Ein Zug fährt durch die Nacht. Ein junger russischer Intellektueller ist auf dem Weg nach Leningrad, auf den Spuren des grossen Romanciers Fjodor Dostojewskij. In einer alten, zerfledderten Ausgabe liest er das Tagebuch von Anna Grigorjewna, der Ehefrau und grossen Liebe des Schriftstellers. Bald ist er so gebannt von diesen Aufzeichnungen einer Ehe, dass die Figuren zum Leben erwachen - ein zweiter Zug fährt in entgegengesetzter Richtung. Im Jahre 1867 reist das frisch verheiratete Ehepaar Dostojewskij nach Baden-Baden, dem Eldorado aller Spieler. "Ein Sommer in Baden-Baden - das ich heute zu den schönsten, anregendsten und originellsten Werken des letzten Jahrhunderts zählen würde" (Susan Sontag).
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2020Die ewige Ausreise
Tief, verletzlich, radikal: Der Aufbau-Verlag legt die Romane von Leonid Zypkin neu auf
Susan Sontag hätte über Susan Sontag geschrieben, dass Susan Sontag die wichtigste Enthusiastin des 20. Jahrhunderts war. Für jede rigide Grundsatzerklärung – „Die weiße Rasse ist der Krebs der Menschheit“; „Nicht alle Kriege sind gleich ungerecht“ – gibt es zehn Leidenschaftsbekundungen („eines der ganz großen Bücher der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts“), die jene „Erotik der Kunst“ ausdrücken, die sie schon in den Sechzigern forderte, und natürlich ihren eigenen Status als überaus kundige tastemaker untermauern. Es ist ihr Glück – und das Glück jener, die in der intellektuellen Welt leben, die sie gebaut hat – dass ihr Geschmack meist tatsächlich untrüglich war, wenn auch sehr auf Männer konzentriert. Die von ihr bevorzugte Literatur, ob Andrej Beliy oder W. G. Sebald, war streng, ernsthaft, auf klassische Weise formal innovativ, und europäisch.
Zu ihren letzten großen Entdeckungen zählte Leonid Zypkin, ein jüdischer Arzt aus Moskau, der erst kurz vor seinem Tod 1982 seinen Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“ im Ausland publizieren konnte. Anfang der Neunziger findet Sontag in einer Ramschkiste eines Londoner Buchladens dieses Buch, das sie schließlich – die Enthusiastin präsentiert der unsichtbaren Kamera ihre weiße Haarsträhne – „zu den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts zählen würde.“ Trotz dieses Lobes blieb Zypkins posthumer Ruhm überschaubar. Eine neue Übersetzung von „Ein Sommer in Baden-Baden“ des inzwischen verstorbenen Alfred Frank, nach der ersten von 1983 von Heddy Pross-Weerth, war 2007 schnell vergriffen.
Jetzt bringt der Aufbau Verlag das Buch als Neuausgabe auf den Markt, und zusätzlich den Roman „Die Brücke über den Fluss“, das sich bei der Lektüre – so viel Sontaghaftigkeit muss erlaubt sein – als das tiefere, verletzlichere, letztlich radikalere Werk erweist. Beide gehören zu einem größeren literarischen Projekt ihres Autors, das zu gleichen Teilen kulturpolitische Erinnerungsarbeit und Selbsttherapie war – in einem Land, das nur eine Geschichte erlaubte, und in dem es offiziell keinen Bedarf an Psychotherapie gab. Das Erinnerungsprojekt betrifft nicht weniger als die Geschichte der Juden in der russischen Kultur; die Selbsttherapie der Wunden, die diese Geschichte geschlagen hat.
„Ein Sommer in Baden-Baden“ zeigt den Erzähler auf einer literarischen Wanderung auf den Spuren von Dostojewski, der 1867 mit seiner Frau Anna Dostojewskaja durch Europa in den Kurort reist, um am Roulette-Tisch reich zu werden. Mehr als 100 Jahre später fährt der Erzähler von Moskau nach Leningrad, um dort Dostojewskis Haus, inzwischen ein Museum, aufzusuchen. Er fühlt sich von Dostojewski, gerade von seinen „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ verstanden, und sich gleichzeitig durch seinen Antisemitismus als Jude abgestoßen. In „Die Brücke über den Fluss“ erinnert sich der Erzähler an Momente der Kindheit, der Flucht aus Minsk 1941, kurz vor Ankunft der Nazis, die Zeit nach dem Krieg in Moskau, dem Tod des Arztvaters, schließlich die eigene beginnende Medizinkarriere, erzählt in sich ineinanderfügenden Erinnerungswellen, mit den großen Umwürfen oder ihrem Ausbleiben, sowjetischer Geschichte im Hintergrund.
Über solche Erzählerfiguren wird in der Literaturwissenschaft gerne gesagt, dass sie „dem Autor ähnlich seien“. In einem Nachwort betont Zypkins Sohn Michail, dass der Erzähler mit seinem Vater identisch sei und die Ereignisse und Figuren real, und gleichzeitig, dass sein Vater wollte, dass die Texte als Literatur gelesen werden, und nicht als Autobiografie.
Die Bücher teilen sich diese Bezüge; zusammengehalten werden sie auch von etwas, das Sontag den „Zypkin-Satz“ nennt, lange, grenzüberschreitende Satzgefüge, die mehrere Zeitebenen und Zeitformen durchwandern und dann wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren, über Seiten hinweg, in der Form an Thomas Bernhard oder eben W. G. Sebald erinnernd, die Zypkin, der die Bücher in den späten Siebzigern schrieb, natürlich nicht gekannt hat, weswegen Sontag ihm dieses Instrument zur Beschwörung von Erinnerungssplittern und besessener Geschichte als originäre Schöpfung zuspricht, der Zypkin-Satz eben.
