Dies ist Christa Wolfs persönlichstes Werk. Vierzig Jahre lang porträtiert sie jeden 27. September und notiert, was sie an diesem Tag "gefühlt, gedacht, erlebt hat". Entstanden ist ein beeindruckendes Zeugnis ihres Lebens alsAutorin, als Frau, als Mutter, als Staatsbürgerin der DDR und schließlich der BRD. Ein authentisches und bewegendes autobiografisches Werk.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2003Weghören, schweigen
Der Preis des Bleibens: Christa Wolfs Septembernotizen
Das Gespräch ist fünf Stunden lang, überdauert ein mehrgängiges Abendessen, und die angeregte Unterhaltung stockt keine Sekunde. Doch das entscheidende Thema wird erst angeschnitten, als die Besucherin eigentlich schon gehen will. Wie dem Gastgeber eigentlich ihre Poetikvorlesung gefallen habe, fragt sie schließlich, daß er Vorbehalte hege, habe er ja brieflich mitgeteilt, nicht aber, wogegen diese sich im einzelnen richteten. Der Gastgeber gesteht freimütig ein, daß er das Bändchen beim Lesen ärgerlich gegen die Wand geworfen habe - die darin enthaltene Schilderung einer Griechenlandreise sei allzu konventionell geraten. Vor allem aber, so hält die Gescholtene die Kritik später in ihrem Tagebuch fest, habe sie ihrem Mann Gerhard in den Augen dieses Lesers bitteres Unrecht zugefügt: "Ich erwähnte meinen Mann gar nicht, mit dem ich doch unterwegs war, der komme nur ein paar Mal kurz als ,G.' vor, wenn Feminismus, dann bitteschön auch richtig, ich verhielte mich zu meinem Mann, wie sonst Schriftsteller zu ihren Frauen." In diesem Punkt kannte Max Frisch sich aus, doch Christa Wolf, sein Gast an jenem 27. September 1986, findet zu einer überraschenden Antwort: "Ich sagte, was Gerd betreffe, unser Verhältnis zueinander, sei ich so scheu, daß ich ihn nicht in einem Buch darstellen wolle."
Jetzt hat Christa Wolf einen Band veröffentlicht, in dem sie von diesem Grundsatz behutsam abweicht. Er versammelt 41 kurze Texte aus ebensovielen Jahren: Einer Anregung folgend, die Maxim Gorki 1935 erstmals vorbrachte und die 25 Jahre später von der Zeitschrift "Istwestija" erneuert wurde, hielt die Autorin wie zahlreiche andere Schriftsteller ihre persönlichen Erlebnisse des 27. September 1960 fest. Dieser Tag avancierte in den folgenden Jahren für Christa Wolf zum Kristallisationspunkt ihres Bemühens, den Alltag festzuhalten, "gegen den unaufhaltsamen Verlust von Dasein" anzuschreiben, überzeugt "von dem erzählerischen Potential in beinahe jedem beliebigen Tag", wie es im Vorwort der nun publizierten Sammlung der Einträge aus den Jahren 1960 bis 2000 heißt.
Im Zwiespalt, diesen Herbsttag jedes Jahr aufs neue mit besonderem Eifer minutiös festzuhalten, ohne ihn - um das Experiment nicht zu verfälschen - als besonders zu erleben, sind eine Reihe von Miniaturen entstanden, die halb Alltagsnotat, halb Reflexion zu weiter ausgreifenden Fragen sind. Jede einzelne von ihnen wird man als eine präzise Beschreibung eines winzigen Ausschnitts von ostdeutscher Wirklichkeit schätzen, gleichzeitig als Kapitel einer fortgesetzten Familiengeschichte, die, ohne es zu wollen, auch in dieser privaten Komponente in den Bann schlägt: Da ist das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf, das sich gemeinsam aus der Position einer vielversprechenden Stellung im System allmählich auf den Rand zubewegt, da sind die beiden Töchter mit ihren Partnern und Kindern und deren zunehmende Distanzierung zu den Institutionen der DDR, da sind Kollegen und Freunde - daß manche von ihnen die Wolfs bespitzeln, bleibt auch nach der Wende unerwähnt.
