'Die ganze Stadt sucht einen mysteriösen Brandstifter, genannt Fosforito (das Streichhölzchen), der, so das Gerücht, nach seinen Untaten immer auf einem Fahrrad flüchtet - er ist ja ein Chinese. Li passt genau ins Bild, und so wird er verhaftet. Bei seiner Verurteilung nimmt er eine Geisel, den Computerfreak Ramiro. Er entführt ihn ins Chinesenviertel von Buenos Aires, und zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft. Ramiro findet immer mehr Gefallen an seinen Entführern und ihrer fremden Welt, in der er zwar kein Wort versteht, aber immerhin den besten Sex seines Lebens hat. Als Ramiro merkt, dass Li gar nicht Fahrrad fahren kann, wird es Zeit für ihn, eine Entscheidung zu treffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2010Tod den Leichen!
Ariel Magnus verwechselt Argentinien mit China
Als Christoph Kolumbus zum ersten Mal amerikanischen Boden betrat, suchte er wie besessen den schnellsten Weg nach China: an den Hof des Kaisers, den er selbst den "Großen Khan" nannte. Sein Wunschdenken war so stark, dass ihm schließlich alles, was er sah und hörte, chinesisch vorkam. Die Insel Kuba war für ihn ein Festland, im Norden mit China verbunden und mit diesem asiatischen Nachbarn in einen Dauerkrieg verwickelt. Als ihm die ersten Ureinwohner vom furchtbaren Stamm der Kannibalen berichteten, mutmaßte Kolumbus in seinem Bordbuch: "Khannibalen - ohne Zweifel die Mannen des Großen Khan". So hatte Kolumbus bereits in der ersten Stunde die lateinamerikanische Kunst des Kalauers entdeckt. Allerdings zeitlebens nicht den Weg nach China.
Einfacher hat es da ein Autor aus dem heutigen Buenos Aires wie Ariel Magnus. Der muss im Stadtteil Belgrano nur aus der Tür gehen, um ins Reich der Mitte versetzt zu sein. Den Großkhan findet er zwar in diesem größten asiatischen Migrantenviertel seiner Heimat ebenso wenig wie Kolumbus. Doch der Khannibalismus wird dort offenkundig nach wie vor praktiziert. Mehr noch: missliebige Eindringlinge werden mit so exotischen Namen wie "Getrocknetesspermagesicht" beschimpft, fahrende Reisende in versteckten Shaolin-Klöstern mit Hundesuppe empfangen, bevor sie ihr Dulce de leche mit Stäbchen verspeisen müssen und man ihnen fernöstliche Weisheiten vorträgt, die in der Sprache der Einheimischen auch "Splichwöltel" heißen. Magnus hat den Weg nach China gefunden.
Geblieben ist auch ihm die Freude am Kalauer. Denn die in Belgrano wohnhaften Argenchinier können nicht nur dem klassischen Klischee nach kein "R" sprechen. Sie scheinen fanatische Ernst-Jandl-Leser zu sein: Systematisch velwechsern sie lechts und rinks, und nach diesem zweideutigen System gibt im Roman der titelgebende "Chinese auf dem Fahrrad" über 250 Seiten die Lichtung an. Sein Name ist übrigens Li, und am Anfang des Buches wird er der nächtlichen Brandstiftung verdächtigt. Als die Aussagen des Zeugen Ramiro, eines arbeitslosen Mittzwanziger-Muttersöhnchens, die Richter nicht von seiner Unschuld überzeugen, erzwingt Li die Freiheit: Mit vorgehaltener Pistole entführt er Ramiro aus dem Gerichtsgebäude und hält ihn von nun an im Chinatown von Buenos Aires zu Hause als Geisel.
Viel Gewalt und Ketten muss Li allerdings nicht anwenden. Mehr Hotelgast als Häftling, scheint Ramiro recht froh darüber, in exotischem Ambiente endlich dem vorigen Hotel Mama entkommen zu sein. Vorausgesetzt, seine chinesischen Kerkermeister versorgen ihn mit dem Lebensnotwendigsten, einem Ladegerät für seinen iPod. Alsbald verliebt er sich in seine Mitbewohnerin Yintai, eine mit Li in Scheinehe verheiratete, kubanischstämmige Chinesin, die nicht nur die ungleichen Rassen dieser beiden Nachbarländer (wenn man der Geographie des Kolumbus folgt) miteinander verbindet, sondern auch die Sprachfehler der Karibik und des Fernen Ostens: Bekanntlich können Kubaner kein Auslaut-"s" sprechen.