In ihrem Vorwort zum Dostojewski-Buch bemüht sich Sontag, eine Verwandtschaft zwischen Zypkin und Sebald herzustellen. Dem Band nachgestellt sind Bilder aus einem Fotoalbum von Zypkin mit Aufnahmen aus Leningrad, begleitet von relevanten Dostojewski-Zitaten, die, so Sontag, wohl eventuell als Illustration für sein Buch gedacht waren, so wie Sebald seine Werke illustriert hat.
Doch obwohl sie sich berühren, als Texte im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Essay und dem 19. und dem 20. Jahrhundert, unterscheiden sie sich in etwas Grundsätzlichem. Sebald, geboren 1944 im Allgäu, musste erst auf Wanderschaft gehen, um den Schmerz und die Zerstörung der Schoah zu finden. Für Zypkin, geboren 1926 in Minsk, gehörten sie zur Familiengeschichte. Er ist 15, als die Wehrmacht die Sowjetunion überfällt, die Familie flieht aus Minsk, ein Cousin seiner Mutter, eine heldenhafte Figur, wird als Soldat schnell vermisst, die Familie seines Vaters wird im Ghetto von Minsk ermordet. Auch wenn in diese Zeit die Jugend des Erzählers, häufig distanzierend „der Junge“ genannt, fällt, geht dem Tonfall von „Die Brücke über den Fluss“ jedes Kriegsjugendklischee zwischen Terror und Aufregung ab. Wie beiläufig streut der Erzähler Tod und Vernichtung ein. Über die Mutter eines Schwarms heißt es: „die Familie des Jungen nannte sie eine unangenehme Person, wahrscheinlich weil sie sich gern hübsch kleidete und immer nach Parfüm roch – die Deutschen töteten sie, weil sie Jüdin war.“ Und dann geht es weiter in der Erinnerung an den Besuch beim Schwarm. Nicht die Länge oder Verschachtelung, sondern dieser grausame Fakt zwischen zwei Gedankenstrichen machen einen Zypkin-Satz aus.
Doch der Antisemitismus beginnt weder mit dem Einfall der Deutschen, noch endet er mit ihrer Niederlage. Durch seinen Beruf als Arzt ist sein Vater besonders exponiert, während der „Ärzteverschwörung“ 1952 verliert er seine Stellung. Die Zypkins sind am ehesten als Bildungsbürger zu verstehen, durch die Arztposten der Familie haben sie einen gewissen Status. Sie verkehren hauptsächlich mit anderen Juden und kommunizieren in Codes und Anspielungen darüber, worüber offen nicht gesprochen und geschrieben werden darf. Auch die Texte von Zypkin waren für die Schublade geschrieben, vielleicht mit dem vorsichtigen Hintergedanken, sie im Ausland unter Pseudonym zu publizieren. Trotzdem sind, für den Falle eines Fundes durch die Geheimpolizei, Details verwischt – so heißt der titelgebende Fluss im Roman Nerotsch, aber eigentlich fließt durch Minsk der Swislatsch.
Die tatsächliche Veröffentlichung erfolgte spät. „Ein Sommer in Baden-Baden“ erschien 1982 in mehreren Folgen in Nowaja gaseta, einem New Yorker Emigrantenmagazin. Dem Text war also etwas gelungen, das zwei Zypkin-Generationen verwehrt blieb: die Ausreise aus der Sowjetunion. Erst Michail Zypkin durfte Ende Siebziger in die USA gehen, Leonid Zypkin bemühte sich mehrfach vergeblich darum, ihm nachzufolgen.
Und auch seine Eltern, Boris und Tanja, hätten ähnliche Träume, so schreibt er in seiner bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten Erzählung „Norartakir“, die eine Reise nach Armenien schildert: „‚Tanja, die Türkei‘, sagte er zu seiner Ehefrau, nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, fast flüsternd, aber sie hörte ihn trotzdem, und dann sahen sie beide aus dem Fenster, drückten die Stirn an das kalte Glas, drückten sich ihre Nasen platt; damit sie das Fenster überhaupt erreichen konnte, musste sie sich aufrichten und sich über ihn beugen, ihre Hände auf seinen Beinen – für einen Moment schien es sogar so, als würde das Flugzeug zu ihrer Seite kippen.“ Es ist auch diese fast biblische ängstliche Hoffnung, die einen Zypkin-Satz ausmacht. Und vielleicht ist es auch diese Angst, die verhindert hat, dass Zypkin seine Texte als Samisdat verbreitete, wie es in den grauen Sechzigern und noch graueren Siebzigern üblich war.
Tatsächlich war die Breschnew-Ära so dumpf, dass schon ihr Name nach sumpfigem Morast und verwesender Geschichte klingt: in der „Stagnation“ versickerten die letzten hoffnungsvollen Tropfen aus dem „Tauwetter“, die Wirtschaft wurde schwächer, das Politbüro dafür älter, der Generalsekretär selbst war nach mehreren Schlaganfällen kaum noch handlungsfähig. Die offiziell erschienene Literatur dieser Jahre ist, bis auf die Geschichten von Juri Trifonow, zurecht vergessen. Die einzige kulturelle Neuerung war die Einführung der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ als zentralem Mythos. In diesem Mythos war für die Erinnerungen eines Leonid Zypkin, dessen Familie in diesem Krieg so viel verloren hat, kein Platz.