Am auffälligsten ist dabei die Wandlung, die Christa Wolf in ihrem Verhältnis zum System der DDR durchmacht und die von ihr noch niemals so offen und überzeugend geschildert worden ist wie in diesem Konvolut von Tagebucheinträgen, gerade weil der Band es nicht auf eine diachrone Analyse anlegt. Daß dieser Wandel dem allmählichen Verlust von Illusionen geschuldet ist, wird rasch deutlich, ebenso daß die Wolfs im Verlauf der sechziger und frühen siebziger Jahre nicht mehr an eine Reform des Systems aus sich selbst heraus glauben können. 1978 erinnert sie sich angesichts des maroden Zustands einer mecklenburgischen Landstraße, "wie ich mich früher um all diese Fehler gegrämt, mich mit jedem Versäumnis, jedem Versagen identifiziert habe", und fragt sich, "wann eigentlich das aufzuhören begann: Ein langer, schmerzlicher Prozeß, bis diese Identifikation in freudlose Schadenfreude umschlägt."
Diese distanzierte Haltung bleibt allerdings ein frommer Wunsch. Schon ein Jahr später heißt es: "Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern, und nur manchmal werde ich frei davon und kann mich leichter aufrichten", und sie gesteht sich im Gespräch mit ihrem Mann eine "unauflösbare Identifizierung mit diesem Land" ein. Dieses Pendeln zwischen Engagement und Abwehr, zwischen Aktivität und Rückzug macht einen besonderen Reiz dieser Notate aus, gerade weil es zu keiner dauerhaft eingenommenen Position kommt: Da ist zum einen der Rückzug in die mecklenburgischen Idylle, der Erwerb eines immer länger genutzten Sommerhauses (als es 1983 abbrennt, kaufen die Wolfs im nächsten Jahr ein anderes), die verweigerte Mitarbeit in offiziellen Gremien, da sind ausgedehnte Reisen in den Westen - und auf der anderen Seite ist da der Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, das Engagement für Häftlinge, der Einfluß, den die populäre Autorin immer noch auf hohe Politiker hat und den sie nutzt. Daß sie außerdem in der DDR große Privilegien genießt, weiß sie auch, und wenn sie beim Arztbesuch trotz eines vollen Wartezimmers gleich zur Untersuchung gebeten wird, ist ihrem Notat durchaus etwas Erleichterung über das Privileg und die gesparte Zeit anzumerken.
Daß Christa Wolf unter diesem Zwiespalt zwischen Abkehr und Einmischung massiv leidet, wird permanent deutlich, daß sie in einer Ausreise keine Alternative sieht, auch, selbst wenn ihre Gedanken zunehmend um die Frage einer Übersiedlung kreisen: "Ich denke, wie kostbar ein Heimatgefühl ist und wie schwer man es aufgeben würde. Diesen doppelten Boden haben seit ein paar Monaten alle meine Gedanken. Ich denke, nie mehr würde ich mich woanders heimisch fühlen können, wenn ich hier wegginge. Und ich frage mich, wie hoch der Preis unter Umständen wäre, den ich für dieses Heimatgefühl zu zahlen bereit wäre. Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Weghören, wegsehen, oder zumindest: schweigen."
Tatsächlich zahlt sie noch in einer anderen Währung, auch die benennt sie klar, wenn sie über die Auswirkungen reflektiert, die von den Publikationsbedingungen in der DDR auf das Schreiben der einzelnen Autoren ausgehen. 1971 hält sie fest, daß es hier "unmöglich ist, in der nötigen Schärfe und mit den nötigen Verbindungen zur Gegenwart zu schreiben und zugleich an Veröffentlichung zu denken, aber ich will dieses Buch möglichst noch veröffentlichen können. Also funktionieren bestimmte Zensurbehörden in meinem eigenen Kopf ganz zuverlässig, ich aber mache mich jeden Morgen auf, bewußt dagegen anzugehen." Zum Problem geworden ist diese Diskrepanz zwischen Schreibintention und -praxis erst mit den Jahren, dann aber scheint die Distanz auch zu den davor entstandenen Texten ganz erheblich. In den Notizen von 1971 heißt es weiter: "Als ich in den letzten Tagen Korrekturen für eine Nachauflage des ,Geteilten Himmel' lesen mußte," - das Buch ist damals acht Jahre alt - "kamen mir manchmal die Tränen über die ungebrochene Welthaltung, die das noch ausstrahlt."
