CD 1 | |||
1 | Ed King | 00:07:28 | |
2 | Ed King | 00:07:04 | |
3 | Ed King | 00:06:10 | |
4 | Ed King | 00:07:01 | |
5 | Ed King | 00:05:52 | |
6 | Ed King | 00:06:38 | |
7 | Ed King | 00:07:34 | |
8 | Ed King | 00:05:43 | |
9 | Ed King | 00:08:10 | |
10 | Ed King | 00:06:30 | |
11 | Ed King | 00:06:38 | |
CD 2 | |||
1 | Ed King | 00:07:34 | |
2 | Ed King | 00:05:11 | |
3 | Ed King | 00:06:45 | |
4 | Ed King | 00:07:46 | |
5 | Ed King | 00:07:30 | |
6 | Ed King | 00:07:26 | |
7 | Ed King | 00:07:37 | |
8 | Ed King | 00:06:35 | |
9 | Ed King | 00:09:01 | |
10 | Ed King | 00:07:20 | |
CD 3 | |||
1 | Ed King | 00:06:49 | |
2 | Ed King | 00:07:39 | |
3 | Ed King | 00:07:32 | |
4 | Ed King | 00:09:43 | |
5 | Ed King | 00:07:30 | |
6 | Ed King | 00:07:05 | |
7 | Ed King | 00:06:30 | |
8 | Ed King | 00:04:17 | |
9 | Ed King | 00:08:00 | |
10 | Ed King | 00:08:19 | |
CD 4 | |||
1 | Ed King | 00:08:50 | |
2 | Ed King | 00:05:31 | |
3 | Ed King | 00:09:45 | |
4 | Ed King | 00:08:16 | |
5 | Ed King | 00:06:19 | |
6 | Ed King | 00:05:51 | |
7 | Ed King | 00:05:18 | |
8 | Ed King | 00:05:39 | |
9 | Ed King | 00:07:49 | |
10 | Ed King | 00:09:06 | |
11 | Ed King | 00:06:26 | |
CD 5 | |||
1 | Ed King | 00:09:17 | |
2 | Ed King | 00:07:12 | |
3 | Ed King | 00:06:58 | |
4 | Ed King | 00:05:55 | |
5 | Ed King | 00:07:19 | |
6 | Ed King | 00:09:10 | |
7 | Ed King | 00:06:31 | |
8 | Ed King | 00:07:36 | |
9 | Ed King | 00:09:59 | |
10 | Ed King | 00:06:00 | |
CD 6 | |||
1 | Ed King | 00:08:12 | |
2 | Ed King | 00:07:47 | |
3 | Ed King | 00:08:08 | |
4 | Ed King | 00:07:53 | |
5 | Ed King | 00:07:08 | |
6 | Ed King | 00:07:34 | |
7 | Ed King | 00:06:00 | |
8 | Ed King | 00:06:52 | |
9 | Ed King | 00:06:17 | |
10 | Ed King | 00:06:45 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2012Wenn Ödipus in der Nähe von Seattle auf seinen Vater trifft
Technik ist der neue Gott: Nach seinem Welterfolg "Schnee, der auf Zedern fällt" wandelt David Guterson auf den Spuren von Homer: "Ed King" buchstabiert aus, wohin Königsein heute führt - in die Hände der Maschinen.
Zu Ödipus' Zeit war die Welt der Götter noch im Lot. Sie hatten Namen und Wesen und Ziele. Heute ist das anders, weshalb schon Max Frisch in "Homo faber" und andere, die sich dem antiken Stoff näherten, die Schwerpunkte etwas verschieben mussten. Immer wirkt bei all diesen literarischen Umsetzungen das kalte Schweigen der Macht gleich kühl. Wer nur, will man in dieses Schweigen hineinrufen, hat denn nun Schuld am Unglück dieses Mannes, der unwissentlich seinen eigenen Vater erschlägt, danach die eigene Mutter ehelicht?
