Produktdetails
- Verlag: Hoffmann Und Campe
- Gesamtlaufzeit: 120 Min.
- Sprache: Deutsch
- ISBN-13: 9783455302738
- Artikelnr.: 09897444
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000Eine Kerze für den heiligen Moritz
Karl Ignaz Hennetmairs Tagebuchjahr an der Seite von Thomas Bernhard / Von Thomas Wirtz
Wir müssen zu einem Moritz gehen und uns aussprechen können." Wer in Thomas Bernhards Werk auf einen solchen Satz stößt, glaubt zuerst an einen Lesefehler: Solche Moritz-Anhänglichkeit trübt den gewohnten Verwünschungsfluß. Man sperrt den Mund auf über so viel Menschenfreundlichkeit, der Kiefer knackt im Wortvertrauen, umsonst sucht das Auge in den nächsten Zeilen das gallengelbe "Aber", die Einleitung zur vollkommenen Moritz-Vernichtung. Nichts dergleichen geschieht. Im Pandämonium der Bernhardschen Welt, dieser Dunkelkammer des Berserkertums, brennt ein sentimentales Kerzchen für den heiligen, lebensrettenden Moritz. Denn er war "in den letzten Jahren in immer kürzeren Abständen der gewesen, welchem ich meine weitere Existenz verdankte, das ist nicht übertrieben und soll hier gesagt sein". Der Übertreibungskünstler resigniert, die Träne der Dankbarkeit quillt, die Erde hat ihn wieder. Ein solch herzwärmendes Bekenntnis ist für den mithassenden Bernhard-Leser geradezu verstörend, ein Verrat am kollegialen Vernichtungswillen. Aufklärung über Moritz tut not.
Der Realitätenvermittler Moritz, dem die Erzählung "Ja" 1978 ein therapeutisches Hohelied sang, hat wie so viele Bernhardsche Figuren ein lebensgeschichtliches Vorbild. Das erhöht nur die Aufmerksamkeit. Den Immobilienmakler Karl Ignaz Hennetmair lernte der stadtflüchtige Schriftsteller Thomas Bernhard 1965 kennen, als er in der Gemeinde Ohlsdorf sein erstes Haus kaufte, den heruntergekommenen und später zum aufwendig restaurierten "Kerker" umgebauten Vierkanthof. Erst 1975 ging man im Streit auseinander, der so scharf und verletzend und ungeklärt war wie alle Bernhardschen Rückzugsschlachtereien. Dazwischen aber liegt - man darf das gewissermaßen posthume Zeugnis der Erzählung durchaus wörtlich nehmen - ein Jahrzehnt der Freundschaft, ebenso unwahrscheinlich in seiner langen Dauer wie intensiv zu Lebzeiten. Bernhards Erzählung beglaubigt, was man jetzt in einem umfangreichen Band nachlesen kann. Erschienen ist auf sechshundert Seiten das Tagebuch Hennetmairs, das minutiös von Dichternähe berichtet. Und Tagebuch ist es in genauem Sinn: Denn jeden Ohlsdorfer Tag trafen sich der Misanthrop und sein Makler, gingen zusammen spazieren, aßen gemeinsam, legten sich gegenseitig ihre Korrespondenz vor. "Wir müssen zu einem Moritz gehen": Auch diese Überlebensgemeinschaft betrieb Bernhard in der eigenen, der exzessiven Form.