Davon kann wenig später schon keine Rede mehr sein: "Wie so oft denke ich über die Grenzen nach, an die unser an Tabus geschultes Denken ständig stößt", heißt es einmal, und die gebrochene Welthaltung wird die Autorin bis zum Ende ihrer Septembernotate, bis weit über das Ende der DDR hinaus, nicht mehr los. Ein Anzeichen dafür ist ihr auch nach der Wende dezidiert zurückhaltendes Urteil, wenn es denn überhaupt zu einem Urteil kommt. Lieber referiert sie ganze Unterhaltungen, Schlagzeilen oder Fernsehnachrichten, sie stellt meist dar, ohne zu bewerten. Gerade bei den Notizen aus den späten Sechzigern und frühen Siebzigern wird nicht immer klar, wie die Autorin zu den Erscheinungen steht, die sie beschreibt - um so mehr verblüffen dann die klaren und illusionslosen Aussagen in anderen Passagen.
Ähnlich verhält es sich in den Absätzen, die sich konkreten politischen Ereignissen widmen, den Debatten beispielsweise um die Biermann-Ausbürgerung, gegen die Christa Wolf protestiert hatte. Der "Schock dieses Jahres" sei dies gewesen, vermerkt sie elf Monate später, sie spielt auf die Repressionen des Staates an, denen sie in der Folge ausgesetzt war, betont aber auch ihren "Willen zum Hiersein", der sich verfestige. Auch die heftige Debatte in den ersten Jahren nach dem Mauerfall um die Rolle, die sie im System der DDR spielte, um Privilegien, die Erzählung "Was bleibt" und das späte Eingeständnis der Stasi-Mitarbeit finden in den September-Notaten jener Jahre nur vermittelt Widerhall. Viel ist davon die Rede, daß die Tagebuchschreiberin sich verfolgt und angegriffen fühlt, wenig von den konkreten Gegenständen, um die es in den Debatten geht. Wichtiger als eine Analyse der Motive, die hinter Biermanns Ausbürgerung stehen, ist ihr, welche Freunde das Land daraufhin - wie etwa Sarah Kirsch - verlassen haben.
Weil aber die 650 Seiten dieses Bandes den Vorsatz, sich minutiös dem Alltag zuzuwenden, so getreu einlösen (auch wenn das Notat nicht immer dem 27. September gilt, auch wenn manchmal summarisch und aus zeitlicher Distanz berichtet wird), bewahrt das Buch neben allen Erörterungen über die Sitution der Autorin und der DDR-Gesellschaft auch großartige Landschaftsschilderungen, etwa aus dem Sommersitz im mecklenburgischen Dorf Meteln oder auch vom Volkspark Friedrichshain in Berlin. Viele dieser Tagesnotizen erweisen sich als Kurzgeschichten von spröder Eleganz. Vor allem die Berichte von der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit Gerhard Wolf (der zu diesem Band einen knappen Kommentar beigesteuert hat), lassen das Urteil Max Frischs, der freilich von diesem Band nichts wissen konnte, als zumindest vorschnell erscheinen. Diese Passagen, die eine von Respekt und Offenheit geprägte langjährige Verbundenheit zum Inhalt haben, die vom gemeinsamen Kochen, Diskutieren, Reisen, Lesen und Schreiben sprechen, den Gerhard Wolf im Kosmos Christa Wolfs einnimmt, trotz aller Scheu der Autorin sehr plastisch werden. Wir erleben ihn als harten Kritker, konzentrierten Leser und unkonzentrierten Autofahrer, als Interpreten und zuverlässigen Beistand seiner Frau, und wenn sie ihn nachts anruft, um ein paar erinnerte Zeilen eines Goethe-Gedichts zu verifizieren, kann sie seiner Aufmerksamkeit sicher sein. 1987, als sie immerhin schon 36 Jahre verheiratet sind, notiert Christa Wolf, wie sie beim nächtlichen Lesen ihren bereits eingeschlafenen Mann atmen hört: "Ich lauschte auf seine Atemzüge und wünschte mir, daß ich sie noch lange hören kann - solange ich lebe."
Christa Wolf: "Ein Tag im Jahr 1960 - 2000". Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 640 S., 20 Collagen von Martin Hofmann, geb., 25,- [Euro].
