre ganz leicht. Ankunft nachmittags, 15.48 Uhr, wo Adeline in der Bahnhofsbar die Beine übereinanderschlägt und an einem negroni sbagliato nippt.
Joachim Sartorius: "Die Versuchung von Syrakus".
Mareverlag, Hamburg 2023. 175 S., 2 Karten, geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Friedrich II. und dem Einwickelpapier des Caffè Parisi: Joachim Sartorius erklärt seine Liebe zur sizilianischen Stadt Syrakus.
Von Angelika Overath
Gute Texte haben eine Erlebnisqualität. Sie nehmen uns mit in die Lagunen der Sprache, auf seelische Inseln oder schlicht an Orte, die auf den Karten zu finden sind. Aber so real sie auch sein mögen, nie wird ein Reisender in die besondere Wirklichkeit eintreten, in die das Erzählen ihn führt. Wenn das Wechselspiel der Imagination beginnt, dieses schöne Hin und Her zwischen Welterfassung des Autors und unserer Vorstellungskraft, die ihr folgt und dann doch eigene Wege des Erinnerns und des Assoziierens geht.
Syrakus, an der südöstlichen Küste Siziliens gelegen, war einmal eine der wichtigsten Metropolen der Welt. Und Ortigia, die kleine Insel-Altstadt, ihr Zentrum. Joachim Sartorius hat eine "Versuchung von Syrakus" geschrieben, die beides ist: der Versuch, auf wenigen Seiten ein so geschichtsträchtiges und kulturell aufgeladenes Territorium in ein Porträt zu fassen und dieses wetterleuchtende Gesicht der Stadt zu einer Verführung werden zu lassen. Dabei setzt der Autor ganz auf seine Intimität, seine poetische Unio mit seinem Gegenstand. "Jetzt bin ich schon so lange hier, dass ich einige Dinge betrachten kann, als wären sie von mir geschrieben. Wenn ich im Caffè Minerva sitze und auf die Fassade des Hotels Roma schaue, sage ich mir, dass dieses Rosa mein Rosa ist, diese Fensterläden meine Fensterläden sind, die ich öffne, um auf mich herunterzublicken."
Seine Freunde, seine Nachbarn werden zu Spiegeln, in denen die unterschiedlichsten Splitter der Stadt aufscheinen. Da ist Giuseppe Monteleone, pensionierter Polizist mit Musikstudio (Akkordeon, Keyboard, Schlagzeug; aber keine Märsche, lieber Melancholisches!), oder der Barbier Salvatore Sparatore, der "Pomaden-Artist", der das Messer am Leder schärft, über die Haut kratzt, mit lauwarmem Waschlappen die Schaumreste tilgt und zur Menthol-Eukalyptus-Salbe für die frischglatte Haut greift. Oder die Übersetzerin Dora Suma, das Gastarbeiterkind, das wider Willen mit kaum vierzehn Jahren aus Süddeutschland zurück nach Syrakus musste, eine Entwurzelte, die in Italien behüteter aufwachsen sollte. Und dann in Syrakus mit siebzehn Mutter wird. Oder der Baron Lucio Tasca di Lignari, mit der wunderbaren Münzsammlung, in dessen "Massigkeit und Müdigkeit" der Fürst aus Lampedusas "Il Gattopardo" zurückkommt. Oder der Maler Gaetano Tranchino, der die unwirklichste Inselwirklichkeit schafft mit seinen schrägen Dampfern, seinen gewitternden Palmen.
Und mit dem Designer Carlo Coniglio, der wie ein "modisch gekleideter Angsthase" aussieht und sich "zum Ausgleich eine Dogge" zugelegt hat, trifft sich der Autor zum Frühstück im Hotel Roma, in dem schon Ezra Pound und William Butler Yeats logierten. Joachim Sartorius führt in die Paläste und Weinberge des altsizilianischen Adels, aber er geht auch zum Bahnhof, in die "Station Bar", wo Prostituierte in Glitzerflipflops Pause machen. Er zeigt uns Restaurants und Buchhandlungen, Katakomben und den Acker der Kinder, deren Geburt in ihr Todesjahr fiel. Und allgegenwärtig ist das Meer, taubengrau, wachtelgrau (Ortigia ist die "Wachtelinsel") und im Sommer: "Tiefblau, tiefes Blau, rabiates Blau, schroffes Blau oder in der Nähe des Ufers karibikgrün, giftgrün wie Glas, wie Waldmeistergelee."