Es gibt einen sowjetischen Witz aus dieser Zeit: Unter Stalin war es wie in einem Bus – die eine Hälfte sitzt (ein), die andere Hälfte zittert vor Angst. Unter Chruschtschow war es wie im Zirkus: Einer redet und alle anderen lachen. Und unter Breschnew ist es wie im Kino: Alle warten nur darauf, dass der Film vorbei ist.
Der Breschnew-Film endete endgültig 1985 mit der Perestroika. Es ist mehr als denkbar, dass wenigstens „Ein Sommer in Baden-Baden“ dann in einem der großen sowjetischen Literaturmagazine wie Oktjabr hätte erscheinen dürfen, schon, um die Traditionslinien russisch-sowjetischer Literatur zu unterstreichen. Doch da war Leonid Zypkins einziger Fürsprecher, er selbst, schon tot. Er starb 1982, wenige Monate vor dem ihm so verhassten anderen Leonid. Immer noch kommen vergessene, vergrabene, halbverbrannte Schätze der sowjetischen Schubladenliteratur an uns heran.
Das ist Grund zur Freude, aber nicht für Triumphgefühle: Schließlich ist ihnen eingeschrieben, was nie geschrieben wurde. Aber, immerhin, Leonid Zypkin ist jetzt wieder auf Deutsch zu lesen, die restlichen Texte, allen voran „Norartakir“ folgen hoffentlich, und es lässt sich etwas nachvollziehen, das die Enthusiastin Susan Sontag wohl gefreut hätte: dass seine Literatur noch radikaler ist als ihr Lob.
FABIAN WOLFF
Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden. Roman. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 312 Seiten, 24 Euro.
Leonid Zypkin: Die Brücke über den Fluss. Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 208 Seiten, 22 Euro.
Obwohl sich die Poetiken von
Zypkin und Sebald berühren,
gibt es einen großen Unterschied
Nach dem Ende der Zensur
war Zypkins einziger Fürsprecher
schon tot: er selbst
Leonid Zypkin fotografierte die Schauplätze seiner Romane, bevor er über sie schrieb: die Wohnungen seiner Figuren, die Orte der Handlung. Hier eine Straßenszene in Leningrad, fotografiert vom Autor.
Foto: Leonid Tsypkin Estate
Der Arzt und Autor als expressionistischer Fotograf: Aufnahme aus dem Nachlass von Leonid Zypkin.
Foto: Leonid Tsypkin Estate
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Tief, verletzlich, radikal: Der Aufbau-Verlag legt die Romane von Leonid Zypkin neu auf
Susan Sontag hätte über Susan Sontag geschrieben, dass Susan Sontag die wichtigste Enthusiastin des 20. Jahrhunderts war. Für jede rigide Grundsatzerklärung – „Die weiße Rasse ist der Krebs der Menschheit“; „Nicht alle Kriege sind gleich ungerecht“ – gibt es zehn Leidenschaftsbekundungen („eines der ganz großen Bücher der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts“), die jene „Erotik der Kunst“ ausdrücken, die sie schon in den Sechzigern forderte, und natürlich ihren eigenen Status als überaus kundige tastemaker untermauern. Es ist ihr Glück – und das Glück jener, die in der intellektuellen Welt leben, die sie gebaut hat – dass ihr Geschmack meist tatsächlich untrüglich war, wenn auch sehr auf Männer konzentriert. Die von ihr bevorzugte Literatur, ob Andrej Beliy oder W. G. Sebald, war streng, ernsthaft, auf klassische Weise formal innovativ, und europäisch.
Zu ihren letzten großen Entdeckungen zählte Leonid Zypkin, ein jüdischer Arzt aus Moskau, der erst kurz vor seinem Tod 1982 seinen Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“ im Ausland publizieren konnte. Anfang der Neunziger findet Sontag in einer Ramschkiste eines Londoner Buchladens dieses Buch, das sie schließlich – die Enthusiastin präsentiert der unsichtbaren Kamera ihre weiße Haarsträhne – „zu den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts zählen würde.“ Trotz dieses Lobes blieb Zypkins posthumer Ruhm überschaubar. Eine neue Übersetzung von „Ein Sommer in Baden-Baden“ des inzwischen verstorbenen Alfred Frank, nach der ersten von 1983 von Heddy Pross-Weerth, war 2007 schnell vergriffen.
Jetzt bringt der Aufbau Verlag das Buch als Neuausgabe auf den Markt, und zusätzlich den Roman „Die Brücke über den Fluss“, das sich bei der Lektüre – so viel Sontaghaftigkeit muss erlaubt sein – als das tiefere, verletzlichere, letztlich radikalere Werk erweist. Beide gehören zu einem größeren literarischen Projekt ihres Autors, das zu gleichen Teilen kulturpolitische Erinnerungsarbeit und Selbsttherapie war – in einem Land, das nur eine Geschichte erlaubte, und in dem es offiziell keinen Bedarf an Psychotherapie gab. Das Erinnerungsprojekt betrifft nicht weniger als die Geschichte der Juden in der russischen Kultur; die Selbsttherapie der Wunden, die diese Geschichte geschlagen hat.