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Der Preis des Bleibens: Christa Wolfs Septembernotizen
Das Gespräch ist fünf Stunden lang, überdauert ein mehrgängiges Abendessen, und die angeregte Unterhaltung stockt keine Sekunde. Doch das entscheidende Thema wird erst angeschnitten, als die Besucherin eigentlich schon gehen will. Wie dem Gastgeber eigentlich ihre Poetikvorlesung gefallen habe, fragt sie schließlich, daß er Vorbehalte hege, habe er ja brieflich mitgeteilt, nicht aber, wogegen diese sich im einzelnen richteten. Der Gastgeber gesteht freimütig ein, daß er das Bändchen beim Lesen ärgerlich gegen die Wand geworfen habe - die darin enthaltene Schilderung einer Griechenlandreise sei allzu konventionell geraten. Vor allem aber, so hält die Gescholtene die Kritik später in ihrem Tagebuch fest, habe sie ihrem Mann Gerhard in den Augen dieses Lesers bitteres Unrecht zugefügt: "Ich erwähnte meinen Mann gar nicht, mit dem ich doch unterwegs war, der komme nur ein paar Mal kurz als ,G.' vor, wenn Feminismus, dann bitteschön auch richtig, ich verhielte mich zu meinem Mann, wie sonst Schriftsteller zu ihren Frauen." In diesem Punkt kannte Max Frisch sich aus, doch Christa Wolf, sein Gast an jenem 27. September 1986, findet zu einer überraschenden Antwort: "Ich sagte, was Gerd betreffe, unser Verhältnis zueinander, sei ich so scheu, daß ich ihn nicht in einem Buch darstellen wolle."
Jetzt hat Christa Wolf einen Band veröffentlicht, in dem sie von diesem Grundsatz behutsam abweicht. Er versammelt 41 kurze Texte aus ebensovielen Jahren: Einer Anregung folgend, die Maxim Gorki 1935 erstmals vorbrachte und die 25 Jahre später von der Zeitschrift "Istwestija" erneuert wurde, hielt die Autorin wie zahlreiche andere Schriftsteller ihre persönlichen Erlebnisse des 27. September 1960 fest. Dieser Tag avancierte in den folgenden Jahren für Christa Wolf zum Kristallisationspunkt ihres Bemühens, den Alltag festzuhalten, "gegen den unaufhaltsamen Verlust von Dasein" anzuschreiben, überzeugt "von dem erzählerischen Potential in beinahe jedem beliebigen Tag", wie es im Vorwort der nun publizierten Sammlung der Einträge aus den Jahren 1960 bis 2000 heißt.
Im Zwiespalt, diesen Herbsttag jedes Jahr aufs neue mit besonderem Eifer minutiös festzuhalten, ohne ihn - um das Experiment nicht zu verfälschen - als besonders zu erleben, sind eine Reihe von Miniaturen entstanden, die halb Alltagsnotat, halb Reflexion zu weiter ausgreifenden Fragen sind. Jede einzelne von ihnen wird man als eine präzise Beschreibung eines winzigen Ausschnitts von ostdeutscher Wirklichkeit schätzen, gleichzeitig als Kapitel einer fortgesetzten Familiengeschichte, die, ohne es zu wollen, auch in dieser privaten Komponente in den Bann schlägt: Da ist das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf, das sich gemeinsam aus der Position einer vielversprechenden Stellung im System allmählich auf den Rand zubewegt, da sind die beiden Töchter mit ihren Partnern und Kindern und deren zunehmende Distanzierung zu den Institutionen der DDR, da sind Kollegen und Freunde - daß manche von ihnen die Wolfs bespitzeln, bleibt auch nach der Wende unerwähnt.
Am auffälligsten ist dabei die Wandlung, die Christa Wolf in ihrem Verhältnis zum System der DDR durchmacht und die von ihr noch niemals so offen und überzeugend geschildert worden ist wie in diesem Konvolut von Tagebucheinträgen, gerade weil der Band es nicht auf eine diachrone Analyse anlegt. Daß dieser Wandel dem allmählichen Verlust von Illusionen geschuldet ist, wird rasch deutlich, ebenso daß die Wolfs im Verlauf der sechziger und frühen siebziger Jahre nicht mehr an eine Reform des Systems aus sich selbst heraus glauben können. 1978 erinnert sie sich angesichts des maroden Zustands einer mecklenburgischen Landstraße, "wie ich mich früher um all diese Fehler gegrämt, mich mit jedem Versäumnis, jedem Versagen identifiziert habe", und fragt sich, "wann eigentlich das aufzuhören begann: Ein langer, schmerzlicher Prozeß, bis diese Identifikation in freudlose Schadenfreude umschlägt."