Soviel Nähe läßt Peinlichkeiten erwarten. Gefürchtet ist der Kammerdienerblick, der von einem großen Leben nur die zerbeulte Unterhose überliefert. Hennetmair hat zwar mit Bernhard Unterhosen gekauft, doch ihren Sitz im Leben hat er ausgespart. Unternommen hat er sein Schreibprojekt in dem Bewußtsein, Zeugnis ablegen zu müssen: "Wenn ich nichts aufzeichne, geht später jede Bernhardforschung ins Leere." Diese Geschäftsmäßigkeit läßt ihn einen Ton finden, der nie in die grelle Indiskretion umschlägt. Hennetmair saß in seinem "Leitzordnerzimmer" - so hieß es in Bernhards Erzählung - und wickelte Begegnungen ab, mit einer Nüchternheit, die Skandale nachzeichnete, selbst aber keine herstellte. Hennetmair betrieb keine Vivisektion des Einsamen, preßte kein Geständnis ab, nutzte nicht die schwache Minute. Er nahm Bernhard in seinen Alltag auf und erstattete Bericht. Daß "wir laut voreinander furzen", ist schon die ungewöhnlichste Gewöhnlichkeit und wird von keiner Triumphgeste begleitet.
Protokolliert wird nur das eine Jahr 1972. Es scheint glücklich gewählt, Bernhard sorgt für Schlagzeilen: Bei den Salzburger Festspielen liefert sein Theaterstück "Der Ignorant und der Wahnsinnige" den erwarteten Skandal, als das Abschalten der Notbeleuchtung feuerpolizeilich untersagt wird und Regisseur Peymann darauf ein Exempel hysterisierter Kunstfreiheit statuiert; Bernhard erhält den Grillparzer-, Grimme- und Csokor-Preis, kauft ein weiteres Haus, wird Mitglied der Deutschen Akademie. Das ist der Stoff, aus dem gewöhnliche Biographien sind: eine Lichterkette von Aufgeregtheiten. Obwohl die archivalische Leidenschaft Hennetmairs jede Zeitungsnotiz aufstöbert, erreichen Ohlsdorf nur die flachen Ausläufer der Skandalwellen. Im Kunstbetrieb toben Entrüstungsstürme, im Dorf deckt man den Abendtisch. Diese Regelmäßigkeit des Tagesablaufs dämpft alle Kulturerregungen. Hennetmairs Tagebuch, das sich zu gern vom Skandal mitreißen ließe, hält dem Alltag die Treue. Die Aufzeichnung über Bernhards Brotbelag wird nicht vergessen und tritt neben die vermeintliche Weltbegebenheit. Dem Chronisten ist alles eins. Das macht die aufregende Langeweile der Lektüre aus.
Irgendwann bekommt Hennetmair den Titel eines "Geheim-Dienstmanns" verliehen. Tatsächlich hält er - als Realitätenvermittler in einem buchstäblichen Sinne - den Kontakt zur Außenwelt aufrecht. Während Bernhard sich im eigenen Kerker einschließt und den Menschen aus dem Weg geht, erledigt Hennetmair Botengänge, holt die nervös erwartete Post, kauft die sieben Tageszeitungen, bringt den Fernseher zur Reparatur. Diese Tüchtigkeit des Sancho Pansa macht das Verhältnis zwischen Herr und Knecht so anfällig für Umkehrungen. Bernhard weiß um die eigene Umständlichkeit, pflegt sie mit dem Stolz des Neurotikers und ist ihr bisweilen bis zur Unerträglichkeit ausgeliefert. Dann wird jedes Wort in einem Geschäftsbrief mit Hennetmair durchgesprochen, als traue es sich ohne dessen Zustimmung nicht hinaus. Und Hennetmair streut seine Bauernschläue großzügig aus: Auf keinen Fall dürfe Bernhard seinen Verlegerbrief mit ",lieber Herr Unseld' beginnen, denn beim Geschäft gibt es keinen ,.lieben Herrn'". Dem Freundlichkeitsvernichter Bernhard wird ein solcher Ratschlag eingeleuchtet haben. Hier fühlt er sich von einem Makler verstanden, der in jedem Mitmenschen auch den Kunden erkennt.