Der Autor erzählt von den Aufführungen im antiken Theater, und er zählt die dreißig Palmen von Ortigia, er bringt uns den legendären Staufer Friedrich II. nahe und die Aura der Heiligen Lucia. Und all seine wunderbaren Miniaturen könnte er in das alte Einwickelpapier des Caffè Parisi schlagen, denn ihm kann alles kostbar sein. Er ist empfänglich wie eine Leier, ausgesetzt auf den Bergen Ortigias.
Sartorius schreibt Syrakus nicht schön. Er sieht die Bausünden, die Lethargie der Bewohner, die nur noch an den Tourismus glauben. Und bekommt keine Antwort auf die Frage, wohin die Katzen verschwunden sind (er kann sie sich selbst geben: ein von der Stadt organisiertes Katzenmassaker). Doch er bleibt glücksanfällig. Und zu seinem Glück gehören die Überblendungen durch Literatur und Kunst. Es kann sein, dass er vom Markt in Palermo spricht und dann hinreißend das Bild beschreibt, das Renato Guttuso von diesem Markt gemalt hat. Oder er zeigt die Szene eines randständigen Musikanten mit zerschrammtem Akkordeon auf einem Platz und findet zurück zum Gemälde "Der Narr von Syrakus" von István Farkas. Einmal hatte er dieses Bild in Budapest gesehen und in dem Narren Van Gogh in der Gluthitze von Arles erkannt. Und von Farkas kommt er auf Francis Bacon, der den geschundenen Van Gogh mit auf den Rücken gebundener Staffelei auf einer provenzalischen Landstraße malte: "Hier hat sich Van Gogh in den Verrückten von Syrakus verwandelt."
Die Imagination darf alles, und dem offenen Ich geschieht der Schaurausch im Alltäglichsten. Vor ihm steigt die Nymphe ins Wasser, und Italo Svevo quert mit Strohhut den Platz. Wir blättern die Seite um und geraten in die nächste frische Szene: Solarien, Plattformen "aus festen, aneinandergefügten Spanholzplatten auf einem Gerüst aus Eisenstangen über dem Meer". Eine Bühne! Frühmorgens kommen die sportlichen Vier-Kilometer-Schwimmer, dann die älteren Damen, die sich bräunen lassen, die Schulklassen, die Touristen. Gegen Abend die "Liebhaber der späten Farben", dann die Ragazzi mit tätowierten Schenkeln, die aus dem Solarium ein Fußballfeld machen. Und manchmal erscheint der Antiquar mit seiner dicken Katze unterm Arm. Die gleich mit sichtlichem Behagen ein Bad nimmt. "Es ist die einzige Katze auf der Welt, die ich kenne, die derlei tut."
So sehr sind wir der "Versuchung von Syrakus" verfallen, dass wir, wenn wir vom "treno notte" lesen, uns gleich aufmachen möchten nach Mailand, um dann (Abfahrt 20.10 Uhr) den Stiefel hinunterzufahren. Bei Messina würden wir mit der Fähre auf Schienen übers ionische Meer gelangen und weiter bis Syrakus. Es wäre ganz leicht. Ankunft nachmittags, 15.48 Uhr, wo Adeline in der Bahnhofsbar die Beine übereinanderschlägt und an einem negroni sbagliato nippt.
Joachim Sartorius: "Die Versuchung von Syrakus".