Diese distanzierte Haltung bleibt allerdings ein frommer Wunsch. Schon ein Jahr später heißt es: "Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern, und nur manchmal werde ich frei davon und kann mich leichter aufrichten", und sie gesteht sich im Gespräch mit ihrem Mann eine "unauflösbare Identifizierung mit diesem Land" ein. Dieses Pendeln zwischen Engagement und Abwehr, zwischen Aktivität und Rückzug macht einen besonderen Reiz dieser Notate aus, gerade weil es zu keiner dauerhaft eingenommenen Position kommt: Da ist zum einen der Rückzug in die mecklenburgischen Idylle, der Erwerb eines immer länger genutzten Sommerhauses (als es 1983 abbrennt, kaufen die Wolfs im nächsten Jahr ein anderes), die verweigerte Mitarbeit in offiziellen Gremien, da sind ausgedehnte Reisen in den Westen - und auf der anderen Seite ist da der Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, das Engagement für Häftlinge, der Einfluß, den die populäre Autorin immer noch auf hohe Politiker hat und den sie nutzt. Daß sie außerdem in der DDR große Privilegien genießt, weiß sie auch, und wenn sie beim Arztbesuch trotz eines vollen Wartezimmers gleich zur Untersuchung gebeten wird, ist ihrem Notat durchaus etwas Erleichterung über das Privileg und die gesparte Zeit anzumerken.
Daß Christa Wolf unter diesem Zwiespalt zwischen Abkehr und Einmischung massiv leidet, wird permanent deutlich, daß sie in einer Ausreise keine Alternative sieht, auch, selbst wenn ihre Gedanken zunehmend um die Frage einer Übersiedlung kreisen: "Ich denke, wie kostbar ein Heimatgefühl ist und wie schwer man es aufgeben würde. Diesen doppelten Boden haben seit ein paar Monaten alle meine Gedanken. Ich denke, nie mehr würde ich mich woanders heimisch fühlen können, wenn ich hier wegginge. Und ich frage mich, wie hoch der Preis unter Umständen wäre, den ich für dieses Heimatgefühl zu zahlen bereit wäre. Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Weghören, wegsehen, oder zumindest: schweigen."
Tatsächlich zahlt sie noch in einer anderen Währung, auch die benennt sie klar, wenn sie über die Auswirkungen reflektiert, die von den Publikationsbedingungen in der DDR auf das Schreiben der einzelnen Autoren ausgehen. 1971 hält sie fest, daß es hier "unmöglich ist, in der nötigen Schärfe und mit den nötigen Verbindungen zur Gegenwart zu schreiben und zugleich an Veröffentlichung zu denken, aber ich will dieses Buch möglichst noch veröffentlichen können. Also funktionieren bestimmte Zensurbehörden in meinem eigenen Kopf ganz zuverlässig, ich aber mache mich jeden Morgen auf, bewußt dagegen anzugehen." Zum Problem geworden ist diese Diskrepanz zwischen Schreibintention und -praxis erst mit den Jahren, dann aber scheint die Distanz auch zu den davor entstandenen Texten ganz erheblich. In den Notizen von 1971 heißt es weiter: "Als ich in den letzten Tagen Korrekturen für eine Nachauflage des ,Geteilten Himmel' lesen mußte," - das Buch ist damals acht Jahre alt - "kamen mir manchmal die Tränen über die ungebrochene Welthaltung, die das noch ausstrahlt."
Davon kann wenig später schon keine Rede mehr sein: "Wie so oft denke ich über die Grenzen nach, an die unser an Tabus geschultes Denken ständig stößt", heißt es einmal, und die gebrochene Welthaltung wird die Autorin bis zum Ende ihrer Septembernotate, bis weit über das Ende der DDR hinaus, nicht mehr los. Ein Anzeichen dafür ist ihr auch nach der Wende dezidiert zurückhaltendes Urteil, wenn es denn überhaupt zu einem Urteil kommt. Lieber referiert sie ganze Unterhaltungen, Schlagzeilen oder Fernsehnachrichten, sie stellt meist dar, ohne zu bewerten. Gerade bei den Notizen aus den späten Sechzigern und frühen Siebzigern wird nicht immer klar, wie die Autorin zu den Erscheinungen steht, die sie beschreibt - um so mehr verblüffen dann die klaren und illusionslosen Aussagen in anderen Passagen.