Beim Geld hört der Spaß auf, beim Fernsehen nimmt er seinen Anfang. Die gemeinsamen Abende gehören zum Ritual dieser Freundschaft. All die Schrecken der siebziger Jahre - Blauer Bock, Erkennen Sie die Melodie? - verfolgt Bernhard mit einer Aufmerksamkeit, die Gründe für verlängerten Welthaß sucht. Irgendwann dreht man den Ton ab, und Bernhard souffliert den laufenden Bildern. Er wird zum Stimmenimitator, knödelt im bayerischen Dialekt, zündelt Zoten. Und die Stimmung wächst zur "Lachhysterie" an, man fürchtet um das Leben der Hennetmairschen "Omi", die zum Luftschnappen hinausrennt. Wie beim Zorn fällt auch an diesem Lachen seine Berserkerhaftigkeit auf. Der Witz ist brutalisiert, er ignoriert Ende und Maß. Deutlich wird Bernhards Hinsteuern auf den Punkt, wo die Ausgelassenheit in den Schmerz umkippt. Gemütlichkeit ist eine Versuchung, die man im Exzeß selbst zerstört: Erst mit Bernhards Verschwinden "legte sich der Lachkrampf und wich einer totalen Erschöpfung".
Die Übertreibung ist das Ventil, um den inneren Monolog in die Außenwelt zu entlassen: Im delegierten Krampf entlastet sich Bernhard vom Selbstgespräch. Deshalb ist es kein Zufall, wenn Hennetmair von der Entstehung der eigentlichen Werke ausgeschlossen bleibt, mit seinem willfährigen Zuhören sie aber gleichzeitig überhaupt erst möglich macht. Seine vorsichtigen Versuche, etwas über den Fortgang der Romanarbeit zu erfahren, enden in sofortiger Mißstimmung: "Darüber spreche ich nicht, sagte Thomas." Bernhard sucht nicht den poetischen Ratgeber, sondern "Ablenkung". Hennetmairs Robustheit arbeitet wie eine Gummiwand, an der sich das Toben produktiv erschöpft: Flötentöne eines Dampfdruckkessels. Meist genügt schon der Alltag zur Beruhigung. Bernhard begleitet den Realitätenvermittler auf seinen Verkaufsfahrten, belauscht Kundengespräche, sammelt Eindrücke von Krämergeist. Unverzichtbar sind ihm die forcierten Spaziergänge. "Du trittst dir den Zorn mit den Füßen aus", bemerkt Hennetmair und tut gut daran, den Weg nicht abzukürzen. Denn mit den Wochen reicht auch diese Triebabfuhr nicht mehr aus, und Bernhard braucht seine Dosis Quartalsstreit. Hennetmair sieht den Affektsturm aufziehen und hofft auf fremden Besuch: "In letzter Zeit hatte er ja keine Gelegenheit, seine Bösartigkeit woanders anzubringen, so daß ich selbst in immer größere Gefahr kam."
Seit Eckermanns Gesprächen weiß man, daß Schriftsteller immer auch für eine Krankengeschichte taugen. Ihr Protokollant ist ein Opfer, das sich für seine Unterlegenheit mit pathetischer Bewunderung rächt. Hennetmair - und das macht sein Tagebuch zu einem Wunderwerk dieser oft angeschmuddelten Gattung - leidet nicht an seiner Unterlegenheit. Er hat sich selbst einen Auftrag erteilt und erfüllt ihn mit der Disziplin eines Bürovorstehers. Vor Bernhards periodischer Widerwärtigkeit verschließt er nicht die Augen: Verklärung ist ihm ebenso fremd wie Denunziation. Bernhards grobes Spiel mit aufdringlichen Bewunderinnen, sein unbekömmlicher Umgang mit der eignen Verwandtschaft, sein Opportunismus: Hennetmair zeichnet es auf mit einer Sympathie, die sich nie gemein macht. Die Größe des Realitätenvermittlers ist es, seine Aufgabe in keinem Satz zu überschreiten. Diese Nüchternheit ist ein Freundschaftsdienst, den ihm die "Bernhardforschung" danken muß.