Mareverlag, Hamburg 2023. 175 S., 2 Karten, geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Sehr gern schlendert Rezensentin Elke Schlinsog mit Joachim Sartorius durch das sizilianische Syrakus. Schon lange ist der teilweise in Italien wohnhafte Autor Fan der Stadt, und in seiner literarischen Huldigung umarmt er einfach alles an ihr, erkennt die Kritikerin. Die Bewohner des gegenwärtigen Syrakus stellt er in exemplarischen Porträts vor und auch Syrakus-Fans der Vergangenheit, von Pindar bis Ernst Jünger, finden Erwähnung, so Schlinsog. Sartorius' liebendes Auge übersieht zwar gewisse Verfallserscheinungen des realen Syrakus; als kluge und assoziationsreiche Begleitlektüre legt die Rezensentin sein Buch gleichwohl jedem Sizilenbesucher ans Herz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.07.2023Dieses kleine Schweben
Joachim Sartorius’ federleichtes Buch über den Zauber von Syrakus
Was braucht man, um sich glücklich zu fühlen, fragt Joachim Sartorius, als er gerade den Laden seines Barbiers in Syrakus verlässt. Einen Duft, der belebt? Dieses „kleine, köstliche Schweben“ durch die Straßen der Stadt. Aber reicht ein solch flüchtiger Moment, verdient diese Winzigkeit tatsächlich die Bezeichnung „Glück“? Die Antwort fällt deutlich aus: „Ich meine, zum ‚wirklichen‘ Glücksgefühl gehört auch die Geschichte eines langen Suchens, eines genauen Schauens, des Endlich-Findens und des Endlich-Habens.“
Deshalb wundert es nicht, dass Sartorius ein Buch geschrieben hat, das vom Suchen, Schauen und Finden lebt, von einer großen Neugier auf seine Lebensstadt Syrakus auf Sizilien. Eine kleine Erbschaft versetzt den Autor in die Lage, auf jenem „Meer der Vorstellungskraft“ zu schippern, das auch Syrakus an manchen Tagen umgibt. „Fantasielos, wie ich es in Finanzdingen bin, dachte ich, ich müsse das Geld in einer Immobilie anlegen, möglichst am Südende Europas, möglichst am oder im Mittelmeer. Sizilien kam mir in den Sinn. Ich hatte diese Insel schon öfter bereist. Sie hatte mir auf Anhieb gefallen, bis hin zu den Dingen, die man gemeinhin am wenigsten mag, zum Beispiel den Autobahnen, die im frühen Sommer von Oleander und purpurrot schäumender Bougainvillea so dicht eingehegt waren, dass man sich als Teil einer endlos langen Kamerafahrt durch Blütenmeere wähnte.“
Die Wahl fällt auf Syrakus, genauer auf Ortigia, das älteste Viertel der Stadt, und auf eine Wohnung, die den Suchenden vor allem wegen ihrer breiten Terrasse anspricht, von der aus das Meer und die Schiffe zu sehen sind. Die schäumende Bougainvillea immer im Kopf und den Blick vorgeprägt von einem großen Bewusstsein für Kamerafahrten genauso wie für Motive und Formen aus der Literatur oder der bildenden Kunst – so durchwandert der Schreibende die Stadt.
Und schnell wird klar, was ihm daran besonders gefällt. Stundenlang kann er aus den unterschiedlichsten Winkeln auf das Meer schauen, die Nuancen von Blau bewundern oder wie der Wind durch das Wasser zieht. Doch bald kommen ihm auch Verse von Giorgos Seferis in den Sinn. Nicht von ungefähr ist der Dichter und Übersetzer Joachim Sartorius auch ein Liebhaber von Anthologien, zu dessen Herausgaben eine Sammlung von Meeresgedichten gehört. Als er auf einem seiner Schlendergänge einen Innenhof entdeckt, der ein Zwischendepot für Weinlieferanten gewesen sein muss, denkt er spontan an eine Karawanserei. Doch ein Schild der Antikenverwaltung klärt ihn darüber auf, dass es sich um ein Straßennetz aus griechischer Zeit handelt, das unter der heutigen Straße verborgen liegt: „Ans Licht gebracht worden war eine fast zweitausendjährige Schichtung (...), die bis in die barocke Struktur der Stadt hineingewirkt hat.“ Es sind solche Schichtungen, die für den Schönheitssuchenden den Zauber der Stadt ausmachen. Ihnen forscht er bald schon an allen möglichen Stellen nach. Und er will wissen, wie die Stadt mit dieser großen Vergangenheit und ihrem Zerfall umgeht.