Der bei Seattle lebende David Guterson, 1956 geboren, nimmt zur Antwort in seinem neuen Roman "Ed King" ein Kollektiv, die amerikanische Gesellschaft, scharf in den Blick. Dafür ist er seit seinem großen Erfolg "Schnee, der auf Zedern fällt" (1994) bekannt. Er stößt uns gleich zu Beginn in die Niederungen menschlicher Triebe, zu finden bei Familie Cousins. Dort ist soeben das Au-pair-Mädchen Diane eingezogen, weil die Mutter der Cousins wegen Depressionen in die Klinik musste. Walter, der Vater, ist sofort hingerissen. Die Liaison mit dem Mädchen hat Folgen und einen Namen: Ed King. Diane setzt den Neugeborenen auf den Stufen eines Bürgerhauses aus und lebt danach recht gut von der monatlichen Finanzspritze Walters. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Ed wächst gut behütet neben einem jüngeren Bruder auf, ohne das Wissen, ein Adoptivkind zu sein. Beide sind mathematisch begabt, Ed außerdem ein Mädchenschwarm und Fan von Gewaltvideos. Dieser explosive, im frühen Medienzeitalter der siebziger Jahre plazierte Eigenschaftscocktail wird Ed zum Verhängnis, als er eines Tages unbeobachtet einen aggressiven Autofahrer maßregelt und so dessen Tod herbeiführt.
Der Tote ist Walter, Eds leiblicher Vater, und die Welt, in die Guterson seinen modernen Ödipus setzt, ein sich spiegelndes Gebilde aus trügerischen Verlockungen. Man trinkt Smoothies oder trifft auf Psychologen, die selbst dringend der Beratung bedürften. Oder man hat einfach geerbt. Diane, Eds leibliche Mutter, kann in diesen amerikanischen Traum sogar eine Weile einheiraten, mit viel List und dem Willen, den eigenen Körper durch diverse Schönheitsoperationen vor dem Verfall zu bewahren. Aber irgendwann kommt doch ihre dunkle Vergangenheit ans Licht, und die falschen Freunde stoßen sie aus dem Reichenclan aus. Manchmal, sehr selten, denkt sie noch an ihren Sohn und wie alt er wohl jetzt wäre. Dann wieder ist sie mit Überleben beschäftigt, als Hundeausführerin oder professionelle Lebensberaterin, mit nicht geringem Erfolg. Diane ist Gutersons spannendste Figur, eine wendige Ich-AG, immer sich den Gegebenheiten anschmiegend wie ein formloser, weicher Leib. Aber auch für sie gibt es kein Entrinnen aus den Fesseln dieser Ödipus-Geschichte.
Dass Ed King irgendwann in den Armen seiner Mutter Diane landen wird, ist ja nun zu erahnen. Es geht Guterson auch weniger um Spannung, mehr um Unterhaltung und die Anpassung des Ödipus-Stoffs an unsere Zeit. Und so wird der Roman zur Sozialsatire. Er ist auf Übertreibung angelegt, nicht aber auf große Lacher. Diane ist in diesem Dreieck ein sich ständig neu erfindendes Chamäleon und Walter der triebgesteuerte Totalversager, den selbst Frau und Kinder verachten. Auch Ed selbst glaubt an die falschen Götter. Guterson stellt seine Figuren aus wie willenlose Handlungsträger auf einem großen Schachbrett, geführt und gezogen von einer höheren Gewalt.
Aber der Autor - und das ist beim Lesen dann doch ein kleines Problem - weiß zu viel und erzählt streckenweise fließbandmäßig und mit verhaltenem Enthusiasmus, als wäre er selbst gelangweilt, alles das aufzuzählen, was erklärt, warum einer so wird, wie er wird, nämlich Mörder und Inzestpartner. Und es braucht viel Verpackung, um plausibel zu machen, warum hier andere Bedingungen walten als in der Antike. Guterson beschreibt die Figuren durch das, was sie tun, in ihrem blinden Aktivismus. Halten sie doch einmal inne, ist ihnen die Welt schal und hohl, und die Einsamkeit muss schnell vertrieben werden. Technik heißt der neue Gott, dem Ed huldigt, denn Walter hat ihm wenigstens seine Begabung für Zahlen vererbt. Und so startet Ed King, als eine Art Double von Steve Jobs, dem Apple-Gründer, sein gigantisches Unternehmen mit vielsagendem Namen "Pythia" in der elterlichen Garage. Seine Hybris bleibt keine kurzfristige Angelegenheit der Pubertät, sondern lebensprägend. Mit achtzehn will er die Welt verändern. Nach einem Studium in Stanford reitet er schon bald auf den Wogen des Erfolgs: als Entwickler gigantischer Suchmaschinen und König der Firmenübernahmen. Der nachfolgende tiefe Fall ist da eine geradezu natürliche Konsequenz.