Karl Ignaz Hennetmair: "Ein Jahr mit Thomas Bernhard". Das notariell versiegelte Tagebuch 1972. Transkription Johannes Berchtold und Fritz Simhandl. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2000. 592 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Ignaz Hennetmairs Tagebuchjahr an der Seite von Thomas Bernhard / Von Thomas Wirtz
Wir müssen zu einem Moritz gehen und uns aussprechen können." Wer in Thomas Bernhards Werk auf einen solchen Satz stößt, glaubt zuerst an einen Lesefehler: Solche Moritz-Anhänglichkeit trübt den gewohnten Verwünschungsfluß. Man sperrt den Mund auf über so viel Menschenfreundlichkeit, der Kiefer knackt im Wortvertrauen, umsonst sucht das Auge in den nächsten Zeilen das gallengelbe "Aber", die Einleitung zur vollkommenen Moritz-Vernichtung. Nichts dergleichen geschieht. Im Pandämonium der Bernhardschen Welt, dieser Dunkelkammer des Berserkertums, brennt ein sentimentales Kerzchen für den heiligen, lebensrettenden Moritz. Denn er war "in den letzten Jahren in immer kürzeren Abständen der gewesen, welchem ich meine weitere Existenz verdankte, das ist nicht übertrieben und soll hier gesagt sein". Der Übertreibungskünstler resigniert, die Träne der Dankbarkeit quillt, die Erde hat ihn wieder. Ein solch herzwärmendes Bekenntnis ist für den mithassenden Bernhard-Leser geradezu verstörend, ein Verrat am kollegialen Vernichtungswillen. Aufklärung über Moritz tut not.
Der Realitätenvermittler Moritz, dem die Erzählung "Ja" 1978 ein therapeutisches Hohelied sang, hat wie so viele Bernhardsche Figuren ein lebensgeschichtliches Vorbild. Das erhöht nur die Aufmerksamkeit. Den Immobilienmakler Karl Ignaz Hennetmair lernte der stadtflüchtige Schriftsteller Thomas Bernhard 1965 kennen, als er in der Gemeinde Ohlsdorf sein erstes Haus kaufte, den heruntergekommenen und später zum aufwendig restaurierten "Kerker" umgebauten Vierkanthof. Erst 1975 ging man im Streit auseinander, der so scharf und verletzend und ungeklärt war wie alle Bernhardschen Rückzugsschlachtereien. Dazwischen aber liegt - man darf das gewissermaßen posthume Zeugnis der Erzählung durchaus wörtlich nehmen - ein Jahrzehnt der Freundschaft, ebenso unwahrscheinlich in seiner langen Dauer wie intensiv zu Lebzeiten. Bernhards Erzählung beglaubigt, was man jetzt in einem umfangreichen Band nachlesen kann. Erschienen ist auf sechshundert Seiten das Tagebuch Hennetmairs, das minutiös von Dichternähe berichtet. Und Tagebuch ist es in genauem Sinn: Denn jeden Ohlsdorfer Tag trafen sich der Misanthrop und sein Makler, gingen zusammen spazieren, aßen gemeinsam, legten sich gegenseitig ihre Korrespondenz vor. "Wir müssen zu einem Moritz gehen": Auch diese Überlebensgemeinschaft betrieb Bernhard in der eigenen, der exzessiven Form.
Soviel Nähe läßt Peinlichkeiten erwarten. Gefürchtet ist der Kammerdienerblick, der von einem großen Leben nur die zerbeulte Unterhose überliefert. Hennetmair hat zwar mit Bernhard Unterhosen gekauft, doch ihren Sitz im Leben hat er ausgespart. Unternommen hat er sein Schreibprojekt in dem Bewußtsein, Zeugnis ablegen zu müssen: "Wenn ich nichts aufzeichne, geht später jede Bernhardforschung ins Leere." Diese Geschäftsmäßigkeit läßt ihn einen Ton finden, der nie in die grelle Indiskretion umschlägt. Hennetmair saß in seinem "Leitzordnerzimmer" - so hieß es in Bernhards Erzählung - und wickelte Begegnungen ab, mit einer Nüchternheit, die Skandale nachzeichnete, selbst aber keine herstellte. Hennetmair betrieb keine Vivisektion des Einsamen, preßte kein Geständnis ab, nutzte nicht die schwache Minute. Er nahm Bernhard in seinen Alltag auf und erstattete Bericht. Daß "wir laut voreinander furzen", ist schon die ungewöhnlichste Gewöhnlichkeit und wird von keiner Triumphgeste begleitet.