Wie man das herauskriegt? Am besten man freundet sich mit Menschen an, die der Stadt verbunden sind. So findet man nicht nur sympathische Bekannte, sondern kann sich von ihnen auch etwas über die Historie von Syrakus erzählen lassen. Von Baron Lucio Tasca di Lignari zum Beispiel – alter sizilianischer Adel –, der von der Gründung im achten vorchristlichen Jahrhundert berichtet und von der Eroberung durch die Araber rund 1600 Jahre später, die das Ende des antiken Syrakus einleitete. Oder von Gaetano Tranchino, einem Maler, der davon schwärmt, dass Syrakus in der großen griechischen Zeit eine Metropole gewesen sei, mit einer Anziehungskraft wie heute jener von Manhattan. Nichts sei schwieriger, meint er einmal, als eine Stadt mit Worten einzufangen. Joachim Sartorius versucht nicht, die Stadt mit Worten einzufangen. Eher tippt er an, was er wahrnimmt, folgt für ein paar Sätze Bewegungen und Blickachsen, lässt sich dann wieder von einem emphatischen Moment packen. In atmosphärischen Splittern, die er manchmal zu kleinen Denkbildern weitet. „Sind wir nicht alle Fragmente?“, ruft ein Nachbar einmal vom Balkon.
Sartorius selbst schwärmt von Pasolinis berühmter Reisereportage „Die lange Straße aus Sand“, für die Pasolini 1959 mit seinem Fiat fast die ganze italienische Küste abfuhr – von der Art her Sartorius’ eigenem Vorgehen nicht unähnlich: „Immer wieder beschreibt er Augenblicke vollständigen Glücks, berauscht von Farben, von Gerüchen.“ Wie Pasolini spielt Sartorius auch mit der Sprache, bricht gewähltes Vokabular wie „ansichtig werden“ durch den Einsatz flapsiger Wörter, „schlunzig“ zum Beispiel oder „toppen“.
Manchmal gleicht sein Blick dem eines staunenden Kindes. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass Sartorius in Tunis aufgewachsen ist und seine Kindheitswelt über das Meer herüberzuleuchten scheint. Man freut sich, blätternd, schauend, mit ihm. Bei aller Leselust darf man sich ab und an auch ein wenig wundern. Wo ist etwa die Pandemie geblieben, während der das Buch geschrieben wurde? Braucht es für den genauen Blick immer den Abstand vom „touristischen Gewusel“, wie es einmal heißt? Und vor allem: Ist nicht ein gewisser Lebensstandard die conditio sine qua non für ein solches „freies Schauen“? Diese Leerstelle überrascht umso mehr, als Sartorius andernorts genau mitreflektiert, wie finanzieller und gesellschaftlicher Status die Lebensmöglichkeiten bestimmen, etwa wenn er in einem seiner Kapitel den Umgang der Behörden mit geflüchteten Menschen beschreibt oder in einem anderen das Viertel hinter dem alten Gefängnis, wo „die Ärmsten der Fischer und Handwerker“ wohnen.
Trotz der Wucht der Historie gebe es eine Leidenschaft für das Leben von heute, sagt der Baron, so trist es mitunter auch sei. Diese Leidenschaft ist auch in Joachim Sartorius’ Sätzen spürbar. Und sie wirkt ansteckend. Man geht gerne mit ihm schwimmen, bewundert das Meer, bestaunt die Menschen und dämmert dann, „träge wie ein Gecko“ , in der Mittagssonne. Pasolini hatte diese melancholische Lebenshaltung geradezu idealtypisch verkörpert: „glücklich sein trotz Verzweiflung, trotz akut erlebter Vergänglichkeit“.