„Ein Sommer in Baden-Baden“ zeigt den Erzähler auf einer literarischen Wanderung auf den Spuren von Dostojewski, der 1867 mit seiner Frau Anna Dostojewskaja durch Europa in den Kurort reist, um am Roulette-Tisch reich zu werden. Mehr als 100 Jahre später fährt der Erzähler von Moskau nach Leningrad, um dort Dostojewskis Haus, inzwischen ein Museum, aufzusuchen. Er fühlt sich von Dostojewski, gerade von seinen „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ verstanden, und sich gleichzeitig durch seinen Antisemitismus als Jude abgestoßen. In „Die Brücke über den Fluss“ erinnert sich der Erzähler an Momente der Kindheit, der Flucht aus Minsk 1941, kurz vor Ankunft der Nazis, die Zeit nach dem Krieg in Moskau, dem Tod des Arztvaters, schließlich die eigene beginnende Medizinkarriere, erzählt in sich ineinanderfügenden Erinnerungswellen, mit den großen Umwürfen oder ihrem Ausbleiben, sowjetischer Geschichte im Hintergrund.
Über solche Erzählerfiguren wird in der Literaturwissenschaft gerne gesagt, dass sie „dem Autor ähnlich seien“. In einem Nachwort betont Zypkins Sohn Michail, dass der Erzähler mit seinem Vater identisch sei und die Ereignisse und Figuren real, und gleichzeitig, dass sein Vater wollte, dass die Texte als Literatur gelesen werden, und nicht als Autobiografie.
Die Bücher teilen sich diese Bezüge; zusammengehalten werden sie auch von etwas, das Sontag den „Zypkin-Satz“ nennt, lange, grenzüberschreitende Satzgefüge, die mehrere Zeitebenen und Zeitformen durchwandern und dann wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren, über Seiten hinweg, in der Form an Thomas Bernhard oder eben W. G. Sebald erinnernd, die Zypkin, der die Bücher in den späten Siebzigern schrieb, natürlich nicht gekannt hat, weswegen Sontag ihm dieses Instrument zur Beschwörung von Erinnerungssplittern und besessener Geschichte als originäre Schöpfung zuspricht, der Zypkin-Satz eben.
In ihrem Vorwort zum Dostojewski-Buch bemüht sich Sontag, eine Verwandtschaft zwischen Zypkin und Sebald herzustellen. Dem Band nachgestellt sind Bilder aus einem Fotoalbum von Zypkin mit Aufnahmen aus Leningrad, begleitet von relevanten Dostojewski-Zitaten, die, so Sontag, wohl eventuell als Illustration für sein Buch gedacht waren, so wie Sebald seine Werke illustriert hat.
Doch obwohl sie sich berühren, als Texte im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Essay und dem 19. und dem 20. Jahrhundert, unterscheiden sie sich in etwas Grundsätzlichem. Sebald, geboren 1944 im Allgäu, musste erst auf Wanderschaft gehen, um den Schmerz und die Zerstörung der Schoah zu finden. Für Zypkin, geboren 1926 in Minsk, gehörten sie zur Familiengeschichte. Er ist 15, als die Wehrmacht die Sowjetunion überfällt, die Familie flieht aus Minsk, ein Cousin seiner Mutter, eine heldenhafte Figur, wird als Soldat schnell vermisst, die Familie seines Vaters wird im Ghetto von Minsk ermordet. Auch wenn in diese Zeit die Jugend des Erzählers, häufig distanzierend „der Junge“ genannt, fällt, geht dem Tonfall von „Die Brücke über den Fluss“ jedes Kriegsjugendklischee zwischen Terror und Aufregung ab. Wie beiläufig streut der Erzähler Tod und Vernichtung ein. Über die Mutter eines Schwarms heißt es: „die Familie des Jungen nannte sie eine unangenehme Person, wahrscheinlich weil sie sich gern hübsch kleidete und immer nach Parfüm roch – die Deutschen töteten sie, weil sie Jüdin war.“ Und dann geht es weiter in der Erinnerung an den Besuch beim Schwarm. Nicht die Länge oder Verschachtelung, sondern dieser grausame Fakt zwischen zwei Gedankenstrichen machen einen Zypkin-Satz aus.
Doch der Antisemitismus beginnt weder mit dem Einfall der Deutschen, noch endet er mit ihrer Niederlage. Durch seinen Beruf als Arzt ist sein Vater besonders exponiert, während der „Ärzteverschwörung“ 1952 verliert er seine Stellung. Die Zypkins sind am ehesten als Bildungsbürger zu verstehen, durch die Arztposten der Familie haben sie einen gewissen Status. Sie verkehren hauptsächlich mit anderen Juden und kommunizieren in Codes und Anspielungen darüber, worüber offen nicht gesprochen und geschrieben werden darf. Auch die Texte von Zypkin waren für die Schublade geschrieben, vielleicht mit dem vorsichtigen Hintergedanken, sie im Ausland unter Pseudonym zu publizieren. Trotzdem sind, für den Falle eines Fundes durch die Geheimpolizei, Details verwischt – so heißt der titelgebende Fluss im Roman Nerotsch, aber eigentlich fließt durch Minsk der Swislatsch.
Die tatsächliche Veröffentlichung erfolgte spät. „Ein Sommer in Baden-Baden“ erschien 1982 in mehreren Folgen in Nowaja gaseta, einem New Yorker Emigrantenmagazin. Dem Text war also etwas gelungen, das zwei Zypkin-Generationen verwehrt blieb: die Ausreise aus der Sowjetunion. Erst Michail Zypkin durfte Ende Siebziger in die USA gehen, Leonid Zypkin bemühte sich mehrfach vergeblich darum, ihm nachzufolgen.