Die Welt von heute, wie Guterson sie beschreibt, hat nur gottgleiche Moderatoren für jede Lebenslage, sogar für den bevorstehenden Inzest, angezeigt durch einen Perspektivwechsel: Der Erzähler spricht uns direkt an, erst die Männer, dann die Frauen. Er stellt leger die Gewissensfrage. Und ja - wie stehen wir nun dazu? Wie fühlen wir uns? Dass der Autor für die folgende Szene von einer kleinen amerikanischen Zeitschrift den Bad Sex Award verliehen bekommen hat, ist höchstens die kuriose Randnote einer dennoch klaren Botschaft: Nichts ist hier mehr heilig. Selbst das Schuldlos-schuldig-Werden ist eine derartig gängige Angelegenheit, dass sie im Roman - statt des antiken Chors - lapidar auf Twitter durchgearbeitet wird, freilich ohne abschließendes Urteil: Viele Stimmen, viele Meinungen. Die Orakel unserer Zeit sind gut gefütterte Computer mit Namen "Cybil", Eds Liebling, mit dem er viel Zeit verbringt - und der ihm schließlich verrät, dass er und sein Bruder ein anderes Genom haben, so dass er sich überhaupt erst auf die Spurensuche begibt. Guterson buchstabiert aus, wohin Königsein heute führt: in die Hände der Maschinen. Das alles liest sich nett, kann aber nicht mehr erschrecken - und soll es wohl auch nicht.
Die Schuldfrage reicht Guterson damit an den Leser weiter. Der wird den amerikanischen Traum richten, in dessen Namen dies alles geschieht.
ANJA HIRSCH
David Guterson: "Ed King". Roman.
Aus dem Englischen von Georg Deggerich. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2012. 383 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Technik ist der neue Gott: Nach seinem Welterfolg "Schnee, der auf Zedern fällt" wandelt David Guterson auf den Spuren von Homer: "Ed King" buchstabiert aus, wohin Königsein heute führt - in die Hände der Maschinen.
Zu Ödipus' Zeit war die Welt der Götter noch im Lot. Sie hatten Namen und Wesen und Ziele. Heute ist das anders, weshalb schon Max Frisch in "Homo faber" und andere, die sich dem antiken Stoff näherten, die Schwerpunkte etwas verschieben mussten. Immer wirkt bei all diesen literarischen Umsetzungen das kalte Schweigen der Macht gleich kühl. Wer nur, will man in dieses Schweigen hineinrufen, hat denn nun Schuld am Unglück dieses Mannes, der unwissentlich seinen eigenen Vater erschlägt, danach die eigene Mutter ehelicht?
Der bei Seattle lebende David Guterson, 1956 geboren, nimmt zur Antwort in seinem neuen Roman "Ed King" ein Kollektiv, die amerikanische Gesellschaft, scharf in den Blick. Dafür ist er seit seinem großen Erfolg "Schnee, der auf Zedern fällt" (1994) bekannt. Er stößt uns gleich zu Beginn in die Niederungen menschlicher Triebe, zu finden bei Familie Cousins. Dort ist soeben das Au-pair-Mädchen Diane eingezogen, weil die Mutter der Cousins wegen Depressionen in die Klinik musste. Walter, der Vater, ist sofort hingerissen. Die Liaison mit dem Mädchen hat Folgen und einen Namen: Ed King. Diane setzt den Neugeborenen auf den Stufen eines Bürgerhauses aus und lebt danach recht gut von der monatlichen Finanzspritze Walters. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Ed wächst gut behütet neben einem jüngeren Bruder auf, ohne das Wissen, ein Adoptivkind zu sein. Beide sind mathematisch begabt, Ed außerdem ein Mädchenschwarm und Fan von Gewaltvideos. Dieser explosive, im frühen Medienzeitalter der siebziger Jahre plazierte Eigenschaftscocktail wird Ed zum Verhängnis, als er eines Tages unbeobachtet einen aggressiven Autofahrer maßregelt und so dessen Tod herbeiführt.