Protokolliert wird nur das eine Jahr 1972. Es scheint glücklich gewählt, Bernhard sorgt für Schlagzeilen: Bei den Salzburger Festspielen liefert sein Theaterstück "Der Ignorant und der Wahnsinnige" den erwarteten Skandal, als das Abschalten der Notbeleuchtung feuerpolizeilich untersagt wird und Regisseur Peymann darauf ein Exempel hysterisierter Kunstfreiheit statuiert; Bernhard erhält den Grillparzer-, Grimme- und Csokor-Preis, kauft ein weiteres Haus, wird Mitglied der Deutschen Akademie. Das ist der Stoff, aus dem gewöhnliche Biographien sind: eine Lichterkette von Aufgeregtheiten. Obwohl die archivalische Leidenschaft Hennetmairs jede Zeitungsnotiz aufstöbert, erreichen Ohlsdorf nur die flachen Ausläufer der Skandalwellen. Im Kunstbetrieb toben Entrüstungsstürme, im Dorf deckt man den Abendtisch. Diese Regelmäßigkeit des Tagesablaufs dämpft alle Kulturerregungen. Hennetmairs Tagebuch, das sich zu gern vom Skandal mitreißen ließe, hält dem Alltag die Treue. Die Aufzeichnung über Bernhards Brotbelag wird nicht vergessen und tritt neben die vermeintliche Weltbegebenheit. Dem Chronisten ist alles eins. Das macht die aufregende Langeweile der Lektüre aus.
Irgendwann bekommt Hennetmair den Titel eines "Geheim-Dienstmanns" verliehen. Tatsächlich hält er - als Realitätenvermittler in einem buchstäblichen Sinne - den Kontakt zur Außenwelt aufrecht. Während Bernhard sich im eigenen Kerker einschließt und den Menschen aus dem Weg geht, erledigt Hennetmair Botengänge, holt die nervös erwartete Post, kauft die sieben Tageszeitungen, bringt den Fernseher zur Reparatur. Diese Tüchtigkeit des Sancho Pansa macht das Verhältnis zwischen Herr und Knecht so anfällig für Umkehrungen. Bernhard weiß um die eigene Umständlichkeit, pflegt sie mit dem Stolz des Neurotikers und ist ihr bisweilen bis zur Unerträglichkeit ausgeliefert. Dann wird jedes Wort in einem Geschäftsbrief mit Hennetmair durchgesprochen, als traue es sich ohne dessen Zustimmung nicht hinaus. Und Hennetmair streut seine Bauernschläue großzügig aus: Auf keinen Fall dürfe Bernhard seinen Verlegerbrief mit ",lieber Herr Unseld' beginnen, denn beim Geschäft gibt es keinen ,.lieben Herrn'". Dem Freundlichkeitsvernichter Bernhard wird ein solcher Ratschlag eingeleuchtet haben. Hier fühlt er sich von einem Makler verstanden, der in jedem Mitmenschen auch den Kunden erkennt.