Und auch seine Eltern, Boris und Tanja, hätten ähnliche Träume, so schreibt er in seiner bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten Erzählung „Norartakir“, die eine Reise nach Armenien schildert: „‚Tanja, die Türkei‘, sagte er zu seiner Ehefrau, nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, fast flüsternd, aber sie hörte ihn trotzdem, und dann sahen sie beide aus dem Fenster, drückten die Stirn an das kalte Glas, drückten sich ihre Nasen platt; damit sie das Fenster überhaupt erreichen konnte, musste sie sich aufrichten und sich über ihn beugen, ihre Hände auf seinen Beinen – für einen Moment schien es sogar so, als würde das Flugzeug zu ihrer Seite kippen.“ Es ist auch diese fast biblische ängstliche Hoffnung, die einen Zypkin-Satz ausmacht. Und vielleicht ist es auch diese Angst, die verhindert hat, dass Zypkin seine Texte als Samisdat verbreitete, wie es in den grauen Sechzigern und noch graueren Siebzigern üblich war.
Tatsächlich war die Breschnew-Ära so dumpf, dass schon ihr Name nach sumpfigem Morast und verwesender Geschichte klingt: in der „Stagnation“ versickerten die letzten hoffnungsvollen Tropfen aus dem „Tauwetter“, die Wirtschaft wurde schwächer, das Politbüro dafür älter, der Generalsekretär selbst war nach mehreren Schlaganfällen kaum noch handlungsfähig. Die offiziell erschienene Literatur dieser Jahre ist, bis auf die Geschichten von Juri Trifonow, zurecht vergessen. Die einzige kulturelle Neuerung war die Einführung der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ als zentralem Mythos. In diesem Mythos war für die Erinnerungen eines Leonid Zypkin, dessen Familie in diesem Krieg so viel verloren hat, kein Platz.
Es gibt einen sowjetischen Witz aus dieser Zeit: Unter Stalin war es wie in einem Bus – die eine Hälfte sitzt (ein), die andere Hälfte zittert vor Angst. Unter Chruschtschow war es wie im Zirkus: Einer redet und alle anderen lachen. Und unter Breschnew ist es wie im Kino: Alle warten nur darauf, dass der Film vorbei ist.
Der Breschnew-Film endete endgültig 1985 mit der Perestroika. Es ist mehr als denkbar, dass wenigstens „Ein Sommer in Baden-Baden“ dann in einem der großen sowjetischen Literaturmagazine wie Oktjabr hätte erscheinen dürfen, schon, um die Traditionslinien russisch-sowjetischer Literatur zu unterstreichen. Doch da war Leonid Zypkins einziger Fürsprecher, er selbst, schon tot. Er starb 1982, wenige Monate vor dem ihm so verhassten anderen Leonid. Immer noch kommen vergessene, vergrabene, halbverbrannte Schätze der sowjetischen Schubladenliteratur an uns heran.
Das ist Grund zur Freude, aber nicht für Triumphgefühle: Schließlich ist ihnen eingeschrieben, was nie geschrieben wurde. Aber, immerhin, Leonid Zypkin ist jetzt wieder auf Deutsch zu lesen, die restlichen Texte, allen voran „Norartakir“ folgen hoffentlich, und es lässt sich etwas nachvollziehen, das die Enthusiastin Susan Sontag wohl gefreut hätte: dass seine Literatur noch radikaler ist als ihr Lob.
FABIAN WOLFF
Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden. Roman. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 312 Seiten, 24 Euro.
Leonid Zypkin: Die Brücke über den Fluss. Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 208 Seiten, 22 Euro.
Obwohl sich die Poetiken von
Zypkin und Sebald berühren,
gibt es einen großen Unterschied
Nach dem Ende der Zensur
war Zypkins einziger Fürsprecher
schon tot: er selbst
Leonid Zypkin fotografierte die Schauplätze seiner Romane, bevor er über sie schrieb: die Wohnungen seiner Figuren, die Orte der Handlung. Hier eine Straßenszene in Leningrad, fotografiert vom Autor.
Foto: Leonid Tsypkin Estate
Der Arzt und Autor als expressionistischer Fotograf: Aufnahme aus dem Nachlass von Leonid Zypkin.
Foto: Leonid Tsypkin Estate
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2020Erniedrigung schafft Größenwahn
Erzählen wie nach einer Nahtoderfahrung: Der Pathologe Leonid Zypkin seziert sein eigenes jüdisch-sowjetisches Familienschicksal
Dass Leonid Zypkin (1926 bis 1982), ein sowjetischer Mediziner und Pathologe, der nach Feierabend Gedichte und Prosa schrieb, postum als einer der großen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts gewürdigt wurde, grenzt an ein Wunder. Es verdankt sich nicht zuletzt der Schriftstellerin Susan Sontag, die Zypkins Dostojewski-Roman "Ein Sommer in Baden-Baden" Anfang der Neunziger als ausgemustertes Taschenbuch in einer Londoner Bücherwühlkiste entdeckte und seinen literarischen Rang erkannte. Mit Sontags luzidem Einführungsessay, der auch für die Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische zur obligatorischen Beigabe wurde, hat nun der Aufbau Verlag die schon länger vergriffene kongeniale Übertragung von Alfred Frank in einer schönen Neuedition herausgebracht.