Der Tote ist Walter, Eds leiblicher Vater, und die Welt, in die Guterson seinen modernen Ödipus setzt, ein sich spiegelndes Gebilde aus trügerischen Verlockungen. Man trinkt Smoothies oder trifft auf Psychologen, die selbst dringend der Beratung bedürften. Oder man hat einfach geerbt. Diane, Eds leibliche Mutter, kann in diesen amerikanischen Traum sogar eine Weile einheiraten, mit viel List und dem Willen, den eigenen Körper durch diverse Schönheitsoperationen vor dem Verfall zu bewahren. Aber irgendwann kommt doch ihre dunkle Vergangenheit ans Licht, und die falschen Freunde stoßen sie aus dem Reichenclan aus. Manchmal, sehr selten, denkt sie noch an ihren Sohn und wie alt er wohl jetzt wäre. Dann wieder ist sie mit Überleben beschäftigt, als Hundeausführerin oder professionelle Lebensberaterin, mit nicht geringem Erfolg. Diane ist Gutersons spannendste Figur, eine wendige Ich-AG, immer sich den Gegebenheiten anschmiegend wie ein formloser, weicher Leib. Aber auch für sie gibt es kein Entrinnen aus den Fesseln dieser Ödipus-Geschichte.
Dass Ed King irgendwann in den Armen seiner Mutter Diane landen wird, ist ja nun zu erahnen. Es geht Guterson auch weniger um Spannung, mehr um Unterhaltung und die Anpassung des Ödipus-Stoffs an unsere Zeit. Und so wird der Roman zur Sozialsatire. Er ist auf Übertreibung angelegt, nicht aber auf große Lacher. Diane ist in diesem Dreieck ein sich ständig neu erfindendes Chamäleon und Walter der triebgesteuerte Totalversager, den selbst Frau und Kinder verachten. Auch Ed selbst glaubt an die falschen Götter. Guterson stellt seine Figuren aus wie willenlose Handlungsträger auf einem großen Schachbrett, geführt und gezogen von einer höheren Gewalt.
Aber der Autor - und das ist beim Lesen dann doch ein kleines Problem - weiß zu viel und erzählt streckenweise fließbandmäßig und mit verhaltenem Enthusiasmus, als wäre er selbst gelangweilt, alles das aufzuzählen, was erklärt, warum einer so wird, wie er wird, nämlich Mörder und Inzestpartner. Und es braucht viel Verpackung, um plausibel zu machen, warum hier andere Bedingungen walten als in der Antike. Guterson beschreibt die Figuren durch das, was sie tun, in ihrem blinden Aktivismus. Halten sie doch einmal inne, ist ihnen die Welt schal und hohl, und die Einsamkeit muss schnell vertrieben werden. Technik heißt der neue Gott, dem Ed huldigt, denn Walter hat ihm wenigstens seine Begabung für Zahlen vererbt. Und so startet Ed King, als eine Art Double von Steve Jobs, dem Apple-Gründer, sein gigantisches Unternehmen mit vielsagendem Namen "Pythia" in der elterlichen Garage. Seine Hybris bleibt keine kurzfristige Angelegenheit der Pubertät, sondern lebensprägend. Mit achtzehn will er die Welt verändern. Nach einem Studium in Stanford reitet er schon bald auf den Wogen des Erfolgs: als Entwickler gigantischer Suchmaschinen und König der Firmenübernahmen. Der nachfolgende tiefe Fall ist da eine geradezu natürliche Konsequenz.
Die Welt von heute, wie Guterson sie beschreibt, hat nur gottgleiche Moderatoren für jede Lebenslage, sogar für den bevorstehenden Inzest, angezeigt durch einen Perspektivwechsel: Der Erzähler spricht uns direkt an, erst die Männer, dann die Frauen. Er stellt leger die Gewissensfrage. Und ja - wie stehen wir nun dazu? Wie fühlen wir uns? Dass der Autor für die folgende Szene von einer kleinen amerikanischen Zeitschrift den Bad Sex Award verliehen bekommen hat, ist höchstens die kuriose Randnote einer dennoch klaren Botschaft: Nichts ist hier mehr heilig. Selbst das Schuldlos-schuldig-Werden ist eine derartig gängige Angelegenheit, dass sie im Roman - statt des antiken Chors - lapidar auf Twitter durchgearbeitet wird, freilich ohne abschließendes Urteil: Viele Stimmen, viele Meinungen. Die Orakel unserer Zeit sind gut gefütterte Computer mit Namen "Cybil", Eds Liebling, mit dem er viel Zeit verbringt - und der ihm schließlich verrät, dass er und sein Bruder ein anderes Genom haben, so dass er sich überhaupt erst auf die Spurensuche begibt. Guterson buchstabiert aus, wohin Königsein heute führt: in die Hände der Maschinen. Das alles liest sich nett, kann aber nicht mehr erschrecken - und soll es wohl auch nicht.