Um zwischen wortspielerischen Zwerchfellattacken, bizarren Exkursen über Schlitzaugen, Fußball und die Kunst des Hundekochens, eingeschobenen Träumen und Delirien zumindest ansatzweise einen traditionellen Romanausgang herbeizuzwingen, entbrennt Li, genannt "Das Streichhölzchen", im Fast-Finale in Wut gegen die jüdischen "Leichen" - die ein Nichtchinese noch immer mit anlautendem "R" ausspräche. Mit ihrer geballten Finanzkraft wollen die nämlich, so Li, sich an den Chinesen rächen, weil sie ihnen zusehends den Rang als dominierende ethnische Minderheit ablaufen. Daher versuchen sie, ihm in einer großen Verschwörung die Schuld an der Brandserie in die Schuhe zu schieben.
Wenn ein Rezensent in dieser Form die Pointe der Handlung ausplaudert, mag das als Brandstiftung am Lesevergnügen gewertet werden. Doch wohl kaum in diesem Fall. Denn der Ausgang dieser Geschichte ist ohnehin gleichgültig. Die Handlung ist eigentlich nur ein Vorwand für ein neodadaistisch-oulipistisches Pandämonium aus Sprachverwirrungen, Sprachverzerrungen und hohlspiegelhaft deformierten Nationalklischees, das gleichermaßen den kosmopolitischen Schmelztiegel-Patriotismus Argentiniens wie so ziemlich jede der in ihn einfließenden Ethnien systematisch der Lächerlichkeit preisgibt. Wo dabei die Grenzen zum platten Rassistenwitz liegen, ist oft schwer zu sagen und hängt eigentlich nur von diskursiven Befindlichkeiten ab. Ersetzte Magnus etwa die chinesischen Einwanderer durch afrikanische und die von ihm ständig verwendeten Attribute wie "Schlitzauge" und "Reiskocher" durch ihre Entsprechungen, dürfte er eines Empörungssturms gewiss sein.
Doch auch jenseits solcher außerliterarischer Zweifel hinterlässt der Roman ein gewisses Unbehagen. Im Detail brilliert Ariel Magnus durch seinen erfrischend respektlosen, subversiven Ansatz ebenso wie durch seine oft komischen Dialoge und Sprachspiele. In Romanlänge allerdings ist die Kurzform des Kalauers schwer tragfähig. Rasch stellt sich die bange Frage ein: Ist all das wirklich mehr als ein gedehnter oder aufgeblasener Studentenscherz?
FLORIAN BORCHMEYER
Ariel Magnus: "Ein Chinese auf dem Fahrrad". Roman. Aus dem argenchinischen Spanisch von Silke Kleemann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 252 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ariel Magnus verwechselt Argentinien mit China
Als Christoph Kolumbus zum ersten Mal amerikanischen Boden betrat, suchte er wie besessen den schnellsten Weg nach China: an den Hof des Kaisers, den er selbst den "Großen Khan" nannte. Sein Wunschdenken war so stark, dass ihm schließlich alles, was er sah und hörte, chinesisch vorkam. Die Insel Kuba war für ihn ein Festland, im Norden mit China verbunden und mit diesem asiatischen Nachbarn in einen Dauerkrieg verwickelt. Als ihm die ersten Ureinwohner vom furchtbaren Stamm der Kannibalen berichteten, mutmaßte Kolumbus in seinem Bordbuch: "Khannibalen - ohne Zweifel die Mannen des Großen Khan". So hatte Kolumbus bereits in der ersten Stunde die lateinamerikanische Kunst des Kalauers entdeckt. Allerdings zeitlebens nicht den Weg nach China.
Einfacher hat es da ein Autor aus dem heutigen Buenos Aires wie Ariel Magnus. Der muss im Stadtteil Belgrano nur aus der Tür gehen, um ins Reich der Mitte versetzt zu sein. Den Großkhan findet er zwar in diesem größten asiatischen Migrantenviertel seiner Heimat ebenso wenig wie Kolumbus. Doch der Khannibalismus wird dort offenkundig nach wie vor praktiziert. Mehr noch: missliebige Eindringlinge werden mit so exotischen Namen wie "Getrocknetesspermagesicht" beschimpft, fahrende Reisende in versteckten Shaolin-Klöstern mit Hundesuppe empfangen, bevor sie ihr Dulce de leche mit Stäbchen verspeisen müssen und man ihnen fernöstliche Weisheiten vorträgt, die in der Sprache der Einheimischen auch "Splichwöltel" heißen. Magnus hat den Weg nach China gefunden.