Erstmals sind darin auch Zypkins Fotos von Dostojewski-Schauplätzen im Leningrad der siebziger Jahre enthalten, die seine Milieustudien beim Schreibprozess dokumentieren. Und flankierend bringt der Verlag auch noch Zypkins früheren Roman heraus: "Die Brücke über den Fluss", eine Familien- und Kriegsgeschichte, an der der Autor seine einzigartige, Entferntes und Gegensätzliches zu einem Gesamtklang verklammernde Poetik entwickelte.
Zypkin wuchs im weißrussischen Minsk in einer jüdischen Ärztefamilie auf und wurde in seinen literarischen Interessen von einer gebildeten Moskauer Tante gefördert. Nach dem deutschen Überfall 1941 gelang der Kernfamilie gerade noch die Flucht aus Minsk, wo die Besatzer dann Verwandte und Kollegen ermordeten. Die aus der Evakuierung Heimkehrenden fanden die Stadt völlig zerstört vor. Zypkin zog später nach Moskau und machte eine wissenschaftliche Karriere. Doch die antisemitische Aggression, der erst sein Vater, dann er selbst und schließlich auch sein Sohn ausgesetzt waren, hat ihn dauerhaft gezeichnet bis zum frühen Herztod an seinem sechsundfünfzigsten Geburtstag.
Zypkins Erzählkunst erinnert an das Halluzinieren infolge einer Nahtoderfahrung, wobei weitgespannte Zusammenhänge nachgezeichnet und Zeiträume durchflogen werden, dies aber in fotografisch präzisen Bildern. Der Autor, der in "Die Brücke über den Fluss" sein früheres Selbst in der dritten Person schildert, sieht, wie dieser dickliche Junge auf das pompöse Opernhaus zuradelt, wo schon bald der Stab der deutschen Besatzer untergebracht sein wird; das Radfahren hatte ihm kurz zuvor der bewunderte große Cousin beigebracht, der nach Kriegsbeginn zum Flugzeugwartungsdienst gegangen war, bald aber von einem deutschen Panzerkommando getötet wurde, weshalb Briefe der Familie an ihn zurückkamen, woraufhin die Großmutter, die besonders an dem jungen Mann hing, ihr Gedächtnis verlor.
Ein verstörender Reiz des Buches liegt in seiner Engführung von Eros und Thanatos. So absorbieren den halbwüchsigen Helden des ersten Teils verwirrende Gefühle für die Tochter eines Kollegen seines Vaters, die von Ehrfurcht über Mitleid bis zur süßen Versuchung, fremde Schwäche auszunutzen, changieren, während deutsche Flieger über der Stadt kreisen, die durch Brände auch nachts taghell erleuchtet ist. Der zweite Teil beschreibt die tödliche Lungenerkrankung des Vaters und die Therapiebemühungen seiner Ärztekollegen in peinvoll professionellen Einzelheiten. Dabei entbrennt Zypkins dieses Sterben begleitendes Alter Ego, nun als verheirateter Mann, für eine Krankenschwester und nötigt ihr, während sie Uringefäße reinigt, einen Kuss ab.
Als Pathologe hat der Autor stets das Ende seiner Figuren vor Augen. Mit dem Bild des einst begehrten Mädchens zieht auch die Gestalt der ältlichen Museumsführerin herauf, die sie später sein wird. Passanten in der Metro stellt der Erzähler sich sogleich in späteren Lebensphasen und auf dem Totenbett vor. Mit untrüglichem Blick des Seelenarchäologen führt er zudem die Langzeitwirkung von Traumata vor. Die Ohrfeige, die er als Heranwachsender von einem viel kleineren Jungen bekam, weil er Jude war, erzeugt in ihm noch lange sowohl Schuldgefühle als auch Rachephantasien. Ein Echo davon findet sich in seinen sadistischen Anwandlungen gegenüber dem großen, aber feigen Familienhund und den grotesken Vorwürfen an seine Frau, für sie sei er nur "Scheiße".
Hier liegt ein Schlüssel zu Zypkins Hauptwerk, dem Roman über den von Nichtigkeitsgefühlen und Ressentiments, auch gegen Juden, besessenen Dostojewski, dessen literarische Größe aus seinen menschlichen Niederlagen hervorwächst. "Ein Sommer in Baden-Baden" entstand in den Jahren 1977 bis 1980, als Zypkins Sohn in die Vereinigten Staaten ausgereist und er selbst deswegen an seinem Institut degradiert worden war. Es ist eine Annäherung an den von Geldnot, Spielsucht, epileptischen Anfällen und der Erinnerung an seine Sträflingszeit geplagten Romancier, die sich von den Aufzeichnungen von dessen zweiter Frau, der jungen Stenotypistin Anna Snitkina, leiten lässt. Der exzeptionell einfühlsame Text vergegenwärtigt die komplexgeladene Verachtung, die das vor Gläubigern geflohene Paar für Juden, Deutsche, Polen, aber auch weltläufige Russen empfindet, wie der Schriftsteller Schmuck und Kleidung seiner Frau verpfändet und sie wegen Nichtigkeiten anfährt. Und wie ihr die Liebe Kraft gibt, zu ihm zu halten und zu verzeihen. Fast wie ein liebender Partner vergibt auch Zypkin Dostojewski dessen Antisemitismus.