NICO BLEUTGE
Stundenlang kann er auf
das Meer schauen, Nuancen
von Blau bewundern
„Glücklich sein trotz
Verzweiflung, trotz akut
erlebter Vergänglichkeit“
Der Erzähler meint, seine Erbschaft sei gut angelegt in einer Wohnung in Syrakus, in Ortigia, dem ältesten Viertel. Getty
Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus. Mareverlag, Hamburg 2023. 175 Seiten, 20 Euro.
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Joachim Sartorius’ federleichtes Buch über den Zauber von Syrakus
Was braucht man, um sich glücklich zu fühlen, fragt Joachim Sartorius, als er gerade den Laden seines Barbiers in Syrakus verlässt. Einen Duft, der belebt? Dieses „kleine, köstliche Schweben“ durch die Straßen der Stadt. Aber reicht ein solch flüchtiger Moment, verdient diese Winzigkeit tatsächlich die Bezeichnung „Glück“? Die Antwort fällt deutlich aus: „Ich meine, zum ‚wirklichen‘ Glücksgefühl gehört auch die Geschichte eines langen Suchens, eines genauen Schauens, des Endlich-Findens und des Endlich-Habens.“
Deshalb wundert es nicht, dass Sartorius ein Buch geschrieben hat, das vom Suchen, Schauen und Finden lebt, von einer großen Neugier auf seine Lebensstadt Syrakus auf Sizilien. Eine kleine Erbschaft versetzt den Autor in die Lage, auf jenem „Meer der Vorstellungskraft“ zu schippern, das auch Syrakus an manchen Tagen umgibt. „Fantasielos, wie ich es in Finanzdingen bin, dachte ich, ich müsse das Geld in einer Immobilie anlegen, möglichst am Südende Europas, möglichst am oder im Mittelmeer. Sizilien kam mir in den Sinn. Ich hatte diese Insel schon öfter bereist. Sie hatte mir auf Anhieb gefallen, bis hin zu den Dingen, die man gemeinhin am wenigsten mag, zum Beispiel den Autobahnen, die im frühen Sommer von Oleander und purpurrot schäumender Bougainvillea so dicht eingehegt waren, dass man sich als Teil einer endlos langen Kamerafahrt durch Blütenmeere wähnte.“
Die Wahl fällt auf Syrakus, genauer auf Ortigia, das älteste Viertel der Stadt, und auf eine Wohnung, die den Suchenden vor allem wegen ihrer breiten Terrasse anspricht, von der aus das Meer und die Schiffe zu sehen sind. Die schäumende Bougainvillea immer im Kopf und den Blick vorgeprägt von einem großen Bewusstsein für Kamerafahrten genauso wie für Motive und Formen aus der Literatur oder der bildenden Kunst – so durchwandert der Schreibende die Stadt.
Und schnell wird klar, was ihm daran besonders gefällt. Stundenlang kann er aus den unterschiedlichsten Winkeln auf das Meer schauen, die Nuancen von Blau bewundern oder wie der Wind durch das Wasser zieht. Doch bald kommen ihm auch Verse von Giorgos Seferis in den Sinn. Nicht von ungefähr ist der Dichter und Übersetzer Joachim Sartorius auch ein Liebhaber von Anthologien, zu dessen Herausgaben eine Sammlung von Meeresgedichten gehört. Als er auf einem seiner Schlendergänge einen Innenhof entdeckt, der ein Zwischendepot für Weinlieferanten gewesen sein muss, denkt er spontan an eine Karawanserei. Doch ein Schild der Antikenverwaltung klärt ihn darüber auf, dass es sich um ein Straßennetz aus griechischer Zeit handelt, das unter der heutigen Straße verborgen liegt: „Ans Licht gebracht worden war eine fast zweitausendjährige Schichtung (...), die bis in die barocke Struktur der Stadt hineingewirkt hat.“ Es sind solche Schichtungen, die für den Schönheitssuchenden den Zauber der Stadt ausmachen. Ihnen forscht er bald schon an allen möglichen Stellen nach. Und er will wissen, wie die Stadt mit dieser großen Vergangenheit und ihrem Zerfall umgeht.