Geblieben ist auch ihm die Freude am Kalauer. Denn die in Belgrano wohnhaften Argenchinier können nicht nur dem klassischen Klischee nach kein "R" sprechen. Sie scheinen fanatische Ernst-Jandl-Leser zu sein: Systematisch velwechsern sie lechts und rinks, und nach diesem zweideutigen System gibt im Roman der titelgebende "Chinese auf dem Fahrrad" über 250 Seiten die Lichtung an. Sein Name ist übrigens Li, und am Anfang des Buches wird er der nächtlichen Brandstiftung verdächtigt. Als die Aussagen des Zeugen Ramiro, eines arbeitslosen Mittzwanziger-Muttersöhnchens, die Richter nicht von seiner Unschuld überzeugen, erzwingt Li die Freiheit: Mit vorgehaltener Pistole entführt er Ramiro aus dem Gerichtsgebäude und hält ihn von nun an im Chinatown von Buenos Aires zu Hause als Geisel.
Viel Gewalt und Ketten muss Li allerdings nicht anwenden. Mehr Hotelgast als Häftling, scheint Ramiro recht froh darüber, in exotischem Ambiente endlich dem vorigen Hotel Mama entkommen zu sein. Vorausgesetzt, seine chinesischen Kerkermeister versorgen ihn mit dem Lebensnotwendigsten, einem Ladegerät für seinen iPod. Alsbald verliebt er sich in seine Mitbewohnerin Yintai, eine mit Li in Scheinehe verheiratete, kubanischstämmige Chinesin, die nicht nur die ungleichen Rassen dieser beiden Nachbarländer (wenn man der Geographie des Kolumbus folgt) miteinander verbindet, sondern auch die Sprachfehler der Karibik und des Fernen Ostens: Bekanntlich können Kubaner kein Auslaut-"s" sprechen.
Um zwischen wortspielerischen Zwerchfellattacken, bizarren Exkursen über Schlitzaugen, Fußball und die Kunst des Hundekochens, eingeschobenen Träumen und Delirien zumindest ansatzweise einen traditionellen Romanausgang herbeizuzwingen, entbrennt Li, genannt "Das Streichhölzchen", im Fast-Finale in Wut gegen die jüdischen "Leichen" - die ein Nichtchinese noch immer mit anlautendem "R" ausspräche. Mit ihrer geballten Finanzkraft wollen die nämlich, so Li, sich an den Chinesen rächen, weil sie ihnen zusehends den Rang als dominierende ethnische Minderheit ablaufen. Daher versuchen sie, ihm in einer großen Verschwörung die Schuld an der Brandserie in die Schuhe zu schieben.
Wenn ein Rezensent in dieser Form die Pointe der Handlung ausplaudert, mag das als Brandstiftung am Lesevergnügen gewertet werden. Doch wohl kaum in diesem Fall. Denn der Ausgang dieser Geschichte ist ohnehin gleichgültig. Die Handlung ist eigentlich nur ein Vorwand für ein neodadaistisch-oulipistisches Pandämonium aus Sprachverwirrungen, Sprachverzerrungen und hohlspiegelhaft deformierten Nationalklischees, das gleichermaßen den kosmopolitischen Schmelztiegel-Patriotismus Argentiniens wie so ziemlich jede der in ihn einfließenden Ethnien systematisch der Lächerlichkeit preisgibt. Wo dabei die Grenzen zum platten Rassistenwitz liegen, ist oft schwer zu sagen und hängt eigentlich nur von diskursiven Befindlichkeiten ab. Ersetzte Magnus etwa die chinesischen Einwanderer durch afrikanische und die von ihm ständig verwendeten Attribute wie "Schlitzauge" und "Reiskocher" durch ihre Entsprechungen, dürfte er eines Empörungssturms gewiss sein.
Doch auch jenseits solcher außerliterarischer Zweifel hinterlässt der Roman ein gewisses Unbehagen. Im Detail brilliert Ariel Magnus durch seinen erfrischend respektlosen, subversiven Ansatz ebenso wie durch seine oft komischen Dialoge und Sprachspiele. In Romanlänge allerdings ist die Kurzform des Kalauers schwer tragfähig. Rasch stellt sich die bange Frage ein: Ist all das wirklich mehr als ein gedehnter oder aufgeblasener Studentenscherz?
FLORIAN BORCHMEYER
Ariel Magnus: "Ein Chinese auf dem Fahrrad". Roman. Aus dem argenchinischen Spanisch von Silke Kleemann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 252 S., geb., 17,95 [Euro].
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