Die Schuldfrage reicht Guterson damit an den Leser weiter. Der wird den amerikanischen Traum richten, in dessen Namen dies alles geschieht.
ANJA HIRSCH
David Guterson: "Ed King". Roman.
Aus dem Englischen von Georg Deggerich. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2012. 383 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2012Ödipus in der Glockenkurve
Ist das Schicksal? David Guterson hat noch einen Familienroman geschrieben
„Jeden ereilt es irgendwann“, sagt Ed Kings Adoptivvater Daniel, den der rapide Verfall seines Herzmuskels binnen kurzer Zeit ins Grab befördert, „und jetzt bin ich dran“. Auf den Weg alles Fleisches hat schon Eds seniler Adoptivgroßvater hingewiesen, der aus seinem jüdischen Altersheim nur noch weg will: „,Das nächste Mal kommst du zu meiner Beerdigung‘, warnte Pop ihn. ,Jeden Abend bete ich zu Gott, bitte lass mich morgen früh nicht wieder im L’Chaim-Heim aufwachen.‘“
Über drei Generationen hin hätte David Gutersons „Ed King“ so die Familiengeschichte jüdischer Immigranten in den USA verfolgen können, die Vernichtungslagern entkommen waren, um in Heimen zu sterben. Doch sein jüngster Roman streift dieses Thema nur, denn er versucht an den Erfolg seines Bestsellers „Schnee, der auf Zedern fällt“ (1994) anzuknüpfen, indem er einen antiken Mythos als modernes Drama eines der Könige der digitalen Welt inszeniert.
Ed King, Multimilliardär und König der Suchmaschinen, hat eine bewegte Vergangenheit. Als junger Mann und ahnungsloser Adoptivsohn der Familie King hat er den Familienvater Walter Cousins bei einem provozierten Straßenrennen getötet und später das ehemalige Callgirl Diane geheiratet. Erst kurz bevor er in seinem Privatjet für immer vom Himmel verschwindet, wird Ed erfahren, was die Leser längst wissen. Walter war sein Vater, und Diane ist seine Mutter. Sie hatte ihn als minderjähriges Au-Pair-Mädchen empfangen und später ausgesetzt.
Schon früh hat Guterson angedeutet, dass die Geschichte dieses als Kind unter geschwollenen Füßen leidenden Helden auf eine neue Version des Ödipus-Mythos hinauslaufen wird. Dass er darin selbst als Guido Sternvad, einem Anagramm seines Namens, auftritt, erscheint etwas übertrieben, und der eigentliche Witz dabei – dass ausgerechnet ein Guterson über Ödipus schreibt – wird wohl nur deutschsprachigen Lesern auffallen.
Auf der Weltausstellung von 1962 betrachten Walter und Diane das Monumentalgemälde „Ödipus und die Sphinx“, doch der Versicherungsmathematiker Walter interessiert sich mehr für einen Glaskasten. Durch einen Schacht fallen darin Tausende Pennys hinab und bilden dabei immer wieder die berühmte Glockenkurve der Gauß’schen Normalverteilung. Fast dreihundert Seiten und einige Jahrzehnte später werden Mutter und Sohn sich vor diesem zum Museumsstück geworden Glaskasten finden, aus dessen Pennys allerdings Silberdollars geworden sind. Ob diese Verwandlung nun der wirtschaftlichen Dynamik, tieferer Bedeutung oder einer Unaufmerksamkeit geschuldet ist, sei dahingestellt. Für den Roman aber sind diese beiden Passagen wichtiger als die Vatermordszene oder die Inzestszene, vor der es heißt: „Also gut. Wir nähern uns dem Teil der Geschichte, bei dem wir es dem Leser nicht verübeln können, wenn er gleich bis hierher gesprungen ist.“ Denn während Vatermord und Inzest für halbwegs gebildete Leser nichts prinzipiell Neues, sondern allenfalls Neugestaltung des bekannten Motivs sind, geht Gutersons Konfrontation von Schicksal und Gauß’scher Normalverteilung über den Mythos hinaus.