Wie man das herauskriegt? Am besten man freundet sich mit Menschen an, die der Stadt verbunden sind. So findet man nicht nur sympathische Bekannte, sondern kann sich von ihnen auch etwas über die Historie von Syrakus erzählen lassen. Von Baron Lucio Tasca di Lignari zum Beispiel – alter sizilianischer Adel –, der von der Gründung im achten vorchristlichen Jahrhundert berichtet und von der Eroberung durch die Araber rund 1600 Jahre später, die das Ende des antiken Syrakus einleitete. Oder von Gaetano Tranchino, einem Maler, der davon schwärmt, dass Syrakus in der großen griechischen Zeit eine Metropole gewesen sei, mit einer Anziehungskraft wie heute jener von Manhattan. Nichts sei schwieriger, meint er einmal, als eine Stadt mit Worten einzufangen. Joachim Sartorius versucht nicht, die Stadt mit Worten einzufangen. Eher tippt er an, was er wahrnimmt, folgt für ein paar Sätze Bewegungen und Blickachsen, lässt sich dann wieder von einem emphatischen Moment packen. In atmosphärischen Splittern, die er manchmal zu kleinen Denkbildern weitet. „Sind wir nicht alle Fragmente?“, ruft ein Nachbar einmal vom Balkon.
Sartorius selbst schwärmt von Pasolinis berühmter Reisereportage „Die lange Straße aus Sand“, für die Pasolini 1959 mit seinem Fiat fast die ganze italienische Küste abfuhr – von der Art her Sartorius’ eigenem Vorgehen nicht unähnlich: „Immer wieder beschreibt er Augenblicke vollständigen Glücks, berauscht von Farben, von Gerüchen.“ Wie Pasolini spielt Sartorius auch mit der Sprache, bricht gewähltes Vokabular wie „ansichtig werden“ durch den Einsatz flapsiger Wörter, „schlunzig“ zum Beispiel oder „toppen“.
Manchmal gleicht sein Blick dem eines staunenden Kindes. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass Sartorius in Tunis aufgewachsen ist und seine Kindheitswelt über das Meer herüberzuleuchten scheint. Man freut sich, blätternd, schauend, mit ihm. Bei aller Leselust darf man sich ab und an auch ein wenig wundern. Wo ist etwa die Pandemie geblieben, während der das Buch geschrieben wurde? Braucht es für den genauen Blick immer den Abstand vom „touristischen Gewusel“, wie es einmal heißt? Und vor allem: Ist nicht ein gewisser Lebensstandard die conditio sine qua non für ein solches „freies Schauen“? Diese Leerstelle überrascht umso mehr, als Sartorius andernorts genau mitreflektiert, wie finanzieller und gesellschaftlicher Status die Lebensmöglichkeiten bestimmen, etwa wenn er in einem seiner Kapitel den Umgang der Behörden mit geflüchteten Menschen beschreibt oder in einem anderen das Viertel hinter dem alten Gefängnis, wo „die Ärmsten der Fischer und Handwerker“ wohnen.
Trotz der Wucht der Historie gebe es eine Leidenschaft für das Leben von heute, sagt der Baron, so trist es mitunter auch sei. Diese Leidenschaft ist auch in Joachim Sartorius’ Sätzen spürbar. Und sie wirkt ansteckend. Man geht gerne mit ihm schwimmen, bewundert das Meer, bestaunt die Menschen und dämmert dann, „träge wie ein Gecko“ , in der Mittagssonne. Pasolini hatte diese melancholische Lebenshaltung geradezu idealtypisch verkörpert: „glücklich sein trotz Verzweiflung, trotz akut erlebter Vergänglichkeit“.
NICO BLEUTGE
Stundenlang kann er auf
das Meer schauen, Nuancen
von Blau bewundern
„Glücklich sein trotz
Verzweiflung, trotz akut
erlebter Vergänglichkeit“
Der Erzähler meint, seine Erbschaft sei gut angelegt in einer Wohnung in Syrakus, in Ortigia, dem ältesten Viertel. Getty
Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus. Mareverlag, Hamburg 2023. 175 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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