Ähnlich verhält es sich in den Absätzen, die sich konkreten politischen Ereignissen widmen, den Debatten beispielsweise um die Biermann-Ausbürgerung, gegen die Christa Wolf protestiert hatte. Der "Schock dieses Jahres" sei dies gewesen, vermerkt sie elf Monate später, sie spielt auf die Repressionen des Staates an, denen sie in der Folge ausgesetzt war, betont aber auch ihren "Willen zum Hiersein", der sich verfestige. Auch die heftige Debatte in den ersten Jahren nach dem Mauerfall um die Rolle, die sie im System der DDR spielte, um Privilegien, die Erzählung "Was bleibt" und das späte Eingeständnis der Stasi-Mitarbeit finden in den September-Notaten jener Jahre nur vermittelt Widerhall. Viel ist davon die Rede, daß die Tagebuchschreiberin sich verfolgt und angegriffen fühlt, wenig von den konkreten Gegenständen, um die es in den Debatten geht. Wichtiger als eine Analyse der Motive, die hinter Biermanns Ausbürgerung stehen, ist ihr, welche Freunde das Land daraufhin - wie etwa Sarah Kirsch - verlassen haben.
Weil aber die 650 Seiten dieses Bandes den Vorsatz, sich minutiös dem Alltag zuzuwenden, so getreu einlösen (auch wenn das Notat nicht immer dem 27. September gilt, auch wenn manchmal summarisch und aus zeitlicher Distanz berichtet wird), bewahrt das Buch neben allen Erörterungen über die Sitution der Autorin und der DDR-Gesellschaft auch großartige Landschaftsschilderungen, etwa aus dem Sommersitz im mecklenburgischen Dorf Meteln oder auch vom Volkspark Friedrichshain in Berlin. Viele dieser Tagesnotizen erweisen sich als Kurzgeschichten von spröder Eleganz. Vor allem die Berichte von der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit Gerhard Wolf (der zu diesem Band einen knappen Kommentar beigesteuert hat), lassen das Urteil Max Frischs, der freilich von diesem Band nichts wissen konnte, als zumindest vorschnell erscheinen. Diese Passagen, die eine von Respekt und Offenheit geprägte langjährige Verbundenheit zum Inhalt haben, die vom gemeinsamen Kochen, Diskutieren, Reisen, Lesen und Schreiben sprechen, den Gerhard Wolf im Kosmos Christa Wolfs einnimmt, trotz aller Scheu der Autorin sehr plastisch werden. Wir erleben ihn als harten Kritker, konzentrierten Leser und unkonzentrierten Autofahrer, als Interpreten und zuverlässigen Beistand seiner Frau, und wenn sie ihn nachts anruft, um ein paar erinnerte Zeilen eines Goethe-Gedichts zu verifizieren, kann sie seiner Aufmerksamkeit sicher sein. 1987, als sie immerhin schon 36 Jahre verheiratet sind, notiert Christa Wolf, wie sie beim nächtlichen Lesen ihren bereits eingeschlafenen Mann atmen hört: "Ich lauschte auf seine Atemzüge und wünschte mir, daß ich sie noch lange hören kann - solange ich lebe."
Christa Wolf: "Ein Tag im Jahr 1960 - 2000". Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 640 S., 20 Collagen von Martin Hofmann, geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"1960 erging an die Schriftsteller der Welt ein Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija, den 27. September dieses Jahres so genau wie möglich zu beschreiben. Christa Wolf hat nicht nur diesen Tag genau beobachtet und festgehalten, sondern jeden darauffolgenden 27. September, über 40 Jahre lang. Die gewissenhafte Chronistin deutscher Verhältnisse wird so auch zur Berichterstatterin eines deutschen Frauenlebens. Ihr Buch ist ein einmaliger, sehr persönlicher Bericht, ein skeptisches und verhalten melancholisches Selbstgespräch, von der Autorin mit warmer, offener Stimme gelesen."
(hr2 Hörbuch-Bestseller)
(hr2 Hörbuch-Bestseller)
"Uns, den Lesern, bietet sich nun mit diesen Büchern die Chance, nicht nur am privaten und beruflichen Leben der Schriftstellerin teilzuhaben. Sie erlauben uns auch über mehr als 50 Jahre hinweg einen Blick auf die großen und kleinen historischen Ereignisse dieser Zeit und deren ganz persönliche Einordnung durch Christa Wolf."
neunzehn100 Heft 1/2017 (Sept/Okt/Nov)
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