Beim Geld hört der Spaß auf, beim Fernsehen nimmt er seinen Anfang. Die gemeinsamen Abende gehören zum Ritual dieser Freundschaft. All die Schrecken der siebziger Jahre - Blauer Bock, Erkennen Sie die Melodie? - verfolgt Bernhard mit einer Aufmerksamkeit, die Gründe für verlängerten Welthaß sucht. Irgendwann dreht man den Ton ab, und Bernhard souffliert den laufenden Bildern. Er wird zum Stimmenimitator, knödelt im bayerischen Dialekt, zündelt Zoten. Und die Stimmung wächst zur "Lachhysterie" an, man fürchtet um das Leben der Hennetmairschen "Omi", die zum Luftschnappen hinausrennt. Wie beim Zorn fällt auch an diesem Lachen seine Berserkerhaftigkeit auf. Der Witz ist brutalisiert, er ignoriert Ende und Maß. Deutlich wird Bernhards Hinsteuern auf den Punkt, wo die Ausgelassenheit in den Schmerz umkippt. Gemütlichkeit ist eine Versuchung, die man im Exzeß selbst zerstört: Erst mit Bernhards Verschwinden "legte sich der Lachkrampf und wich einer totalen Erschöpfung".
Die Übertreibung ist das Ventil, um den inneren Monolog in die Außenwelt zu entlassen: Im delegierten Krampf entlastet sich Bernhard vom Selbstgespräch. Deshalb ist es kein Zufall, wenn Hennetmair von der Entstehung der eigentlichen Werke ausgeschlossen bleibt, mit seinem willfährigen Zuhören sie aber gleichzeitig überhaupt erst möglich macht. Seine vorsichtigen Versuche, etwas über den Fortgang der Romanarbeit zu erfahren, enden in sofortiger Mißstimmung: "Darüber spreche ich nicht, sagte Thomas." Bernhard sucht nicht den poetischen Ratgeber, sondern "Ablenkung". Hennetmairs Robustheit arbeitet wie eine Gummiwand, an der sich das Toben produktiv erschöpft: Flötentöne eines Dampfdruckkessels. Meist genügt schon der Alltag zur Beruhigung. Bernhard begleitet den Realitätenvermittler auf seinen Verkaufsfahrten, belauscht Kundengespräche, sammelt Eindrücke von Krämergeist. Unverzichtbar sind ihm die forcierten Spaziergänge. "Du trittst dir den Zorn mit den Füßen aus", bemerkt Hennetmair und tut gut daran, den Weg nicht abzukürzen. Denn mit den Wochen reicht auch diese Triebabfuhr nicht mehr aus, und Bernhard braucht seine Dosis Quartalsstreit. Hennetmair sieht den Affektsturm aufziehen und hofft auf fremden Besuch: "In letzter Zeit hatte er ja keine Gelegenheit, seine Bösartigkeit woanders anzubringen, so daß ich selbst in immer größere Gefahr kam."
Seit Eckermanns Gesprächen weiß man, daß Schriftsteller immer auch für eine Krankengeschichte taugen. Ihr Protokollant ist ein Opfer, das sich für seine Unterlegenheit mit pathetischer Bewunderung rächt. Hennetmair - und das macht sein Tagebuch zu einem Wunderwerk dieser oft angeschmuddelten Gattung - leidet nicht an seiner Unterlegenheit. Er hat sich selbst einen Auftrag erteilt und erfüllt ihn mit der Disziplin eines Bürovorstehers. Vor Bernhards periodischer Widerwärtigkeit verschließt er nicht die Augen: Verklärung ist ihm ebenso fremd wie Denunziation. Bernhards grobes Spiel mit aufdringlichen Bewunderinnen, sein unbekömmlicher Umgang mit der eignen Verwandtschaft, sein Opportunismus: Hennetmair zeichnet es auf mit einer Sympathie, die sich nie gemein macht. Die Größe des Realitätenvermittlers ist es, seine Aufgabe in keinem Satz zu überschreiten. Diese Nüchternheit ist ein Freundschaftsdienst, den ihm die "Bernhardforschung" danken muß.
Karl Ignaz Hennetmair: "Ein Jahr mit Thomas Bernhard". Das notariell versiegelte Tagebuch 1972. Transkription Johannes Berchtold und Fritz Simhandl. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2000. 592 S., geb., 68,- DM.
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