Der Erzählstrom verflicht zwei Reisen: die der Dostojewskis während der Sommermonate 1867 und Zypkins eigene Erkundungstour mehr als hundert Jahre später ins sowjetisch graue Leningrad, wie Sankt Petersburg damals hieß, wo er bei einer mütterlichen Freundin unterkommt, in deren Schicksal - ihr Mann kam ins Lager, wurde untreu, sie verzieh ihm - Dostojewskis Drama widerhallt. Ihr ist das Buch gewidmet. Zypkin, der profunde Kenner von Dostojewskis Werk und Wirkung, vergegenwärtigt dessen Obsessionen, als wären es seine eigenen. Der lange Atem der über Seiten mäandernden, durch Gedankenstriche lose vernähten "Zypkin-Sätze" trägt durch Epochen und Seelenlandschaften. Szenen aus Dostojewskis Katorga scheinen auf, Figuren seiner Romane, erniedrigende Begegnungen mit Iwan Turgenjew und Iwan Gontscharow, die er anpumpt, dann megalomane Phantasien, aber auch die namenlosen Schatten von Dissidenten des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa von Alexander Solschenizyn, der Dostojewskis slawophile Mission fortsetzte, oder von dessen westlich orientiertem Gegenpart, dem Menschenrechtler Andrej Sacharow. Dazwischen aber finden sich immer wieder beglückende Inseln gemeinsamen "Schwimmens", wie Zypkin die ungeschützte Bodenlosigkeit der Liebe umschreibt, mittels deren die jungvermählten Eheleute Dostojewski ihre Wunden heilen.
KERSTIN HOLM
Leonid Zypkin: "Die Brücke über den Fluss". Roman.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag Berlin, 2020. 208 S., geb., 22,- [Euro].
Leonid Zypkin: "Ein Sommer in Baden-Baden". Roman.
Aus dem Russischen von Alfred Frank. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 312 S., geb., 24,- [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erzählen wie nach einer Nahtoderfahrung: Der Pathologe Leonid Zypkin seziert sein eigenes jüdisch-sowjetisches Familienschicksal
Dass Leonid Zypkin (1926 bis 1982), ein sowjetischer Mediziner und Pathologe, der nach Feierabend Gedichte und Prosa schrieb, postum als einer der großen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts gewürdigt wurde, grenzt an ein Wunder. Es verdankt sich nicht zuletzt der Schriftstellerin Susan Sontag, die Zypkins Dostojewski-Roman "Ein Sommer in Baden-Baden" Anfang der Neunziger als ausgemustertes Taschenbuch in einer Londoner Bücherwühlkiste entdeckte und seinen literarischen Rang erkannte. Mit Sontags luzidem Einführungsessay, der auch für die Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische zur obligatorischen Beigabe wurde, hat nun der Aufbau Verlag die schon länger vergriffene kongeniale Übertragung von Alfred Frank in einer schönen Neuedition herausgebracht.
Erstmals sind darin auch Zypkins Fotos von Dostojewski-Schauplätzen im Leningrad der siebziger Jahre enthalten, die seine Milieustudien beim Schreibprozess dokumentieren. Und flankierend bringt der Verlag auch noch Zypkins früheren Roman heraus: "Die Brücke über den Fluss", eine Familien- und Kriegsgeschichte, an der der Autor seine einzigartige, Entferntes und Gegensätzliches zu einem Gesamtklang verklammernde Poetik entwickelte.
Zypkin wuchs im weißrussischen Minsk in einer jüdischen Ärztefamilie auf und wurde in seinen literarischen Interessen von einer gebildeten Moskauer Tante gefördert. Nach dem deutschen Überfall 1941 gelang der Kernfamilie gerade noch die Flucht aus Minsk, wo die Besatzer dann Verwandte und Kollegen ermordeten. Die aus der Evakuierung Heimkehrenden fanden die Stadt völlig zerstört vor. Zypkin zog später nach Moskau und machte eine wissenschaftliche Karriere. Doch die antisemitische Aggression, der erst sein Vater, dann er selbst und schließlich auch sein Sohn ausgesetzt waren, hat ihn dauerhaft gezeichnet bis zum frühen Herztod an seinem sechsundfünfzigsten Geburtstag.
Zypkins Erzählkunst erinnert an das Halluzinieren infolge einer Nahtoderfahrung, wobei weitgespannte Zusammenhänge nachgezeichnet und Zeiträume durchflogen werden, dies aber in fotografisch präzisen Bildern. Der Autor, der in "Die Brücke über den Fluss" sein früheres Selbst in der dritten Person schildert, sieht, wie dieser dickliche Junge auf das pompöse Opernhaus zuradelt, wo schon bald der Stab der deutschen Besatzer untergebracht sein wird; das Radfahren hatte ihm kurz zuvor der bewunderte große Cousin beigebracht, der nach Kriegsbeginn zum Flugzeugwartungsdienst gegangen war, bald aber von einem deutschen Panzerkommando getötet wurde, weshalb Briefe der Familie an ihn zurückkamen, woraufhin die Großmutter, die besonders an dem jungen Mann hing, ihr Gedächtnis verlor.
Ein verstörender Reiz des Buches liegt in seiner Engführung von Eros und Thanatos. So absorbieren den halbwüchsigen Helden des ersten Teils verwirrende Gefühle für die Tochter eines Kollegen seines Vaters, die von Ehrfurcht über Mitleid bis zur süßen Versuchung, fremde Schwäche auszunutzen, changieren, während deutsche Flieger über der Stadt kreisen, die durch Brände auch nachts taghell erleuchtet ist. Der zweite Teil beschreibt die tödliche Lungenerkrankung des Vaters und die Therapiebemühungen seiner Ärztekollegen in peinvoll professionellen Einzelheiten. Dabei entbrennt Zypkins dieses Sterben begleitendes Alter Ego, nun als verheirateter Mann, für eine Krankenschwester und nötigt ihr, während sie Uringefäße reinigt, einen Kuss ab.