In der antiken Überlieferung enthüllt das Orakel von Delphi dem König Laios, dass ein Fluch auf ihm laste. Sollte er je einen Sohn zeugen, so werde dieser seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten. Deshalb wird sein Sohn Ödipus ausgesetzt, kennt seine Herkunft nicht und kann zum ahnungslosen Erfüllungsgehilfen jenes Fluchs werden. Der Mythos zeigt, dass man seinem Schicksal nicht entkommt. Aber was Ed King widerfährt, hat ihm niemand an der Wiege gesungen. Und es bleibt, so schockierend es auch sein mag, im Rahmen der Normalverteilung.
Dass jene Wahrheit, die Ed am Ende zu seinem fatalen Alleinflug treibt, nicht von einem antiken Orakel, sondern von einem Computerprogramm namens Pythia enthüllt wird, ist ein weiterer Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Antike. Nur fehlt Guterson der Schlüssel, der seine Ödipus-Adaption so recht zum Laufen gebracht hätte, jener Fluch nämlich, der die dynastische Dreierkonstellation aus Vater, Mutter und Sohn aus dem Ruder laufen ließ. Dass sein moderner Ödipus Rex verschwindet, nachdem sein Flugzeug die „maximal ausgewiesene Flughöhe“ um gut tausend Meter überschritten hatte, erscheint dann wie eine selbstironische Parodie auf die „Fallhöhe“ seiner antiken Vorbilder. Ed King stürzt ab, als er sie anstrebt. Das gilt für den Protagonisten und für den Roman. Und es lenkt den Blick auf den Boden zurück.
„King“ ist dort nur noch ein Familienname. Das Schicksal ist einer Glockenkurve gewichen. Was David Guterson hier zu sagen hat und zu zeigen weiß, das sagen und zeigen seine Nebenfiguren besser als seine Protagonisten: Jeden ereilt es irgendwann, und wer Pech hat, muss zuvor noch, an vielen Tagen, im L’Chaim-Heim aufwachen.
ULRICH BARON
DAVID GUTERSON: Ed King. Aus dem Englischen von Georg Deggerich. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2012. 383 Seiten, 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ist das Schicksal? David Guterson hat noch einen Familienroman geschrieben
„Jeden ereilt es irgendwann“, sagt Ed Kings Adoptivvater Daniel, den der rapide Verfall seines Herzmuskels binnen kurzer Zeit ins Grab befördert, „und jetzt bin ich dran“. Auf den Weg alles Fleisches hat schon Eds seniler Adoptivgroßvater hingewiesen, der aus seinem jüdischen Altersheim nur noch weg will: „,Das nächste Mal kommst du zu meiner Beerdigung‘, warnte Pop ihn. ,Jeden Abend bete ich zu Gott, bitte lass mich morgen früh nicht wieder im L’Chaim-Heim aufwachen.‘“
Über drei Generationen hin hätte David Gutersons „Ed King“ so die Familiengeschichte jüdischer Immigranten in den USA verfolgen können, die Vernichtungslagern entkommen waren, um in Heimen zu sterben. Doch sein jüngster Roman streift dieses Thema nur, denn er versucht an den Erfolg seines Bestsellers „Schnee, der auf Zedern fällt“ (1994) anzuknüpfen, indem er einen antiken Mythos als modernes Drama eines der Könige der digitalen Welt inszeniert.
Ed King, Multimilliardär und König der Suchmaschinen, hat eine bewegte Vergangenheit. Als junger Mann und ahnungsloser Adoptivsohn der Familie King hat er den Familienvater Walter Cousins bei einem provozierten Straßenrennen getötet und später das ehemalige Callgirl Diane geheiratet. Erst kurz bevor er in seinem Privatjet für immer vom Himmel verschwindet, wird Ed erfahren, was die Leser längst wissen. Walter war sein Vater, und Diane ist seine Mutter. Sie hatte ihn als minderjähriges Au-Pair-Mädchen empfangen und später ausgesetzt.