Als Pathologe hat der Autor stets das Ende seiner Figuren vor Augen. Mit dem Bild des einst begehrten Mädchens zieht auch die Gestalt der ältlichen Museumsführerin herauf, die sie später sein wird. Passanten in der Metro stellt der Erzähler sich sogleich in späteren Lebensphasen und auf dem Totenbett vor. Mit untrüglichem Blick des Seelenarchäologen führt er zudem die Langzeitwirkung von Traumata vor. Die Ohrfeige, die er als Heranwachsender von einem viel kleineren Jungen bekam, weil er Jude war, erzeugt in ihm noch lange sowohl Schuldgefühle als auch Rachephantasien. Ein Echo davon findet sich in seinen sadistischen Anwandlungen gegenüber dem großen, aber feigen Familienhund und den grotesken Vorwürfen an seine Frau, für sie sei er nur "Scheiße".
Hier liegt ein Schlüssel zu Zypkins Hauptwerk, dem Roman über den von Nichtigkeitsgefühlen und Ressentiments, auch gegen Juden, besessenen Dostojewski, dessen literarische Größe aus seinen menschlichen Niederlagen hervorwächst. "Ein Sommer in Baden-Baden" entstand in den Jahren 1977 bis 1980, als Zypkins Sohn in die Vereinigten Staaten ausgereist und er selbst deswegen an seinem Institut degradiert worden war. Es ist eine Annäherung an den von Geldnot, Spielsucht, epileptischen Anfällen und der Erinnerung an seine Sträflingszeit geplagten Romancier, die sich von den Aufzeichnungen von dessen zweiter Frau, der jungen Stenotypistin Anna Snitkina, leiten lässt. Der exzeptionell einfühlsame Text vergegenwärtigt die komplexgeladene Verachtung, die das vor Gläubigern geflohene Paar für Juden, Deutsche, Polen, aber auch weltläufige Russen empfindet, wie der Schriftsteller Schmuck und Kleidung seiner Frau verpfändet und sie wegen Nichtigkeiten anfährt. Und wie ihr die Liebe Kraft gibt, zu ihm zu halten und zu verzeihen. Fast wie ein liebender Partner vergibt auch Zypkin Dostojewski dessen Antisemitismus.
Der Erzählstrom verflicht zwei Reisen: die der Dostojewskis während der Sommermonate 1867 und Zypkins eigene Erkundungstour mehr als hundert Jahre später ins sowjetisch graue Leningrad, wie Sankt Petersburg damals hieß, wo er bei einer mütterlichen Freundin unterkommt, in deren Schicksal - ihr Mann kam ins Lager, wurde untreu, sie verzieh ihm - Dostojewskis Drama widerhallt. Ihr ist das Buch gewidmet. Zypkin, der profunde Kenner von Dostojewskis Werk und Wirkung, vergegenwärtigt dessen Obsessionen, als wären es seine eigenen. Der lange Atem der über Seiten mäandernden, durch Gedankenstriche lose vernähten "Zypkin-Sätze" trägt durch Epochen und Seelenlandschaften. Szenen aus Dostojewskis Katorga scheinen auf, Figuren seiner Romane, erniedrigende Begegnungen mit Iwan Turgenjew und Iwan Gontscharow, die er anpumpt, dann megalomane Phantasien, aber auch die namenlosen Schatten von Dissidenten des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa von Alexander Solschenizyn, der Dostojewskis slawophile Mission fortsetzte, oder von dessen westlich orientiertem Gegenpart, dem Menschenrechtler Andrej Sacharow. Dazwischen aber finden sich immer wieder beglückende Inseln gemeinsamen "Schwimmens", wie Zypkin die ungeschützte Bodenlosigkeit der Liebe umschreibt, mittels deren die jungvermählten Eheleute Dostojewski ihre Wunden heilen.
KERSTIN HOLM
Leonid Zypkin: "Die Brücke über den Fluss". Roman.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag Berlin, 2020. 208 S., geb., 22,- [Euro].
Leonid Zypkin: "Ein Sommer in Baden-Baden". Roman.
Aus dem Russischen von Alfred Frank. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 312 S., geb., 24,- [Euro]
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Fabian Wolff freut sich schon auf weitere Texte von Leonid Zypkin, dessen erst 1982 erstmals erschienener Roman nun in Neuauflage mit einem "enthusiastischen" Geleitwort von Susan Sontag vorliegt. Wie der Autor seinen Erzähler auf Dostojewskis Spuren durch deutsche Kurbäder flanieren lässt, weil er sich dem Schriftsteller verwandt fühlt, findet Wolff lesenswert, wenngleich ihm die von Sontag aufgemachte Nähe zu Sebald nicht vollständig einleuchtet. Zypkins lange Sätze, die Zeiten und Orte "durchwandern", und auch das Changieren des Textes zwischen Essay und Fiktion erinnern zwar an Sebald, gibt Wolff zu, doch hat Zypkin das Leid der Schoah, das ihn umtreibt, selbst erlebt, während Sebald es "nur" nachempfindet, so der Rezensent.
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»Eine große Wiederentdeckung.« Süddeutsche Zeitung 20200731