Schon früh hat Guterson angedeutet, dass die Geschichte dieses als Kind unter geschwollenen Füßen leidenden Helden auf eine neue Version des Ödipus-Mythos hinauslaufen wird. Dass er darin selbst als Guido Sternvad, einem Anagramm seines Namens, auftritt, erscheint etwas übertrieben, und der eigentliche Witz dabei – dass ausgerechnet ein Guterson über Ödipus schreibt – wird wohl nur deutschsprachigen Lesern auffallen.
Auf der Weltausstellung von 1962 betrachten Walter und Diane das Monumentalgemälde „Ödipus und die Sphinx“, doch der Versicherungsmathematiker Walter interessiert sich mehr für einen Glaskasten. Durch einen Schacht fallen darin Tausende Pennys hinab und bilden dabei immer wieder die berühmte Glockenkurve der Gauß’schen Normalverteilung. Fast dreihundert Seiten und einige Jahrzehnte später werden Mutter und Sohn sich vor diesem zum Museumsstück geworden Glaskasten finden, aus dessen Pennys allerdings Silberdollars geworden sind. Ob diese Verwandlung nun der wirtschaftlichen Dynamik, tieferer Bedeutung oder einer Unaufmerksamkeit geschuldet ist, sei dahingestellt. Für den Roman aber sind diese beiden Passagen wichtiger als die Vatermordszene oder die Inzestszene, vor der es heißt: „Also gut. Wir nähern uns dem Teil der Geschichte, bei dem wir es dem Leser nicht verübeln können, wenn er gleich bis hierher gesprungen ist.“ Denn während Vatermord und Inzest für halbwegs gebildete Leser nichts prinzipiell Neues, sondern allenfalls Neugestaltung des bekannten Motivs sind, geht Gutersons Konfrontation von Schicksal und Gauß’scher Normalverteilung über den Mythos hinaus.
In der antiken Überlieferung enthüllt das Orakel von Delphi dem König Laios, dass ein Fluch auf ihm laste. Sollte er je einen Sohn zeugen, so werde dieser seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten. Deshalb wird sein Sohn Ödipus ausgesetzt, kennt seine Herkunft nicht und kann zum ahnungslosen Erfüllungsgehilfen jenes Fluchs werden. Der Mythos zeigt, dass man seinem Schicksal nicht entkommt. Aber was Ed King widerfährt, hat ihm niemand an der Wiege gesungen. Und es bleibt, so schockierend es auch sein mag, im Rahmen der Normalverteilung.
Dass jene Wahrheit, die Ed am Ende zu seinem fatalen Alleinflug treibt, nicht von einem antiken Orakel, sondern von einem Computerprogramm namens Pythia enthüllt wird, ist ein weiterer Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Antike. Nur fehlt Guterson der Schlüssel, der seine Ödipus-Adaption so recht zum Laufen gebracht hätte, jener Fluch nämlich, der die dynastische Dreierkonstellation aus Vater, Mutter und Sohn aus dem Ruder laufen ließ. Dass sein moderner Ödipus Rex verschwindet, nachdem sein Flugzeug die „maximal ausgewiesene Flughöhe“ um gut tausend Meter überschritten hatte, erscheint dann wie eine selbstironische Parodie auf die „Fallhöhe“ seiner antiken Vorbilder. Ed King stürzt ab, als er sie anstrebt. Das gilt für den Protagonisten und für den Roman. Und es lenkt den Blick auf den Boden zurück.
„King“ ist dort nur noch ein Familienname. Das Schicksal ist einer Glockenkurve gewichen. Was David Guterson hier zu sagen hat und zu zeigen weiß, das sagen und zeigen seine Nebenfiguren besser als seine Protagonisten: Jeden ereilt es irgendwann, und wer Pech hat, muss zuvor noch, an vielen Tagen, im L’Chaim-Heim aufwachen.
ULRICH BARON
DAVID GUTERSON: Ed King. Aus dem Englischen von Georg Deggerich. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2012. 383 Seiten, 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Virtuos treibt Guterson die Story voran und zeichnet ein Sittenbild der USA von den 60er Jahren bis heute. Empfehlenswert!" Aachener Zeitung, 09.06.2012